Minderwertig?


Minderwertige Menschen?

„Mensch saa hellä, un wenns aoch duster ist …“ Agnes Schosnoski aus Braunschweig (1966 – 1939), genannt “Harfen-Agnes“. Frau Schosnoski wurde wahrscheinlich im Rahmen der Euthanasie in der “Landesheil- und Pflegeanstalt Königslutter umgebracht.

Eine der schlimmsten Absichten der Nazis waren – und das schon lange vor der Übergabe der Macht an Hitler – die Einstufung von Menschen in höherwertig und minderwertig gefolgt von Begriffen wie „rücksichtslos“, “falsche Humanität“, Rassenhygiene“, “Reinheit des Blutes“, “Erbpflege“, “erbkrank“ – Begriffe aus dem “Wörterbuch von Unmenschen“, die tödlich klangen und auch Realität wurden. Die erbbiologische Fragestellungen waren nicht neu, sie wurden nicht erst von den Nazis aufgeworfen. Nun sollte ein ganzes Land gezwungen werden, ein absolut “gesunder Staat zu werden. Es begann die Instrumentalisierung des Einzelnen für die angebliche Sicherung der Zukunft – eher für die nationalsozialistische Zukunft – des Volkes. Die NS-Absichten beantworteten die Intentionen weiter Volkskreise. Der NS-Staat stellte zu dessen Durchführung das Gewaltpotential zur Verfügung. Die folgende Euthanasie war kein Regierungsakt, sondern ein \Führerakt“, also von Hitler angeordnet.

In “Mein Kampf“ beschrieb Hitler diese Thematik in grausamer Eindeutigkeit: “Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht der Erhaltung der Rasse. (…) Es ist eine Halbheit, unheilbar kranken Menschen die dauernde Möglichkeit einer Verseuchung der übrigen gesunden zu gewähren. Es entspricht dies einer Humanität, die, um dem einen nicht wehe zu tun, hundert andere zugrunde gehen lässt. Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen, in der Folge aber zu einer steigenden Gesundung überhaupt führen. Die Entschlossenheit, in dieser Richtung vorzugehen, wird auch der Weiterverbreitung der Geschlechtskrankheiten einen Damm entgegensetzen. Denn hier wird man, wenn nötig, zur unbarmherzigen Absonderung unheilbar Erkrankter schreiten müssen – eine barbarische Maßnahme für den unglücklich davon Betroffenen, aber ein Segen für die Mit- und Nachwelt. Der vorübergende Schmerz eines Jahrhunderts kann und wird Jahrtausende vom Leid erlösen.“ (Seiten 279/280)

Diese Ankündigung Hitlers führte schließlich zur Ermordung von mindestens ungefähr 200.000 Männern, Frauen und Kindern. Für die Evangelischen Stiftung Neuerkerode (früher: Neuerkeröder Anstalten) muß davon ausgegangen werden, dass mindestens 125 Menschen nach ihrem Transport in sogenannte Tötungsanstalten ermordet worden sind.
Eine unbekannte Anzahl von Menschen wurde zwangsteriliisert, ein leidvolles Kapitel, das in Wolfenbüttel wie viele andere Themen noch nicht bearbeitet worden ist.

Bereits fünfeinhalb Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verabschiedete am 14. Juli 1933 ds Reichskabinett das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Man muß also davon ausgehen, dass sich in Deutschland über das ganze Jahr 1933 viele Menschen damit befasst haben, zu überlegen, wie auf möglichst (pseudo)rechtlicher Basis Menschen aus der “Volksgemeinschaft“ eliminiert werden konnten. In dem Hitler zum ersten Jahrestag seines Regierungsantritts gewidmeten Buch “Nationalsozialismus in Staat, Gemeinde und Wirtschaft“, dessen Autoren so ziemlich alle Bereiche der neuen NS-Gesellschaft beschreiben und das auch im Laufe des Jahres 1933 geschrieben worden ist, wird Hitler auch selber zitiert. Kirchlichen Kritikern am Erbgesundheitsgesetz setzte er seine kompromisslose Eliminierungspolitik entgegen: “Es wäre zweckmäßiger, aufrichtiger und vor allem christlicher gewesen, in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu denen zu halten, die das gesunde Leben bewusst vernichteten, statt gegen jene zu meutern, die nichts anderes wollten als Kranke zu vermeiden. Das Geschehenlassen auf diesem Gebiet ist nicht nur eine Grausamkeit gegen die einzelnen unschuldigen Opfer, sondern auch eine Grausamkeit gegen die Gesamtheit des Volkes. Wenn die Entwicklung so weitergehen würde wie in den letzten hundert Jahren, würde die Zahl der der öffentlichen Fürsorge Unterstellten dereinst bedrohlich an die heranrücken, die am Ende dann die Träger der Erhaltung der Gemeinschaft wären. Nicht die Kirchen ernähren die Armeen dieser Unglücklichen, sondern das Volk muß es tun. Wenn sich die Kirchen bereits erklären sollten, diese Erbkranken aber in ihre Pflege und Obhut zu nehmen, sind wir gern bereit, auf ihre Unfruchtbarmachung Verzicht zu leisten.“

Dabei hatte es trotz aller in der Öffentlichkeit verwurzelter Aversionen gegen behinderte Menschen während der Weimarer Republik hoffnungsvolle Ansätze gegeben, das Leben der Menschen mit Behinderung zu verbessern. In der WZ erschien im März 1928 ein Artikel mit der Überschrift “Wie sieht eine moderne Irrenanstalt aus?“. Der Autor, Dr. med Karl Ander, erinnerte zunächst an frühere Lebensbedingunen behinderter Menschen: “Einst steckte man die Geisteskranken nämlich in – Zuchthäuser, wo sie oft in Käfige gesperrt, mit schweren Ketten gefesselt, dort von Sträflingen mehr bewacht als gepflegt wurden.“ Das sei anders geworden, eine wahrhaft moderne Irrenanstalt unterscheide sich schon außen kaum von einem Krankenhaus. Ander zählt die Neuerungen auf: Schlafsäle, Tagesräume, Gebäude nach dem Pavillonsystem angeordnet, Höfe und Gärten und Räume ohne Gitter, die ein “eigentlich schon überwundener Standpunkt“ seien. Er nennt die Bewohner solcher Einrichtungen bereits Patienten und unterscheidet zwischen den einzelnen Krankheitsbildern (Fallsüchtige, Idioten, Alkoholiker, körper lich Kranke) und denjenigen, die nicht arbeiten können oder wollen und denen, die es tun. Denn: “In den Irrenanstalten wird gearbeitet.“ Er beschreibt auch einen Tagesablauf, aus dem deutlich wird, dass auch Behinderte ein tägliches normales Leben führen können: “An Sonn- und Feiertagen werden vormittags Gottesdienst, nachmittags Vorträge, gelegentlich auch Feste und selbst – Bälle abgehalten, bei denen es bedeutend weniger unheimlich zugeht, als das große Publikum es sich vorstellt. Kurz, man ist redlich bemüht, mit allen Mitteln moderner Technik wieder gutzumachen, was Jahrhunderte an des Geisteskranken, den Ärmsten der Armen, verbrochen haben.“

Die Vertreter solch vielversprechenden Entwicklungen gerieten nun mit der Inkraftsetzung des Gesetzes in die Gefahr, als Gegner des Regimes angesehen zu werden. Was mag aus Dr. Ander geworden sein? Gut zwei Monate nach Inkraftsetzung des Gesetzes erschien ein inhaltlich anderer Artikel zur “Vererbung“. Die Überschrift lautete: “Nicht jedes Kind ist ein “Treffer“.“ Darin wird die Tatsache behauptet, daß die “geistig höheren Volksschichten verhältnismäßig mehr begabte Kinder erzeugen als die unteren“. Der Geburtenrückgang in den höheren Schichten könne von unten nicht völlig ergänzt werden: “dieser fortgesetzte Raubbau muß zur Schädigung des Ganzen führen.“ Aus dem folgenden Passus wird deutlich, warum die Nazis kinderreiche Familien wollen und später dann Mütter mit vielen Kindern besonders auszeichneten: “Erfordert schon die Erhaltung der Volksqualität mindestens drei bis vier Kinder je Ehe, so ist zur Bewahrung und Hebung der Qualität unbedingt eine noch größere Kinderzahl von nöten. Wir wissen, wie mannigfach die Mischung der Erbeinheiten bei den Kinder derselben Familie ausfällt. Nicht jedes Kind ist ein “Treffer“, und schon beim Würfelspiel erzielt man mit acht Würfeln eher eine Sechs als mit zweien.“ Anhand einiger Beispiele wird versucht, diese Theorie zu belegen, z.B. könne durch eine “geeignete Heirat zuweilen hervorragender Nachwuchs“gezeugt werden. Das bekannteste Beispiel sei die “Schwäbische Großmutter“ Regina Burdhardt (1599 bis 1669), die Stammutter von Hölderlin, Uhland, Schelling, Möricke und anderen bekannten Schwaben: “Übrigens haben oft auch spätgeborene, selbst nicht besonders hervorragende Söhne höchstwertige Kinder: Hindenburgs Mutter war dreizehntes, der Vater der Brüder Siemens fünfzehntes Kind.“

Nach der Verkündigung des Gesetzes “zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ kam in einigen Teilen der Bevölkerung Unruhe über die weitreichenden Auswirkungen auf. Denn “erbkranke“ Menschen konnten durch einen chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden. Und “erbkrank“ im Sinne des Gesetzes waren Menschen mit folgenen Krankheiten: “angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer körperlicher Missbildung“ und schwererem Alkoholismus. Anzeigepflichtig waren Zahnärzte, Dentisten, Gemeindeschwestern, Masseure, Hebammen, Heilpraktiker, Anstaltsleiter, Amtsärzte, selbst Kurpfuscher (nach Klee). Anträge auf Sterilisation konten von beamteten Ärzten bei “Erbgesundheitsgerichten“ gestellt werden, die an Amtsgerichte angegliedert waren. Weitere Informationen erschienen in der WZ-Beilage “Das Weghaus“ am 8. Juni 1933. Die Zeitung druckte einen Beitrag “Was uns die Rassenlehre lehrt“ des berüchtigten “Rassenforschers“ Prof. Dr. Hans F. K. Günther, der Autor des Buches “Rassenkunde des deutschen Volkes“ und Direktor der “Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie“ und vieler weiterer ähnlicher Ämter, einer der wichtigen Rassenforscher des Dritten Reiches: Günther wurde als Mitläufer entnazifiziert und publizierte auch nach 1945. Die unmenschlichen Suaden sollen hier nicht mehr zitiert werden, nur dieser eine Satz: “Unbewusst betrachtet jedermann seinen Mitmenschen als rassenseelisch verschieden veranlagt.“ Weitere Artikel erschienen übers Jahr verstreut in der Lokalzeitung. Am 23. Juli wurde das Gesetz ausführlich vorgestellt. Schon lange vorher fanden die Leser einen ausführlichen Bericht über “Rassenkreuzung und geistige Leistung“ von Dr. Eugen Fischer, dem Direktor für Anthropologie am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, der einflussreichste Rassenforscher der NS-Zeit und nach 1945 in Sontra bei Bebra tätig, später in Freiburg und Ehrenmitglied der Deutschen Geselschaft für Anthropologie, gestorben 1967. (Klee) Auch hier nur ein Zitat: “Unter allen biologischen Erscheinungen am Menschen ist zweifellos Rassenkreuzung oder Bastardisierung nicht nur der umfangreichste, sondern auch für die Entwicklung der Menschheit der grundlegendste und folgenschwerste Vorgang.“ Einem hannoverschen Fürsorgearzt, PG Dr. Schwab, gab die WZ in Kleindruck eine ganze Seite, um seine “Erkenntnisse“ über “Vererbung, Rasse u. Eugenik“zu erläutern. Ein Zitat: “Ich erwähnte bereits, daß der Mensch sich kaum dazu verstehen würde, Zuchtwahl zu treiben. Doch möchte ich hier eine Stelle, die ich in einem alten Werke fand, nicht dem Leser vorenthalten: Für eine vollkommene Zuchtwahl bedürfen wir dringend einer besseren als der heutigen Kenntnis der von den einzelnen beherbergten Erbwerte.“

Resultat solcher Überlegungen war die Herausgabe des “Deutschen Einheits-Familienstammbuches mit Sippen- und Ahnentafel“, in denen es zum Geleit u.a. heißt: “In der Zeit der völkischen Gemeinschaft des deutschen Volkes darf niemand mehr ohne Familiengeschichte sein. Wenn früher manche verspottet wurden, weil sie allzu große Mühe auf die Ausstellung ihrer Sippen- und Ahnentafeln verwandten, so ist aus solchem unendlich wertvollen, freiwilligen Beginnen heute eine Pflicht für für jeden Volksgenossen geworden und besonders für jedes deutsche Ehepaar, das sich bewusst ist, mit der Gründung seiner Ehe nicht nur Pflichten gegen sich selbst und die Nachkommenschaft, sondern insbesondere gegen die Gemeinschaft und das Volksganze zu übernehmen.“

Am 22. Juli 1933 erschien wieder ein Beitrag zu den Neuerkeröder Anstalten. Mit Genehmigung der Staatsregierung wollten die Anstalten im gesamten Freistaat Braunschweig eine öffentliche Sammlung abhalten. Die Anstaltsleitung bat die mitfühlende Bevölkerung, die der Anstalt bereits seit 65 Jahren bei der Erfüllung ihrer Aufgaben geholfen hatte, “trotz der Not der Zeit die Hand nicht von dem Liebeswerk zurückziehen “. Der letzte Satz des Spendenaufrufes stand bereits im Gegensatz zur Regierungspolitik: “Die Fürsorge für die Schwachsinnigen und Epileptiker ist aus sozialen und eugenischen Gründen im Interesse der Volksgemeinschaft und Volksgesundheit nötig.“

Dass die wahren Absichten aber viel weiter reichen sollten, wurde aus einem Artikel – war es Zufall, daß er kurz nach dem Spendenaufruf erschien? – in der WZ vom 8. August 1933 deutlich. “Eine Frau“, die nur mit ihrem Namen (Martha Wesner) als Autorin vorgestellt wurde, sprach zum “Sterilisierungsgesetz“, weil von der der “nationalen Regierung feindlich gegenüber stehenden“ Menschen angeblich der Versuch unternommen wurde, Unruhe in die Bevölkerung zu tragen. Sie appellierte an deren “Verstand und Gerechtigkeitsgefühl“, “Humanitätsduselei und Sichselbstbemitleiden“ aufzugeben. Mit anderen Worten: Christliche Nächstenliebe und Menschenwürde sollten für die Menschen nicht mehr gelten, die den “biologischen“ Vorstellungen nationalsozialistischer “Rassehygieniker“ nicht mehr entsprachen.

“Sterilisation ist keine Kastration“ klärte Frau Wesner die Wolfenbütteler Leser auf. Kastration solle nur bei den “Schädlingen der menschlichen Gesellschaft angewendet“ werden, die wegen “Sexualverbrechen mmer wieder rückfällig“ würden. Die Sterilisation sei nur ein “kleiner, operativer Eingriff“, der keinerlei “seelische Störungen“ hinterließe, sondern nur die “Fortpflanzungsfähigkeit“ nehme: Sie sollte bei Personen “Anwendung finden“, die aus der Sicht der Nazi-Pseudowissenschaftler an “erblicher Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder an einer schweren Erbkrankheit“ litten. Sterilisierte Menschen sollten angeblich nicht zurückgesetzt werden, sondern zum “Wohl des Staates“ keine Kinder mehr zeugen, die sie als “Ballast“ bezeichnete. Wie weit diese Maßnahmen in Wirklichkeit geplant waren, machte die Autorin mit “erschütternden Statistiken“ deutlich: Eltern von Mittelschulkindern “zeugten im Durchschnitt zwei, jene von Volksschülern im Durchschnitt drei und von Hilfsschülern, als solchen, die noch nicht einmal imstande sind,, das geringe Normalmaß einer Volksschule zu bewältigen, im Durchschnitt vier Kinder“. Hier wurde also suggeriert, daß im Sinne der nationalsozialistischen Rassenvorstellungen “minderwertige“ Menschen wieder nur “minderwertige“ Menschen zeuigen können. Die über die Steriliiserung hinausgehenden Absichten der Tötung behinderter Menschen als “unwertes Leben“ waren aus einem grässlichen, aber eindeutigen Absatz herauszulesen: “Liest man, daß in Hamburg z.B. im Jahr 1906 für Versorgung Minderwertiger, d.h. geistig Zurückgebliebener, Taubstummer, Epileptischer, Säufer usw. 31,6 Millionen Reichsmark ausgegeben wurden, so spricht das eine beredte Sprache für jene “zu viel Caritas“, die der Vermehrung von Minderwertigen nicht nur keinen Damm setzte, sondern es förmlich hochzüchtete, indem man die Minderwertigen ruhig heiraten und gestörte Kinder mit denselben schlechten Erbanlagen auf die Welt setzen ließ.“

Kurz vor Weihnachten veröffentlichte die Lokalzeitung Angaben über die “Belastung der Sozialversicherung durch Minderwertige“. Jeder “Erbkranke“, der von seiner Gemeinde in einer Anstalt untergebracht wird, koste den Bürgern RM 1482,00 jährlich. Im ganzen Reich müssten die Gemeinden jährlich “über 170 Millionen RM für die Geisteskranken aufbringen“. Dazu komme, “daß ser Nachwuchs Erbkranker sich häufig in Hilfsschulen befindet“, das erfordere weitere 40 Millionen RM für die Erhaltung dieser Schulen. Der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Auguststadt, “Pg. Petzold“, hielt vor den versammelten Mitgliedern einen Vortrag über die “Notwendigkeit, den deutschen Wald zu schützen“ und “leitete das Thema dann über auf die Beobachtung und Beseitigung der Volksschädlinge im Sinne der Rassenpolitik“. Der Staat “zahle für die Erhaltung der minderwertigen Menschen jedes Jahr 490 Millionen Reichsmark“. Dieses “widerwärtige Spiel mit deutscher Rasse“ müsse beendet werden. Notwendig seien “lebenstüchtige und widerstandsfähige Menschen“. Es sei zudem “erschreckend, daß in Deutschland 150.000 Nonnen“ lebten, die, “wenn sie stattdessen deutsche Mütter geworden wären, 300.000 Menschenkindern das Leben“ hätten schenken können.

Das Gesetz eröffnete den Nazis die pseudorechtliche Grundlage zu unethischen Menschenversuchen und zur bald beginnenden Euthanasie. Die Ermordung der behinderten Bürgerinnen und Bürger des Landes gehörte auch zur Vorbereitung und Durchführung des geplanten Krieges: “Unnötige Esser“ konnten ausgeschaltet werden und freiwerdende Räumlichkeiten z.B. für die Unterbringung kriegsverletzter Soldaten genutzt werden. Hinweise darauf sind einem WZ-Artikel aus dem November 1933 (“Warum Erbpflege?“) zu entnehmen. Hier wurden Zahlen zu den einzelnen Gruppen der behinderten Menschen genannt. Und darauf bezogen heißt es: “Bei den genannen fürchterlichen Zahlen muß man noch bedenken, daß bis zum Kriege das Überfluten des gesunden Volksteiles mit asozialen Elementen nicht zum Bewupßtsein der Nation gedrungen ist, sondern daß erst der gewaltsame Aderlaß des Krieges am besten deutschen Erbgut, verbunden mit der Not der Nachkriegsjahre und der gewollten Kinderlosigkeit des Volkes als drohendes Menetekel vor Augen geführt.“ Es folgt ein Hinweis auf Westermanns Monatshefte, in deren Novembernummer “wertvolles, teilweise zum ersten Mal an die Öffentlichkeit kommendes Material“ veröffentlicht werden sollte.

Eine besondere Art, die “Wertigkeit“ von Menschen in Verbindung mit “erblicher Belastung“ zu belegen, erlebten die Leser der Lokalzeitung im Dezember 1933. Die Begriffe “Wertigkeit und “Minderwertigkeit“ wurden “wissenschaflich“ erläutert mit der Einführung weiterer Begriffe: “Höherwertigkeit, Höchstwertigkeit“. Unterwertigkeit belaste das Volksganze und hemme das nationale Gedeihen: “Dies geschieht nicht zu allen Zeiten, nicht unter allen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Bedingungen im gleichen Maße. Hohe Blüte der Nation macht Unterwertigkeit bis zu einem gewissen Grade erträglich. Doch in allen Krisenzeiten, in denen es um die letzten Daseinsfragen des Volkes geht, zeigt sich die ganze Schwere der Last, die der Einzelne, die Familie, die Gesamtheit daran trägt.“

Es folgen Informationen über die Bohnenzucht eines Landwirts mit zwei Sorten Bohnen, offenbar vergleichbar mit Menschen: “Die eine wächst zu einer kräftigen Pflanze auf, die den Witterungsunbilden standhält, reichlich Blüte und Frucht trägt. Die andere Sorte entwickelt sich unter denselben Wachstumsbedingungen nur kümmerlich; einige Exemplare ihrer Art gehen bei der geringsten Ungunst der Umweltverhältnisse zugrunde.“ Zur Illustrierung sind dem Artikel zwei Grafiken beigefügt, von denen eine hier abgebildet ist. Text unter der Abbildung: “Nachkommenschaft zweier Bohnensorten bei ungleichartigen Wachstumsbedingungen.“

Erläuterung unter der Grafik: “Nachkommenschaft zweier Bohnensorten bei ungleichartigen Wachstumsbedingungen.“

Knapp vier Monate nach der Inkraftsetzung des unmenschlichen Gesetzes gab die Leitung der Neuerkeröder Anstalten, die damals als eine der “größten und modernst eingerichteten Anstalten der Inneren Mission“ galt, der Presse Gelegenheit, die Einrichtung kennenzulernen. Es kann angenommen werden, dass diese Öffentlichkeitsarbeit nicht allein eine Idee der Anstaltsleitung war, sondern sicher mit höheren Stellen abgesprochen war, um dem immer stärker werdenden Trend entgegenzuwirken. Am 10. April 1934 berichtete ein leider unbekannter Autor in der WZ in einem fast einseitigen Artikel wohlmeinend über die Lebensbedingungen und die Lebensfreude der in Neuerkerode lebenden behinderten Menschen mit einem Schlusssatz, der ebenfalls der NS-Rassenpolitik widersprach: “Das wollen wir bezeugen: die Unglücklichen, die meist aus dem Lande Braunschweig stammen, sind gut aufgehoben. Und wenn am 14. und 15. April am Volkstage für die Innere Mission geworben wird, dann sollten die Mittel reichlich fließen, denn neben der NS-Volkswohlfahrt hat auch die Innere Mission im Dritten Reich noch wichtige Aufgaben zu erledigen.“

Noch nicht betrachtet worden ist von Historikerseite das Vorgehen der hiesigen Behörden, des Gesundheitsamtes, der Schulaufsichtsämter und der Amtsärzte, z.B. Dr. Osten im Landkreis Wolfenbüttel, bei der Auswahl der Zwangssterilisationen (in Neuerkerode sind von 1934 bis 1944 130 Menschen durch Beschluß des Erbgesundheitsamtes zwangsweise sterilisiert worden.) und der Menschen, deren Leiden auf die Tätigkeit NS-höriger Beamer und Richter zurückzuführen waren.

Es muß allerdings konstatiert werden, dass nicht nur Nationalsozialisten von Maßnahmen zur “Erbgesundheit“ überzeugt waren. So versuchten im Mai 1932 Braunschweiger Bürger eine „Gesellschaft für Eugenik“ (Eugenik: griechisch, Lehre von der guten Erbveranlagung) zu gründen. Es überrascht wohl kaum, dass die Nationalsozialisten versuchten, sich dieser Organisation bemächtigen, was ihnen auch weitestgehend gelang. In einer entscheidenden Versammlung trat Johannes Schlott, Pfarrer der Katharinengemeinde in Braunschweig, auf und erregte mit der Aussage Aufmerksamkeit, „wir Gebildeten müssen mit der Erhöhung der Kinderzahl vorangehen“. Er forderte 8 bis 9 Kinder pro Familie. Welchen Rang die Beschäftigung mit „Minderwertigen“ in der damaligen Gesellschaft hatte und dass das Thema nicht nur von Rassefanatikern als bedeutsam angesehen wurde, mag das Resumee des Volksfreundes zeigen, das aus heutiger sozialdemokratischer Sicht unfaßbar scheint: „Es ist natürlich schade, daß die hiesige Ortsgruppe der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) von den Nazis zu einer Art Filiale ihrer Partei herabgewürdigt wird. Aber gerade diejenigen in Braunschweig, die nicht erst seit einigen Wochen „Eugenik tragen“, sondern von jeher für die Notwendigkeit der Ausschaltung Minderwertiger von der Fortpflanzung und auf der anderen Seite für die Gewährung ausreichender Kinderbeihilfen eingetreten sind, werden doch mit Freude sehen, wie ihre Idee an Boden gewinnt.“

Das Gesetz wurde 1945 nicht, wie man erwarten würde, ausser Kraft gesetzt. Es gab sogar noch Amtsträger, die sich auch weiterhin darauf beriefen, so der damalige Direktor der Neuerkeröder Anstalten, Pastor Fehr. Er schickte dem Braunschweiger Fürsorgeamt im Februar 1947 einen Bericht über einen “entlaufenen“ Neuerkeröder Bewohner, damals “Pflegling“ genannt. U.a. schrieb er: “Ernst N. leidet an angeborener Geisteschwäche und fällt deswegen unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Er darf vor Durchführung der Sterilisation nicht aus den Anstalten entlassen werden.“ Das Schreiben veranlasste den Braunschweiger Regierungsrat Dr. Raschen (Raschen war Mitarbeiter des damaligen Verwaltungsbezirkes Braunschweig und Initiator der Kritik am späteren Regierungspräsidenten August Knost, der in der NS-Zeit im Reichssippenamt auch die Nürnberger Gesetze kommentiert hat.), der gleichzeitig Mitglied des Neuerkeröder Verwaltungsrates war, zu einer Antwort an Fehr: “Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Aufklärung darüber zukommen lassen würden, daß unter ihren Mitarbeitern das Sterilisierungsgesetz der nationalsozialistischen Aera noch als bestehend angesehen wird.“ Fehr antwortete, er sei darüber informiert worden, daß das Gesetz zunächst noch Gültigkeit habe und die Geisteskranken einstweilen noch nicht zu entlassen seien.

In 2006 begannen Initiativen gegenüber der Bundesrepublik, das Gesetz endgültig zu annulieren. Die Lebenshilfe wurde aktiv, und die Fraktion der Linken im Bundestag warf das Thema im Bundestag in einer Anfrage auf. Schließlich beantragten die Parteien der Regierungskoalition, das Gesetz zu ächten.

“Das Parlament solle feststellen, dass mit dem ““Erbgesundheitsgesetz“ ein Weg beschritten worden sei, der mit grauenhafter Notwendigkeit zielgerichtet in das „Euthanasie“-Massenmordprogramm geführt habe. Die hohe Todesrate bei der Zwangssterilisation enthülle dies überdeutlich. Etwa 5.000 bis 6.000 Frauen und ungefähr 600 Männer seien an den Folgen des Eingriffs gestorben. Dies zeige in grausamer Deutlichkeit, in welchem Geist die Zwangssterilisation vorgenommen wurde, so die Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Bis 1939 seien ungefähr 290.000 bis 300.000 Opfer zwangssterilisiert worden. Zwischen 1939 und 1945 seien – aufgrund der kriegsbedingten Einschränkungen der Sterilisationsmaßnahmen auf Fälle „besonders großer Fortpflanzungsgefahr“ – noch einmal etwa 60.000 Menschen zwangssterilisiert worden. Insgesamt seien somit 350.000 bis 360.000 Zwangsterilisationen vorgenommen worden. Der Bundestag solle den Opfern der Zwangssterilisierung und ihren Angehörigen erneut seine Achtung und sein Mitgefühl bezeugen, so die Koalitionsfraktionen.
Die Gültigkeit des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 endete mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, soweit es dem Grundgesetz widersprach (Artikel 123 Abs. 1 GG). Die wenigen danach noch gültigen Vorschriften über Maßnahmen mit Einwilligung des Betroffenen wurden durch Artikel 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) aufgehoben. Das Gesetz ist damit definitiv in keiner Weise mehr existent. Die Besorgnis mancher Opferverbände, das Gesetz könne wieder in Kraft gesetzt werden, ist unbegründet.
Der Deutsche Bundestag hat in seinen Entschließungen vom 5. Mai 1988 (Bundestagsdrucksache 11/1714) und 29. Juni 1994 (Bundestagsdrucksache 12/7989) festgestellt, dass die auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchgeführten Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht waren. Der Deutsche Bundestag ächtete in diesen Entschließungen diese Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom „lebensunwerten Leben“. Der Rechtsausschuss stellte zuvor in der Begründung seiner Beschlussempfehlung vom 26. Januar 1988 (11/1714) fest, dass „das Gesetz in seiner Ausgestaltung und Anwendung nationalsozialistisches Unrecht ist“. In der 13. Wahlperiode wurden mit dem Gesetz vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501) sämtliche Beschlüsse der „Erbgesundheitsgerichte“, welche eine Unfruchtbarmachung anordneten, aufgehoben. II. Der Deutsche Bundestag bekräftigt erneut, dass die im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes durchgeführten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht sind. Er bekräftigt erneut die Ächtung dieser Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom „lebensunwertem Leben“.

III. Der Deutsche Bundestag erstreckt diese Feststellung und diese Ächtung ausdrücklich auf das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 selbst, soweit dieses Zwangssterilisierungen rechtlich absichern sollte. Die gesetzlich vorgegebene Handlungsanweisung und die aufgrund dieser Anweisung durchgeführten Zwangsterilisationen können vor dem Hintergrund einer totalitären Staatspraxis nicht voneinander getrennt werden. Beides ist Ausdruck der gleichen verbrecherischen national- sozialistischen „Weltanschauung“. Beidem gebührt die gleiche Ächtung.“

Quellen:
Wolfenbütteler Zeitung (WZ)
Volksfreund
Neuerkeröder Blätter
Klieme, Joachim, Ausgrenzung aus der NS-“Volksgemeinschaft“, Braunschweig 1997
Wir wurden nicht gefragt, Ein Lesebuch zu “Euthanasie“ und Menschenwürde, Bielefeld 1992
Sternberger/Storz/Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Frankfurt 1986
Klee, Ernst, “Euthanasie“ im Ns-Staat, Die “Vernichtung Lebensunwerten Lebens“, Frankfurt am Main, 1983
Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005
Deutscher Bundestag