Stahlhelm


Zerbrechender Stahlhelm

Die gewaltsame Übernahme des Reiches und der Länder verlief so unproblematisch, wie es sich selbst die Nazis nicht vorgestellt hatten. Während sich Sozialdemokraten und Kommunisten dem Terror beugen mußten und keinen offenen Widerstand organisieren konnten, nahmen es die Bürgerlichen genauso wie ihre rechtsradikalen Pendanten im Interesse einer nationalen Führung des Reiches schließlich hin, ihre Organisationen der Gleichschaltung zu opfern. In Wolfenbüttel regte sich innerhalb des Stahlhelms, der rechtsnationalen Veteranenorganisation des Ersten Weltkrieges, der die nationalsozialistische „Nationale Revolution“ unterstützte, um seinen Landesführer Werner Schrader leiser Widerstand gegen das „Überrennen“ der Organisation durch die Nationalsozialisten. Er wollte im Gegensatz zu seinem Bundesführer Seldte den Stahlhelm als eigenständige Organisation erhalten.

Schrader, einer der bürgerlichen Steigbügelhalter der Nazis, geriet in dessen gefährliches Visier, als er versuchte, sich ihnen durch mindestens zwei Maßnahmen in den Weg zu stellen. Seine Opposition wird nach Ansicht des Autors in einigen Darstellungen fälschlicherweise als antifaschistischer Widerstand gegen die Nationalsozialisten bewertet, zumal er 1944 beim Staatsstreich der Offiziere um Stauffenberg eine Nebenrolle innehatte und sich der Verhaftung durch Selbstmord entzog. Diese Widerstandsreinheit besaß Schrader noch nicht, als er sich irgendwann im März 1933 entschloß, gegen die nationalsozialistische Regierung in Braunschweig zu opponieren.

Um dem Leser einen kurzen Lebenslauf dieses Mannes vorzulegen, wird auf auf hauptsächlich fünf Quellen zurückgegriffen: Kurzlebenslauf aus der Berliner Ausstellung „Deutscher Widerstand“, Wolfenbütteler Chronik von 1914 bis 1933 von Christina Wötzel, Artikel von E.A Roloff zum 20. Jahrestag des Attentates auf Hitler in der Wolfenbütteler Zeitung, Lebensbeschreibung in der Festschrift. „100 Jahre Theodor-Heuss-Gymnasium Wolfenbüttel“ und Aufsatz von Reinmar Fürst über Werner Schrader in der von ihm und Wolfgang Kelsch herausgegebenen Schrift „Bürger einer fürstlichen Residenz“, in der Schrader in der Sparte „Hofbeamte und Soldaten“ rangiert.

Werner Schrader wurde am 7.3.1895 als Sohn eines Zimmermanns in Rottorf bei Königslutter geboren. In Wolfenbüttel besuchte er bis 1915 das Lehrerseminar, nahm am Ersten Weltkrieg teil und studierte anschließend an der TU Braunschweig, die er als Realschullehrer für Deutsch, Geschichte und Religion verließ. Zurück in Wolfenbüttel unterrichtete er ab 1921 unter dem Oberstudiendirektor Naumann an der Oberrealschule, die ein Hort reaktionär-nationaler Lehrer gewesen ist, neben seinen erlernten Fächern auch Musik und leitete den Schulchor und das Orchester. Er wird als sozial engagierter Christ beschrieben und tendierte politisch zur deutschen Volkspartei Gustav Stresemanns. 1925 trat er dem Stahlhelm bei, wurde schon bald Gauführer und ab 1927 sogar Führer des Landesverbandes Braunschweig. In dieser Position war er auch Mitglied der Stahlhelm-Bundesleitung und kannte somit auch die Männer der Reichsführung. In der Festschrift des Theodor-Heuss-Gymnasiums lernt der Leser einen Mann kennen, der offenbar nur hehre Charaktereigenschaften besaß: „Aus der Parteipolitik wollte Werner Schrader den Stahlhelm heraushalten. Er wollte, dass der Stahlhelm ein Verband sei, in dem der Geist des einzelnen für den Mitmenschen und für das Ganze gepflegt und praktiziert und die edelsten Güter des Volkes, seine Geschichte, seine Religion, sein geistiges Erbe hochgehalten werden sollten, damit auf diesem Grunde ein neues Deutschland erbaut würde. Diese Ideen wurden von Schrader und seinem Kreis sehr ernst genommen. Man muß ermessen, wie tief die Verzweiflung war, als die Nationalsozialisten mit den gleichen Worten: wie „Erneuerung“, „Deutschland“, „sozial“ zu ihren Verbrechen schritten.
Ich stehe der offiziell verbreiteten Persönlichkeitsbeschreibung skeptisch gegenüber und wundere mich anhand der Wolfenbütteler Stahlhelm-Aktivitäten, wie er sechs Jahre lang in der heißesten Konfrontationsphase zwischen Links und Rechts als angeblich „ausdrücklicher Bejaher“ der Weimarer Republik die nach der SA nationalistisch-aggressivste Soldatenorganisation als Führer leiten durfte.

E.A. Roloff jun. schrieb über ihn: „Aus dem Fronterlebnis des Weltkrieges brachte Schrader die Überzeugung mit, dass Gott durch diese ungeheure Prüfung der Selbstzerfleischung von Völkern die Menschen, und insbesondere die Frontsoldaten, dazu aufrufe, die Völker von innen her völlig zu erneuern. Darum glaubte er an die Berufung der Frontkämpfergeneration, Deutschland zu führen, damit eine neue Katastrophe vermieden werde. In diesem Sinne bekannte sich Schrader zu einem nationalen Sozialismus, der weder mit Hitlers Nationalsozialismus etwas zu tun hatte, noch mit den restaurativen oder reaktionären Bestrebungen ewig gestriger Monarchisten.“

Christina Wötzel, Autorin der Wolfenbütteler Chronik bis 1933, schreibt zwar, Schrader habe „vergleichsweise frühzeitig“ vor den Nationalsozialisten gewarnt, erwähnt aber wie die anderen Autoren nicht, wovor genau er gewarnt habe. Spätestens 1931 habe er zu „einer realistischeren Einschätzung der von den Nazis ausgehenden Gefahren“ gefunden – welche Gefahren? – und habe zu den Stahlhelmern gehört, die der Gleichschaltung skeptisch gegenüber gestanden hätten. Wötzel geht sogar so weit, Schraders Umdenken, als er die gefährdeten Braunschweiger Reichsbannerleute der SPD 1933 in seinen Reihen aufnehmen wollte, ihm, der sechs Jahre lang jedweden linken Machtanspruch vehement und reaktionär bekämpft hatte, in eine Februar-Koalition mit Sozialdemokraten, als diese schon auch mit Hilfe des Stahlhelm zerbrochen waren, hineinzuschreiben. Meiner Ansicht nach hatte Schrader in den Frontkämpfern des Reichsbanners nicht gefährdete SPD-Mitglieder gesehen, sondern in erster Linie Frontkämpfer, also alte Kameraden, mit denen er den Stahlhelm gegen die Auflösungs- und Gleichschaltungsbestrebungender Nazis erheblich zu stärken erhoffte.

Auch Roloff bleibt bei den Vor-Hitler-„Widerstandshandlungen“ des Stahlhelmers oberflächlich und nennt bloß eine oppositionelle Handlung, die im Hinblick auf die gesamte Situation nur lächerlich erscheint: „Als aber 1931 das Zweckbündnis der Harzburger Front zwischen Nationalsozialisten, Deutschnationalen und Stahlhelm geschlossen werden sollte, widersetzte sich Schrader ebenso wie Duesterberg vergeblich dem gefährlichen (? woher nimmt Roloff diese Einschätzung?) Unternehmen. Seine Auffassung von soldatischer Disziplin und Gehorsamspflicht verboten ihm damals noch die offene Rebellion, die er dann im März 1933 für notwendig hielt.“ Als besondere Widerstandsleistung erwähnt Wötzel eine Erklärung Schraders „gegen die Politik“ von Dietrich Klagges, die er kurz nach dem Harzburger Treffen veröffentlicht hatte: „Darin heißt es u.a.: Wenn in der Stadt Braunschweig ein Reichsbannerumzug verboten wird mit der Begründung, es wären dabei Unruhen zu befürchten, und wenn kurz darauf der große SA-Aufmarsch genehmigt wird, bei dem mit absoluter Sicherheit Unruhen vorauszusehen waren, so ist das einfach nicht zu entschuldigen.“

Reinmar Fürst verfälscht nicht nur das Bild Schraders, sondern auch gleich die Geschichte des deutschen Widerstandes, indem er den 20. Juli 1944 zum hellsten – und gleichzeitig schwärzesten – Tag der deutschen Geschichte ernennt. Offenbar ohne ernsthafte Berücksichtigung anderer Widerstandsgruppen, z. B. der Geschwister-Scholl-Gruppe, Rote Kapelle, Georg Elser, schreibt er: „Zum erstenmal seit der Machtübernahme des national-sozialistischen Regimes erhob ein Häuflein tapferer Männer sichtbar die Fackel des Widerstandes.“ In diese historisch falschen Aussage setzte er den Helden Werner Schrader, der bei ihm schon 1931 Widerstand leistete: „…widersetzte er sich 1931 dem Anschluß an die Harzburger Front, dem Zweckbündnis mit der NSDAP; bot er 1933 dem Justizminister die Hilfe des Stahlhelm gegen die Ausschreitungen der SA an.“

Und noch eine Geschichtsklitterung: Dem Schönreden des einstigen Führers des reaktionären und teilweise rechtsradikalen Stahlhelms zum hehren Widerstandskämpfer setzt 1996 aus Anlaß des Tages der Niedersachsen in Wolfenbüttel der Historiker und Leiter des Braunschweigischen Landesmuseums, Gerd Biegel, die Krone auf, indem er in seinem Aufsatz zum Thema „Wolfenbüttel und das Land Braunschweig“ Schraders Widerstandsleistung zum 20. Juli 1944 besonders hervorhebt, seine Vergangenheit aber vollkommen ausläßt und nicht einmal den Begriff „Stahlhelm“ erwähnt.

Wie oberflächlich und angedichtet das Bild vom sozial-christlichen Oberlehrer gemalt wird, mögen die unhistorischen Vermutungen Roloffs bezeugen: „Mit geballten Fäusten mußte der damals 38 Jahre alte Stahlhelmführer zusehen, wie die von Alpers, Gattermann, Meyer und anderen Verbrechern geführten SA-Horden unter dem Schutz des Ministers Klagges mit unmenschlicher Brutalität ihre Gegner niederwalzten, sadistisch folterten und ohne Richterspruch verhafteten, ja sogar bestialisch ermordeten.“

Eine besonders schlimme Darstellung Schraders veröffentlichte die „Braunschweigische Heimat“ (Nr. 1/2004). Der Autor, Heinz Bruno Krieger, versucht, mit emotionalen Anekdoten von und über Familienangehörige(n) aus Schrader einen gesegneten Kämfer für das „heilige Deutschland“ zu machen. Obendrauf stellt er Behauptungen auf, die unzutreffend sind: Schrader habe in der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus eine “nicht unbedeutende Rolle“ gespielt. Falsch, denn Schrader wird auch in vielen Darstellungen über den „20.Juli“ entweder gar nicht oder nur ganz am Rande erwähnt. Schrader habe schon „früh den Gegensatz und die Unterschiede zum Nationalsozialismus erkannt und war bereits vor der Machtübernahme 1933 ein scharfer und vor allem auch in der Öffentlichkeit weit bekannter Gegner der NSDAP geworden.“ Diese falschen Behauptungen erhebt Krieger, ohne Belege oder Quellen anzuführen. Ich habe dem „Braunschweigischen Landesverein für Heimatschutz“, Herausgeber der o.g. Zeitschrift, mit einem Schreiben an den stellvertretenden Vorsitzenden, Harald Schraepler, auf diesen „dümmlich-unhistorisch-lügenvollen Beitrag“ hingewiesen. Trotz Erinnerung hat Herr Schraepler nie geantwortet.

Als besonderes Bonbon der Oberflächlichkeit im Umgang mit Schraders Vergangenheit mag folgende Begebenheit gelten: Nach dem Jubiläums-Datum 1964 benannte die Stadt Wolfenbüttel eine neue Straße nach Schrader. Das Straßenschild erhielt einen kleinen Text-Zusatz: „Der fr. städt. Oberlehrer Schrader war als Mitglied der Widerstandsgruppe an den Maßnahmen des 22. Juli beteiligt. Er kam dabei ums Leben.“ Nicht einmal das richtige Datum konnte diese Stadt auf einem Straßenschild veröffentlichen. Diesen Zustand, der fast dreißig Jahre überlebte, nahm 1992 der Wolfenbütteler Historiker Wilfried Knauer ins Visier, als er diese Art der Ehrung kritisierte und in der Wolfenbütteler Zeitung das Bild über Schrader zurechtrückte. Über Schraders Lehrer-Tätigkeit habe er Quellen gefunden, die ein anderes Bild von Schrader zeichneten: „Ein Schulfest im Jahre 1929 führte anschließend zu einer Anfrage in der Stadtverordneten-Versammlung: Kriegslieder, die den Mord verherrlichten, sollten dort gesungen worden seien. Knauer wörtlich: Diese Leute haben die Republik lächerlich gemacht. Sie haben sogar teilweise mit den Nazis zusammengearbeitet.“

Am 21. März 1933 nahmen Hitler als Reichskanzler und Hindenburg als Reichspräsident an der konstituierenden Sitzung des am 5. März neugewählten Reichstages teil. Diese Veranstaltung gilt als das erste propagandistische Meisterwerk Goebbels’. Der Tag mit hoher symbolischer Bedeutung, 1871 war am gleichen Tag der erste Reichstag des deutschen Kaiserreiches zusammengetreten, vermittelte den Deutschen die Gemeinsamkeit der beiden Reichsführer und dem Militär und den bereits verunsicherten Bürgerlichen die Gewissheit, dass Hitler sich dem Reichspräsidenten unterordne.

Dieser „Tag von Potsdam“, oder wie der seinerzeit genannt wurde: „Tag der nationalen Erhebung“, einigte auch vor Ort Nazis und Stahlhelmer. Mit einer großen Anzeige forderten die lokalen national gesinnten Organisationen die Einwohnerschaft auf, ihre Verbundenheit mit der neuen Regierung zu demonstrieren:
“Am Dienstag, dem 21. März 1933 tritt auf geheiligten Boden von Potsdam der vom deutschen Volk gewählte neue Reichstag zum ersten Male zusammen. Die Abgeordneten versammeln sich in der Garnisonkirche, um an der geschichtlich geweihten Ruhestätte unserer großen preußischen Könige Bekenntnis für die Einheit und für die Freiheit des deutschen Volkes und Reiches abzulegen. Potsdam ist die Stadt, in der das unsterbliche Preußentum die Grundlage zu der späteren Größe der deutschen Nation gelegt hat. Die innere Zerrissenheit, unter der das deutsche Volk von den Anfängen seiner Geschichte an Jahrhunderte hindurch leiden mußte, soll von nun ab endgültig beendigt sein. Mit diesem Aufruf tritt die Regierung der nationalen Konzentration vor das deutsche Volk und erwartet, daß die gesamte Bevölkerung ihre Verbundenheit mit der Regierung durch Beflaggung der Häuser und Wohnungen in den stolzen
schwarz-weiß-roten und Hakenkreuz-Fahnen zeigt.
Wolfenbütteler in Stadt und Land! Zum 21. März die Fahnen heraus! Wer nicht in den neuen Farben des Reiches oder blaugelb flaggt, beweist, daß er der neuen Regierung mindestens gleichgültig gegenübersteht!

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, gez. Bertram, M.d.L.
Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, gez. Barnewitz.
Deutschnationale Volkspartei, gez. Wagner.
Vereinigte Kriegerverbände, gez. Schulze.
Innungsausschuß der Stadt Wolfenbüttel, gez. Müller.

Am Dienstag abendnimmt die gesamte nationale Bevölkerung an dem gemeinsamen Fackelzug obiger Parteien und Verbände teil. / Antreten: Schlossplatz, mit Fahnen 7 1/4 Uhr. Der Zug marschiert durch folgende Straßen: Schlossplatz, Auguststraße, Hohe Brücke, Goslarsche Straße, Bahnhofstraße, Harzstraße, Fischerstraße, Kaiserplatz, Breite Herzogstraße, Lange Herzogstraße, Krambuden, Schlossplatz.
In beschränkter Anzahl sind Fahnen bei den Organisationen der N.S.D.A.P. und des Stahlhelms zu haben!
6 – 7.30 Uhr Platzkonzert auf dem Kaiserplatz

Schrader schickte der WZ einen eigenen Aufruf, den die Zeitung im redaktionellen Teil veröffentlichte:
Aufruf des Stahlhelms
Am 21. März wird der neue Staat der deutschen Revolution feierlich errichtet.
Wir fordern die rückhaltlose Teilnahme jedes Einzelnen an den Feiern dieses Tages. Wer nicht die schwarz-weiß-rote oder die Hakenkreuz-Fahne zeigt, ist gegen die Regierung. Er wird erwarten müssen, als Gegner behandelt zu werden.
Braunschweig, 19. März 1933
Der Stahlhelm, B.d.F. (Landesverband Braunschweig)
W. Schrader.

Um 12.30 Uhr fand auf dem Kasernenhof zur Feier der Eröffnung des Reichstages ein Gottesdienst statt. Die hier stationierten Batterien waren angetreten. Nach dem Choral „Großer Gott wir loben Dich“ hielten die Militärgeistlichen Pastor Kiel und Pastor Engelke einen Feldgottesdienst ab. Der stellvertretende Standortälteste Hauptmann von Köckeritz hielt eine Ansprache. Mit dem Singen des Deutschlandliedes und dem Vorbeimarsch der Soldaten endete die Veranstaltung.

Die hier beschriebenen Vorgänge basieren hauptsächlich auf der Berichterstattung der Wolfenbütteler Zeitung, die, davon kann man ausgehen, in dieser Zeit noch selbständig und sachlich berichten konnte – und auf Beschreibungen aus der Urteilsbegründung des Klagges- Prozesses aus dem April 1950.

Hinter den Kulissen wehrten sich unter der Führung von Schrader die Stahlhelmer bereits gegen die Vereinnahmung durch Hitler und seine SA. Schrader bot dem braunschweigischem DNVP-Minister Küchenthal militante Gegenmaßnahmen an. Am Tag vor Potsdam schrieb er seinem Kameraden und 2. Stahlhelm-Bundesführer, Theodor Duesterberg, einen langen Brief, den die WZ 10 Tage später in voller Länge auf der Titelseite veröffentlichte. In diesem „verfänglichen“ Schreiben kritiserte Schrader die Zurückhaltung des Stahlhelms und vor allem auch die Rolle des ersten Bundesführers Franz Seldte, der am 30. Januar in Hitlers Kabinett den Posten des Arbeitsministers erhalten hatte. Kabinettsmitglied Seldte stand sicher unter Kuratel seines Chefs, der vollkommen andere Vorstellungen von der Führung einer politischen Organisation hatte, als Seldte: Anders als die Nationalsozialisten besaßen die Stahlhelmer gleich zwei Führer, was Hitler nur abschätzig beurteilen konnte, aber sicher auch für seine Zwecke benutzte.

Zu Seldtes Rolle schrieb Schrader: „Meiner Ansicht nach darf in diesen Übergangswochen der Kamerad Seldte nicht in erster Linie Arbeitsminister sein, sondern er muß der getreue Ekkehard des Stahlhelms sein, dessen erste und einzige Pflicht in diesem Augenblick darin besteht, auf Hitler und den Reichspräsidenten zu drücken, daß auf allen Gebieten der Besetzung von Posten der Stahlhelm ausreichend berücksichtigt wird. Der NSDAP gegenüber hilft nur Frechheit. Fort mit jeder an und für sich so herrlichen bürgerlichen Auffassung.“ Schrader kritisierte die kleinliche Haltung des Stahlhelms in dieser entscheidenden Phase, die den Nationalsozialisten in jeder Weise unterlegen sei: „Wenn ein Landesverband sagt, seine Bürobesetzung sei zu schwach und er könne die Arbeit nicht leisten, dann fordern Sie bitte, daß das Büro vergrößert wird. Geld darf keine Rolle spielen! Die Nazis haben im Dezember 1932 40 Millionen Mark Schulden gehabt; heute sind sie Sieger auf der ganzen Linie. Dann können die Landesverbände des Stahlhelms jetzt 20.000 Mark Schulden machen, aber sie müssen sich in der Revolution durchsetzen. Das ist wichtiger als 20.000 Mark. Das Glück für Deutschland hängt in diesem Augenblick nicht an 20.000 Mark, sondern es hängt davon ab, ob der Stahlhelm in dieser Revolutionszeit verhindert, daß der Stahlhelm und die schwarz-weiß-rote Kampffront von der NSDAP überrannt werden.“

Der Brief enthält keine Kritik an den Gewaltmaßnahmen der Nazis an Andersdenkenden, an denen Stahlhelmer teilweise beteiligt waren. Schrader sprach ausdrücklich von „Revolutionszeit“, in der normalerweise Späne fallen, wenn gehobelt wird. Ihm ging es ausdrücklich darum, die sich abzeichnende Niederlage des rechtsradikalen Lagers zu verhindern, um gleichberechtigt neben den Nationalsozialisten machtvoll und autoritär und mit von eigenen Leuten besetzten Posten das Reich ins nationale Glück zu führen. Schrader opponierte nicht aus ethischen und moralischen Gründen, sondern aus Machthunger und sah offenbar auch in der laschen Haltung der Bürgerlichen Gefahren für die von ihm gewollte Revolution: „Ich bin von sechs Landesverbänden umgeben und kann daher mit Bewußtsein folgendes mitteilen: Vielfach treffe ich an meinen Grenzen noch eine bürgerlich und z. T. laxe Auffassung in den benachbarten Unterbezirken an, sie weisen mit Recht darauf hin, daß wir ungewöhnlich forsch auftreten müssen, wenn wir uns von den Nationalsozialisten nicht vollkommen überrennen lassen wollen. Sämtliche Innenministerien sind von der NSDAP besetzt. Es ist fast unmöglich, bei den in Frage kommenden Innenministerien mit Erfolg die verschiedenen Forderungen vom Stahlhelm durchzudrücken.“ Zur Situation im Lande Braunschweig wurde Schrader besonders deutlich. Dass die WZ den Brief mit den folgenden Sätzen der breiten Öffentlichkeit zugänglich machte, hat sicher dazu beigetragen, dass sie einige Jahre später nicht mehr erscheinen durfte: „Der pöbelichste nationalsozialistische Landtagsabgeordnete erreicht praktisch hundertmal etwas leichter, als der noch so stramm auftretende Landesführer.“

Aber auch an seinen Bundesgenossen und dem deutschnationalen Noch-Aushängeschild, Minister Werner Küchenthal, ließ der nach Einfluß strebende Schrader kein gutes Haar: „Die deutschnationalen Landtagsabgeordneten sind in meinem Bereich völlig unbrauchbar. Der deutschnationale Minister ist nichts als Verwaltungsbeamter, von Politik keine Ahnung.“ In der letzten Woche habe er stundenlang mit Küchenthal geredet und versucht, ihm klar zu machen, „daß, wenn er mit seinen Forderungen bei dem Innenminister Klagges nicht durchkomme, er mir Bescheid sagen soll, da ich dann innerhalb von 24 Stunden in einem schweren Fall mit 1000 gut uniformierten Stahlhelmern vor dem Ministerium, oder wo er es sonst für notwendig halte, aufmarschieren würde um einen Druck auf die Nationalsozialisten auszuüben und zu verhindern, daß die schwarz-weiß-rote Kampffront von den Nationalsozialisten überrannt wird.“ Und resigniert stellte er noch fest: „Auf den Mann ist in dieser Beziehung kein Verlaß. Er ist ein unbedingt sauberer, einwandfreier, zuverlässiger Mann der Kampffront Schwarz-weiß-Rot, aber er ist nichts anderes als ein Verwaltungsbeamter.“

Was die Sozialdemokraten Monate vor dem 30. Januar großmäulig angekündigt hatten, um die Demokratie zu retten, hätte Schrader allerdings für ein anderes Ziel, der Zerstörung der Demokratie, gewagt: Offener Krieg gegen die Nazis mit den Mitteln, die den Nazis Erfolg gebracht hatten. Weil Schrader von seinen Freund-Gegnern so gut gelernt hatte, wurde er den Nationalsozialisten so gefährlich, dass sie ihn schließlich verfolgten. Denn Schrader hatte noch eine andere Karte in der Tasche, die die Nazis so reizte, dass sie ihre gegen Kommunisten und Sozialdemokraten erprobte Brutalität auch gegen ihre Harzburger Kameraden anwandten.

Schrader teilte Duesterberg am Schluß seines Briefes mit, wie er seine Mannschaften verstärken wollte. Er kritisierte die Anweisung der Bundesleitung, mit Neuaufnahmen vorsichtig zu sein und kündigte genau das Gegenteil an: „Ich werde aller Voraussicht nach hier in der Stadt Braunschweig in den nächsten Tagen eine Arbeiter-Kameradschaft aus den Büssing-Werken aufziehen. Diese Arbeiter sind bis vor wenigen Tagen Kommunisten gewesen. Ich mache das hier so: Diese Leute gehen nicht in den bereits vorhandenen Ortsgruppen unter: sie bilden eine eigene Ortsgruppe. Zum Führer wird ein seit 10 Jahren treuer Stahlhelm-Arbeiter aus den Büssingwerken bestimmt. Die Leute werden eingekleidet und sofort wehrsportmäßig bearbeitet. Auf diese Art und Weise halte ich es für ausgeschlossen, daß eine Gefahr für den Stahlhelm, seine weltanschauliche und disziplinierte Geschlossenheit zu verlieren, besteht. Heute abend werden an den verschiedensten Ecken meines Landesverbandes die Führer befohlen, zwangsmäßig unter Druck der Hilfspolizei des Stahlhelms in den verschiedensten Gegenden solche neuen Ortsgruppen zu bilden. In ruhigen Zeiten kann dann immer wieder gesiebt werden. Der Stahlhelm hat eine außerordentlich große und gute Reserve in sich, wenn wir nur mit der nötigen Rücksichtslosigkeit jetzt durchgreifen.“

Am Schluß des Briefes schreibt Schrader zwei Sätze, die Roloff an den Anfang seiner in der WZ 1964 veröffentlichten Schrader-Laudatio setzte, und, weil er auf den Rest des gerade hier zitierten Briefes gar nicht einging, Schraders Anliegen vollkommen falsch zur Interpretation freigab: „Meine tiefste Sorge ist ja die, daß wir in der nächsten Zeit zermahlen und überrannt werden von der NSDAP, und das wäre mir an und für sich ganz gleichgültig, wenn ich wüßte, daß die NSDAP allein in der Lage wäre, das Vaterland zu retten. Ich aber weiß, daß die NSDAP dazu nicht in der Lage ist.“ Den Schlußsatz ließ Roloff vollends aus: „Versagt der Stahlhelm jetzt, dann ist die günstige Zeit für unser Vaterland sehr ernstlich in Frage gestellt.“

Schrader und Kameraden begannen, die Erweiterung der Mitgliederzahl zu organisieren und den Stahlhelm auch für ehemalige Marxisten zu öffnen. Viele von ihnen, so stellte das gegen Klagges zusammengetretene Gericht fest, waren nach den besonders gegen ihre Funktionäre gerichteten Exzessen und angesichts der unabwendbar erscheinenden Entwicklung zum Dritten Reich zu der Meinung gelangt, auf Dauer und zu ihrem eigenen Schutz in eine der nationalen Organisationen eintreten zu müssen. Da der Stahlhelm in den Kämpfen der vergangenen Jahre doch moderater gegen links agiert hatte als die Nationalsozialisten, entschlossen sich immer mehr Reichsbannermänner, dem Stahlhelm beizutreten. Diese Taktik wurde offen besprochen und durch Flugblätter auch öffentlich propagiert.

Reichsbannerführer nahmen auch Kontakt mit Stahlhelmführern auf, um die notwendigen Formalitäten angesichts des Masseninteresses zu organisieren. So vereinbarten der Braunschweiger Reichsbannerführer Hedermann und der Stahlhelm-Gauführer Nowack eine Prozedur, die dann die Gegenreaktion der Nationalsozialisten auslöste. Die Stahlhelm-Hilfspolizei besaß zu diesem Zeitpunkt im Braunschweiger AOK-Gebäude ein Quartier. Diesen zentralen Ort in der Stadtmitte wählten die beiden Männer aus, um hier eine Massenaufnahme von Reichsbannermännern durchzuführen. Sie rechneten damit, dass in den Abendstunden des 27. März etwa 150 bis 200 Reichsbannermänner erscheinen würden, tatsächlich aber trafen etwa 1300 Männer ein.

Klagges und Alpers organisierten angesichts dieses „unerlaubten“ Aufmarsches ihrer politischen Gegner gemeinsam mit der Polizei eine Besetzung des AOK-Gebäudes. Die Aktion lief zunächst unter dem Kommando des Polizeipräsidenten Lieff ab. SS-Führer Alpers, von Klagges schnell zum Regierungskommissar ernannt, riß aber schon bald das Kommando ansich und organisierte eine Massenverhaftung von Stahlhelmführern. Bewaffnete SS-Männer stürmten das Gebäude, kümmerten sich nicht um die Maßnahmen der regulären Polizei und schlugen sofort wahllos auf die dichtgedrängt wartenden Menschen ein: „Das brutale Eingreifen der SS-Männer verursachte eine Panik unter den Reichsbannerleuten, von denen viele zu fliehen versuchten, sich hieran aber durch die Zusammenballung der vielen Menschen auf engem Raum, durch die andringende SS sowie dadurch gehindert sahen, daß die Ausgänge der AOK durch bewaffnete Posten verriegelt waren. Von der Straße her wurden verschiedene Schüsse auf das Gebäude abgegeben. (…) Die Lage wurde dadurch noch in besonderem Maße verschlimmert, da im Laufe der Zeit auch solche Personen in die AOK hineinkamen und sich an den Ausschreitungen beteiligten, die zu keiner der „eingesetzten“ Formationen gehörten, sondern sich aus Lust an tumultartigen Vorgängen oder um mit einem persönlichen Gegner abzurechnen, eingefunden hatten. So traten insbesondere Angehörige der HJ und des BdM auf, die festgenommene Marxisten schmähten und bespien.“