August Winnig

„August Winnig, einst Kämpfer in den Reihen der Sozialdemokratie, die er dann verließ, weil er sie als unbelehrbaren Schädling am Deutschtum erkannte, betrachtet es seit Jahren als vordringliche Aufgabe, das „Proletariat“ wieder für die nationale Bindung zurückzugewinnen.
(…)
Die Wende zum bewussten Volkstum, die Bildung eines neuen nationalen Wertgefühls gegenüber der volkszerstörenden Entfesselung durch artfremden Marxismus, sei der Hitler-Bewegung zu danken. Sie auch werde die wesentlichen Aufgaben jeden Staate wieder erfüllen können: Hüter der Macht nach Außen und Hüter der Macht nach Innen zu sein.“

Aus einem Kommentar der Wolfenbütteler Zeitung vom 16. Juni 1933 zu einem Vortrag Winnigs in der Wolfenbütteler NS-Kulturvereinigung.

August Winnig (1878 – 1956)
Gewerkschafter, Politiker, Schriftsteller und ….

Dieser Text ist Bestandteil einer Reihe meiner Betrachtungen des Schriftstellers August Winnig und seiner Ehrungen nach 1945, die hier z.Zt. nicht alle veröffentlicht werden können.

Während der Weimarer- und Nazizeit lebte Winnig in Potsdam nahe des Cäcilienhofes, zog vor Kriegsende zurück in seine Heimatstadt Blankenburg und flüchtete schließlich 1945 vor der Roten Armee im Troß des Herzogs nach Westdeutschland. Er lebte bis zu seinem Tod in Vienenburg am Harz. (Seit seiner Absetzung 1918 (mit Unterbrechung) lebte der Braunschweigische „Herzog“ Ernst August mit seiner Frau im Blankenburger Schloß – bis zu seiner Flucht 1945 auf die Marienburg in Niedersachsen.)

Da bereits 1973 in der Schriftenreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung eine „historische Persönlichkeitsanalyse“ von Wilhelm Ribhegge erschienen war, verwundert es, daß dessen Forschungsergebnisse zur Rolle Winnigs in der Nazizeit und speziell davor im „Braunschweigischen Biographischen Lexikon“ nicht erwähnt wird. Ribhegge hatte herausgefunden, dass Winnig im publizistischen und literarischen Leben Deutschlands während der zwanziger und dreißiger Jahre als freier Schriftsteller eine „bekannte Figur“ gewesen war.

Nach seiner Abkehr von gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Idealen habe nach der Umstrukturierung seiner Persönlichkeit sein Bewußtsein zunehmend faschistische Züge angenommen: „In den politisch-historischen Büchern und Publikationen des bürgerlichen Winnig der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre schlägt sich die Tendenz zur historischen Wirklichkeitsverweigerung in eine mystifizierende Geschichtsdeutung nieder, die in dem „Blut-und-Boden“-Mythos die eigentlichen Triebkräfte der deutschen Geschichte und im „Arbeitertum“ das eigentliche Wesen des deutschen Arbeiters entdeckt. (…) Die Wirklichkeit der deutschen Politik wird von dem bürgerlichen Schriftsteller als eine Unwirklichkeit, als ein Zustand der inneren und äußeren Überfremdung beschrieben. In dieser Abwehrhaltung verbinden sich antisozialistische, antidemokratische, antiwestliche, antisemitische, antiintellektualistische und antifeministische Züge im Bewußtsein der Persönlichkeit zu einer vollkommenen Ablehnung der Gegenwart. Die Entmachtung der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Zerstörung der demokratischen Republik durch den Aufstieg und Sieg des Faschismus in Deutschland wird von Winnig als Befreiung vom Zustand der Entfremdung erfahren. Das Faschismuserlebnis leitet eine Entspannung und Entpolitisierung der bürgerlichen Persönlichkeit ein. Nach der Ernüchterung, die die Konfrontation mit der nationalsozialistischen Wirklichkeit im politisch-gesellschaftlichen Bewußtsein der Persönlichkeit bewirkt, findet sie im Rückzug auf die christliche Innerlichkeit ihre innere Stabilität und Harmonie.“

Winnig ist nie der NSDAP beigetreten, habe es außerhalb aller seiner Erwägungen gefunden, ein Gefolgsmann Hitlers zu werden: „Obwohl er öffentlich den Nationalsozialismus mit starken Worten begrüßte, bestanden noch [1931 J.K.] erhebliche persönliche Vorbehalte. Kurz vor den Reichstagswahlen 1932 schrieb er, der Nationalsozialismus sei durch das Versagen der Sozialdemokratie 1918 historisch notwendig geworden. Und: Der neuen nationalen „Arbeiterbewegung“ sei ein „rücksichtsloses Kämpfertum und eine leidenschaftliche Ablehnung der Juden in der Politik“ als „bestimmender Wesenszug“ vorgeschrieben.“ Das blauäugige Versagen der deutschen Konservativen faßte er in die historisch fast klassischen Worte: „Es ist jetzt die Pflicht des deutschen Bürgertums, dieser nationalen Massenbewegung die Hand zu reichen. Es darf sich nicht dadurch abschrecken lassen, daß es in ihr massenmäßig rauh und zuweilen auch roh zugeht. Es mag die Form beanstanden, aber es muß erkennen, daß der Geist und die Kraft dieser Bewegung die Möglichkeit der großen Wende in sich tragen.“

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler pervertierte er um in einen „Sieg des Widerstandes“ gegen den französischen Geist. Das katastrophale Ereignis nutzte er zu einem Gruß an die Völker Europas: „Wir ringen mit Euch um den neuen Weg! Ehre sei Gott in der Höhe.“ Nach der Ernüchterung, so Ribhegge, habe Winnig den Nationalsozialismus mit anderen Augen gesehen: Die verspätete Erkenntnis des politischen Barbarentums der Nationalsozialisten wirkte auf die bürgerliche Seele wie ein Schock. Der Nationalsozialismus drohte jetzt die bürgerliche Welt von innen heraus zu zerstören. In dieser Situation suchte Winnig in der christlichen Taufe gegenüber dem Faschismus die rettende Antwort.“

Mit dem Rückzug in die christliche Innerlichkeit und als „schweigender Betrachter der politischen Szene“ verbrachte Winnig die Kriegsjahre bis zum Ende. Nach 1945 schrieb er weiter, erfreute sich des Ansehens einer geachteten Persönlichkeit des „kirchlichen und öffentlichen Lebens“ Fünfundsiebzigjährig ernannte ihn die Theologische Fakultät der Universität Göttingen 1953 zum „Dr. h.c“. 1955 verlieh ihm Bundespräsident Heuss , der den politischen Publizisten aus seiner eigenen Weimarer Zeit hat kennen müssen, in „Anerkennung der um Staat und Volk erworbenen besonderen Verdienst“ das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Kurt Sontheimer erwähnt Winnig in seinem Beitrag „Antidemokratisches Denken in der Wei- marer Republik“ im Buch „Der Weg in die Diktatur“(München 1962): „Kein Zweifel, daß gerade das Denken der jungnationalen Rechten – maßgeblich bestimmt durch Autoren wie Wilhelm Stapel, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch, August Winnig und viele andere – das geistige Vorfeld für das Wachsen des Nationalsozialismus bereitet hat.“ (Seite 66)

Kurt Tucholsky erwähnte Winnig 1921 in „Tante Malchens Heimatland“: „Beim Kapp-Putsch nahm er am Hochverratsversuch teil, blieb selbstverständlich straflos und steht jetzt in der Ecke: eine abgeklapperte Kleinbahnlokomotive, die auf Anschluß wartet. Vielleicht pfeift ihr eines Tages einer“. (Gesamtausgabe, Bd. III, seite 70)

Aus Winnigs Werken aus der Zeit von 1933 bis 1937 geht nicht nur seine publizistische Hilfe zum Sieg der Nazis hervor, sondern sie dokumentieren auch seine Rolle bei der Wegbereitung der nationalsozialistischen Macht. Bereits 1923 befaßte er sich mit der Forderung nach mehr “Lebensraum“ für die Deutschen, die seines Erachtens vom „Parteisozialismus“ nur als „raffgieriger Imperialismus“ negiert wurde. Klar sah er die Lösung voraus, die zehn Jahre später tatsächlich aufging: „Eine Partei, die das Problem des sozialen Elends und der nationalen Schändung als eines begriffe, es aufnähme und seine Lösung dem deutschen Proletariat als eine große geschichtliche Sendung offenbarte – eine solche Partei stände in kürzester Zeit unverwundbar und unüberwindlich an der Spitze der Nation. Doch eine solche Partei müßte den proletarischen Menschen in seiner Tiefe bewegen“

Dem Weimarer Staat warf er das Defizit vor, nicht „Hüter der Macht zu sein“, er ging sogar so weit, jeden als Feind zu betrachten und zu behandeln, „der ihn, den Staat, frei und groß und stark sehen wollte.“ 1927 eröffnete er einen Artikel mit dem Satz: „Der Widerwille gegen das Parteiwesen ist zweifellos eine der gesündesten Regungen in unserem Volk.“ Folgerichtig begrüßte er den „Niedergang der parlamentarischen Ordnung“ und sah wieder das Ziel: „Wo immer völkischer Wille zum geschichtlich geformten Leben sich bedroht fühlt, wendet er sich gegen die überkommende Verfassung aus liberaldemokratischen Geiste und nimmt Richtung auf den Führerstaat.“

In Hitler und Mussolini sah er Männer, die von „unten“ kamen. Mit dem nächsten Zitat schloß er sich der dem NS-Propagandabegriff von der „Vorsehung“ an: „Auch er ist ein Sohn dieser großen neuen Volkstumsschicht, die Verkörperung der biologischen Reserve, die uns die Geschichte zur Erneuerung unserer Lebensordnung bereitgestellt hat“ Der unter dem Namen des Arbeiters geführte Weimarer Staat habe vor der „ewigen Aufgabe jeder Staatlichkeit“ versagt, die Führung des Staates durch die Sozialdemokratie sei ein „einziges Versagen und Scheitern.“ Dieser Staat, dessen „geschichtliche Wesenssubstanz verloren gegangen sei,“ war zur Auflösung und zum „Untergange verurteilt“ gewesen: So mußte der Augenblick kommen, wo er entweder von dem entfesselten Untermenschen verschlungen wurde oder wo die gesunden Kräfte des Volkes ihm ein Ende machten.

Der Staat wäre von den Untermenschen verschlungen worden, „hätte nicht Adolf Hitler mit der Sache der Nation zugleich die Sache des Arbeiters ergriffen und in seiner Bewegung zum Siege geführt.“ Im Werk des Führers, der ihm 1931 das Amt des preußischen Ministerpräsidenten angeboten habe, wenn er innerhalb von vier Wochen der NSDAP beitreten würde, vermutete er einen geschliffenen Kristall. In der Bewegung sah er keine staatsfeindliche, sondern eine „dem Staate leidenschaftlich zugewandte Masse: und es handelt sich um keine Partei, die dem Gottesglauben den Krieg erklärt hat, sondern um eine, deren religiöser Ernst nicht bezweifelt werden kann“. Den Ereignissen im Frühjahr 1933 riet er, nicht mit kleinen Maßen gerecht zu werden. Es handele sich nicht um einen Kabinettwechsel, und sogar das “Wort vom Systemwechsel“ bliebe hinter der wirklichen Bedeutung der Ereignisse zurück: „Das Staatswesen, das jetzt möglich geworden ist und von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr immer stärkere Wirklichkeit werden wird, dieser neue Staat wird in seiner Art uns alle überleben, die wir heute Zeugen seines Entstehens sind.“

Schließen wir Winnigs NS-Lobgesang, der im Sieg Hitlers auch einen Sieg des „deutschen Willens über den französischen Geist in der deutschen Politik“ betrachtete, mit einem letzten Zitat. Vieles mehr ist in seinen Werken nachzulesen: „Durch Hitlers Sieg über den Marxismus ist der Weg freigeworden für eine neue Arbeiterbewegung. (…) Gemeinnutz geht vor Eigennutz. In diesen Worten steckt mehr Sozialismus, als in allen Werken der Marxschen Schule.“

Zitate aus:

Winnig, August, Wir hüten das Feuer, Aufsätze und Reden (1923 – 1933), Hamburg 1933, Seite 131, 160, 235, 166

Winnig, August, Der Arbeiter im Dritten Reich, Berlin 1934, Seite 34, 44,45, 39 Winnig, August, Aus zwanzig Jahren, Hamburg 1948, Seite 41

Winnigs geistiges Eintreten für den Nationalsozialismus und sein späterer Rückzug in die Religion mit einer (angeblichen) Annäherung an oppositionelle Kreise könnten als Läuterung akzeptiert werden, wenn durch seine Ansichten über die Juden nicht eine tiefe Bindung zu antisemitischen Überlegungen erkennbar werden würden. Ähnlich wie Rudolf Huch veröffentlichte er 1937 seine Ansichten über Juden.

Europa sei die Zeugung der Germanen und der Römer, begann er 1937 seine „deutschen Ansichten“ über unseren Kontinent, die er rassistisch unterlegte: „Der Stratosphärenflug, die Idee des Raumschiffes – dergleichen ist nur dem europäischen Menschen möglich.“ Die europäischen Revolutionen erklärte er in der Weise, daß der „bildungshungrige Arbeiter“ nicht an den „deutschgesinnten Gebildeten“ geraten war, sondern an „unbeschäftigte Intellektuelle“, die sich in ihrem Wert verkannt und beiseite gestellt sahen „und darum für revolutionäre Lehren und Losungen besonders empfänglich gewesen“ seien.
Die gleichzeitige Emanzipation der Juden, mit der gesetzlich festgelegten gleichberechtigten Staatsbürgerschaft, hätten dieselben dazu benutzt, sich im „deutschen Leben stark zur Geltung zu bringen: Schon von etwa 1820 an dringt der Jude in das deutsche Schrifttum ein“. Mit „dem Juden“ sei etwas „Fremdes in die geistige Welt unseres Volkes“ gelangt. Beim direkt darauffolgenden Satz glaubt man, eine SS-Publikation vor sich zu haben: „Dem fremden Blute des Juden entspricht ein Seelentum, das aus anderen Wert lebt, als der deutschgesinnte Mensch.“

Einige antisemitische Erkenntnisse des späteren Ehrendoktors der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen muß man schon genauer lesen, daher hier ein längeres Zitat. Der Jude habe „seine Rückgefühle“ mit eingebracht: „Es lebte in seinem Bewußtsein oder auch nur in seinem Unterbewußtsein der Gedanke, daß er jahrhundertelange Beiseitesetzung und Unterdrückung an seinem Wirtsvolk zu rächen habe. Zwischen den jüdischen Geistigen und der deutschen Lebensordnung bestand so von vornherein eine feindselige Spannung. Das tritt schon bei den ersten Juden im deutschen Schrifttum, bei Börne und Heine zutage. Da schon zeigte sich, wie der Jude dazu neigte, das deutsche und seine Ausdrucksformen abzulehnen und herabzusetzen. Je mehr sich der Jude in das deutsche öffentliche Leben hineindrängte, umso mehr breitete sich in dem von ihm bestrichenen Raume ein spöttischer, frecher, neidischer und gehässiger Ton aus, der sich allmählich gegen alles Deutsche und seine Lebensformen wandte.“

“Was ist der Jude?“, fragte Winnig ein Jahr vor dem Novemberpogrom 1938 in seinem Werk „Europa, Gedanken eines Deutschen“, und gab dem Leser mit einer weiteren Frage gleich die Antwort: “Ist er als volkhaft geschichtliche Erscheinung überhaupt einer menschlich-kausalen Deutung zugänglich?“ Während alle anderen biblischen Völker vergangen seien oder in bedeutungslosen Resten unbeachtet dahinlebten, stehe der Jude „kämpfend oder herrschend, mitten im politischen, geistigen geschäftlichen Leben Europas und Amerikas“. Der Jude habe sich die Armut von Menschen zunutze gemacht und daraus schließlich die bolschewistische Revolution entwickelt.

Winnig hatte 1930 eine langatmige Arbeit mit dem Titel „Vom Proletariat zum Arbeitertum“ veröffentlicht. Ein Verzeichnis der NSDAP-Gaubücherei Südhannover-Braunschweig enthielt das Buch unter der Sparte „Weltanschauung und Wesenszüge des Nationalsozialismus“.

Marx sei der erste Jude gewesen, der in die Arbeiterbewegung eingegriffen habe. Ihm seien viele Juden gefolgt, die bald an allen wichtigen Stellen der Bewegung zu finden gewesen seien. Diese Erscheinung sei viel zu wichtig, daß sie nicht mit Schweigen übergangen werden dürfe.

Geschwiegen hat er wahrlich nicht, sondern sich angestrengt, seine Theorie der „geistigen Überfremdung der deutschen Arbeiterbewegung“ durch Juden in großen Auflagen zu verbreiten. Ein Rückblick aus den späten neunziger Jahren mit den Kenntnissen über die deutsche Judenvernichtung ermöglicht sogar das Auffinden einer kleinen Begründung, warum der tödliche Haß auf die Juden so deutschspezifisch wurde. Winnig bezeichnete bereits 1930 die „Überfremdung“ als ein „deutsches Verhängnis“ und als die „furchtbarste Seite des deut- schen Schicksals“. Und: „Die Arbeiterbewegung anderer Länder kennt dieses Schicksal nicht.“

Auf die Zahl der Juden in der sozialistischen Bewegung sei es nicht angekommen, sondern auf den ausgeübten Einfluß. Die nach dem deutsch-französischen Krieg entstandene sozialistische Parteipresse sei überwiegend von Juden geleitet worden. Ihr Vordringen auch auf Reichstagssitze sei so stark gewesen, daß sich in der Partei eine antisemitische Stimmung gebildet habe. Die Gewerkschaften hätten sich von Juden freigehalten, die Genossenschaften hätten sich so gut wie es ging verschlossen. Der stillen Ablehnung ungeachtet sei die Zahl der Juden in führenden Stellungen angewachsen, zumal aus Rußland und aus Österreich „jüdische Intelligenz“ eingewandert sei. Karl Liebknecht sei das “Kind eines nordischen Vaters und einer jüdischen Mutter“ gewesen. Mit Eisner, Luxemburg, Levine und Landauer habe er das erste Glied „einer ganzen Kolonne jüdischer Revolutionäre“ gebildet, gegen die sich „wütend völkischer Abwehrwille“ erhoben habe. Sie seien die „Begründer einer neuen antisemitischen Bewegung“ geworden, durch die das „Verhältnis der Juden zum öffentlichen Leben“ eine noch nicht bekannte Spannung erhalten habe. Die Sozialdemokratie hätten die Juden gern aufgenommen und unter den Vorwärts-Redakteuren seien „noch zwei oder drei Nichtjuden“ gewesen. Mit der Durchsetzung des Bildungswesens, der Finanzpolitik und „Buch, Bühne, Film“ sei die sozialistische Bewegung 1930 ein jüdisches Einflussgebiet“ gewesen, wie es die Juden in ihrer Geschichte noch nie besessen hätten und womit „ihre Stellung an anderen politischen Orten keinesfalls verglichen werde“ konnte.

“Der jüdische Intellektuelle“ habe zerstören wollen, der sozialistische Arbeiter dagegen verändern: „Der jüdische Intellektuelle war Revolutionär gegen, der sozialistische Arbeiter war Revolutionär für eine bestimmte Lebensordnung. Die auflösende, bildungsfeindliche Tätigkeit des jüdischen Intellektuellen“ sei in der Arbeiterbewegung nirgend mehr auf Schranken und Hemmungen gestoßen. Es sei der „jüdische Sozialist“ gewesen, „der das Nationalbewußtsein als den unwürdigen Rest einer barbarischen Vergangenheit in den Schmutz“ gezogen „und der Verachtung“ preisgegeben habe. Er habe den Gedanken des nationalen Verzichts in die Masse getragen: „Er ist es, der die Masse mit einem fanatischen Haß gegen jede Regung volkhaften Widerstandswillens erfüllt.“ Und er habe die „Glaubens- und Kirchenfeindschaft der sozialistischen Bewegung“ geschürt. Winnig abschließend: „Nur eine Sorte Leben stehe unter besonderem Schutz: das Leben des Minderwertigen und des Verbrechers.“

Ribhegge kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, Winnig habe nur in ein paar Sätzen seine eigene politische Vergangenheit, und dann auch nur indirekt, verurteilt. Zu einem offenen Eingeständnis persönlicher Schuld und eigenem politischen Versagen habe sich der christlich geläuterte Winnig nicht durchzuringen vermocht. 1952 veröffentlichte er eine Neuauflage seiner Europaschrift von 1937, aus der die oben zitierten antisemitischen Erkenntnisse stammen. Die Nachkriegsveröffentlichung enthielt nicht mehr die Ausführungen über die Rolle der Juden. Zu dieser Selbstzensur bemerkte er: „Sie sind heute noch so wahr wie damals. Es ist die Achtung vor dem Schicksal des jüdischen Volkes, die mich bewog, diese Stelle zu entfernen.“

Franz Barth schrieb in seiner 1945 in Stuttgart erschienenen Schrift (Ein Freundeswort von draußen.) „Zur Genesung des deutschen Wesens“: „Man muß einmal damit rechnen, daß wahrscheinlich die übergroße Mehrzahl der deutschen Menschen noch heute faktisch kaum eine Ahnung davon hat, in welchem kollektiven Wahnsinn sie nun so lange gelebt haben, wie groß, wie grundsätzlich und wie berechtigt das Befremden ist, von dem Deutschland umgeben ist, welche Verantwortlichkeit sie auf sich genommen haben, indem sie einst Bismarck, dann Wilhelm II. und nun endlich und zuletzt Adolf Hitler Nachfolge geleistet und Alles, was ihnen befohlen wurde, willig und geduldig getan haben – keine Ahnung besonders auch von dem Ausmaß des Schreckens und Abscheus, mit dem der deutsche Name in diesen letzten zwölf Jahren umgeben worden ist. Es wird schwer halten, mit ihnen auch nur dahin zu kommen, daß sie wenigstens die Tatsachen sehen und als solche gelten lassen. (…) Man muß weiter mit dem geschichtsphilosophischen Tiefsinn der Deutschen rechnen:

Sie lieben es überaus, sich bald als die Vollstrecker, bald auch als die Opfer großer, schicksalsmäßiger geschichtlicher Notwendigkeiten zu verstehen, und es ist klar, daß es ihnen auch von da aus schwer fallen wird, endlich einmal recht nüchtern zu werden, sich zu einem verantwortlichen Denken, zu gesunden Einsichten und zu wirklich freien Entscheidungen aufzuraffen. Und man muß endlich mit dem religiösen Tiefsinn der Deutschen rechnen, der der Anerkennung eigener konkreter Schuld allzu gerne damit ausweicht, daß er auf die große Wahrheit hinweist, vor Gott seien schließlich alle Menschen und Völker gleich schuldig und gleich sehr der Vergebung ihrer Sünden bedürftig, aus der kühn der Schluß gezogen wird, daß eine besondere deutsche Buße offenbar nicht nötig und durchaus nicht angebracht sei.“

1957 wurde die Vienenburger Realschule (im Beisein von Friedrich A. Knost) nach August Winnig benannt. Nach dem Krieg lebte er bis zu seinem Tod in Vienenburg. Er war auch Autor einschlägiger antisemitischer Schriften: Ein Antisemit als Namenspatron einer Schule!

Über vierzig Jahre lang ehrte die Schule ihren Namensgeber und schenkte Schülern mit guten Leistungen seine Bücher als Belohnung, die auch noch nach 1945 erschienen. Die Schule ist nach der Entdeckung seines Antisemitismus – nicht seitens der Schule, sondern durch mich – und einer langen öffentlichen Diskussion 2004 durch den Stadtrat schlicht in Realschule Vienenburg umbenannt worden.

In Winnigs Geburtsort Blankenburg erhielt die nach einem von den Nazis ermordeten kommunistischen Arbeiter benannte Straße nach der Wende Winnigs Namen.