5. Prozesstag


„7. Januar 1947.
Die Befragung Pierre Verhaegens zu seinen vorausgegangenen Aussagen wird durch die Rechtsanwälte Will, Giffhorn und Peters weitergeführt.
Camu hat zuerst im Arbeitskommando Staatsbahn gearbeitet. Nach einem Zwischenaufenthalt im Lazarett kam er dann in die Tischlerei. Anschließend arbeitete er in der Kolonne, die den Beton anmischte und danach im Labor. Ich habe mich mit ihm oft unterhalten. Nach dem Tod meines Vaters besuchte er mich fast jeden Abend im Lazarett, über seine Arbeit sprach er nicht viel. Er beschrieb seine Arbeit im Labor als viel leichter als die Außenarbeit. Ihn störten allerdings die Dämpfe der chemischen Prozesse, an denen dort gearbeitet wurde.
Er sagte, seine Krankheit sei das Resultat seiner Arbeit im Labor. Er mußte dort hauptsächlich die Gefäße reinigen, über die Behandlung durch die dort arbeitenden Zivilisten hat er mir nichts erzählt, aber auch nicht darüber, daß sie ihn dort mit Herr Camus angeredet und zur Begrüßung die Hände geschüttelt haben. Hefter bin ich mehrere Male begegnet. Einmal hat er mich aus dem Labor rausgeschmissen. An das genaue Datum dieses Vorfalls kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich wollte, wie ich schon sagte, mich dort aufwärmen. Nein, an dem Tag hatte es nicht gefroren. Es war uns verboten, unsere Arbeitsplätzen zu verlassen. Alles war verboten, sogar das Überleben.
Ich erinnere mich nicht daran, dass am Eingang ein Schild mit der Aufschrift „Eintritt verboten“ hing. Der Aufbau der Ölgewinnungsanlage mag für Deutschland wichtig gewesen sein. Für uns war keine Arbeit wichtig, auch nicht, wenn Ölmangel herrschte. Handtücher gab es ganz sicher nicht. Ich kann nicht bestätigen, daß es während meines Aufenthaltes im Lazarett in anderen Blocks Handtücher gegeben haben soll. Dafür weiß ich aber genau, daß es sie im Lazarett für die 120 Patienten nicht gab.
In der Gruppe, mit der ich nach Schandelah kam, gab es nur einen Kapo: Schmidt. Hans und Grosse wurden erst nach unserer Ankunft zu Kapos ernannt. Die Kapos, die deutsche Kriminelle waren, hießen: Grosse, Spinrath, Hans aus Block 2, Georg Adler aus Block 3, Schmidt und Otto Klein von Block 2. Adler arbeitete in der Schmiede, später wurde er Blockältester von Block 3. Er wurde versetzt, weil er den Zivilisten Pfeifer geschlagen hatte. Spinrath war zunächst Vorarbeiter, dann Kapo und dann das schlimmste Ungeheuer des Lagers. Ich weiß nicht, wer die Kapos ernannte. Die Kapos aber suchten sich die Männer für die Mafia aus. Ich hätte auch Mitglied der Mafia werden können, wenn ich zu homosexuellen Kontakten bereit gewesen wäre. Als ich im Lazarett lag, mußte ich die Annäherungsversuche eines Tschechen abwehren. Er gab mir Brot, Marmelade und andere Dinge.
Ich habe einen der Sanitätshelfer mit jungen Männern im Bett gesehen. Spinrath hatte sich zwei junge Belgier ausgesucht. Einer von ihnen wurde Chef der Ölschiefer-Kolonne und erhielt so viel Essen, wie er wollte. Dieser junge Belgier sprach von sich aus darüber. Er hatte jedes Gefühl für Moral verloren. Später hatte Spinrath noch einen Russen. Ihm verschaffte er Arbeit in der Zivilistenküche, wo er es so gut hatte, wie es nur sein konnte. Er besaß sogar eine Armbanduhr, war gut gekleidet und hatte genug Zigaretten. Es gäbe Hunderte ähnlicher Fälle. Ebsen hatte die vollständige Macht über unser Leben und Tod. Er hielt uns wohl für Tiere. Den Gummiknüppel, mit denen er Gefangene prügelte, hatte er nicht immer bei sich. Daß man ihn Papa Ebsen genannt haben soll, ist mir unbekannt.
Einige von uns hatten sich Messer angefertigt, weil Gefangene wegen des Besitzes der Messer verprügelt worden waren, schmissen wir sie wieder weg. Nur die Tischältesten hatten Messer zum Schneiden des Brotes. Manchmal brachten Gefangene Heizmaterial zum Lazarett, um eine extra Portion Suppe zu bekommen. Wir haben den Zivilisten mehr Heizmaterial geklaut, als sie sich jemals vorgestellt haben. Die durch Strom getöteten Gefangenen sind alle nachts verunglückt. Wenn die Suchlichter ausgeschaltet waren, war es stockdunkel. Sie wurden ausgeschaltet, wenn ein Luftangriff auf Braunschweig befürchtet wurde. Die meisten Gefangenen blieben während eines Luftalarms in ihren Betten liegen. Die Verantwortung für die schlechte Verpflegung lag hauptsächlich bei denjenigen, die das Essen auf die Blocks verteilten und bei den Blockältesten, die das in den Baracken erledigten. Sie waren immer in der Lage, sich und Freunde gut zu bedienen. Jeden Tag wurden im Lager mehr Lebensmittel angeliefert, als bei uns Gefangenen ankam. Die Kapos erhielten ihr Essen nicht in gesonderten Behaltern. Sie konnte ohne weiteres zur Küche gehen, sich dort bedienen oder hatten noch andere Möglichkeiten, sich zu versorgen. Ich habe gesehen, wie Fleisch von Kapos aus den Behältern entnommen wurde.
Die Patienten im Lazarett bekamen besonderes Essen, wahrscheinlich hatte Napp dafür gesorgt. Die Schwerkranken erhielten manchmal Milch. Viele hätten gern geraucht. Sehr oft wurden Zigaretten gegen Essensrationen eingetauscht. Einige Männer waren so süchtig, daß sie hemmungslos wurden. Einige Gefangene wurden krank vor Hunger, weil sie zu oft ihr Essen gegen Zigaretten eingetauscht hatten. Ich habe nie jemanden onanieren gesehen. Sexualität hatte nur unter den Mitgliedern der Mafia eine Bedeutung. Der normale Gefangene war so geschwächt, daß er keine sexuellen Bedürfnisse mehr hatte.
Pierre Verhaegen antwortet auf Nachfragen des Gerichts und des Staatsanwalts, Major Drumgoole:
Nach meiner Festnahme bin ich nie angeklagt oder vor Gericht gestellt worden. Ich habe nie mit einem Rechtsanwalt gesprochen und auch keine Begründung für meine anhaltende Gefangenschaft erhalten. Ebenso war es meinem Vater und den anderen belgischen Gefangenen ergangen. Wir haben nur mit der Gestapo zu tun gehabt und nur sie wußte, wohin wir verschleppt worden waren. Der Ungar-Franzose mußte das Lazarett verlassen, weil er Spinrath melden wollte. Er hatte sich geweigert, Spinraths Mord an einem Russen, dem er zwischen die Beine getreten hatte, mit vertuschen zu helfen.
Adler hat einmal einen Zivilisten geschlagen, der einen Gefangenen denunzieren wollte, weil er Heizmaterial mit ins Lager nehmen wollte. Ich habe mit Marcel, einem Belgier, sprechen können, nachdem er auf der Flucht ergriffen und wieder ins Lager zurück gebracht worden war. Über ihn wurde die Todesstrafe verhängt, weil er auf seiner Flucht Essen gestohlen hatte. Ich kann bestätigen, daß gegen ihn kein Gerichtsverfahren durchgeführt worden war, bevor er zum Erhängen nach Neuengamme zurückgebracht wurde. Die SS-Männer trugen eine Uniform mit schwarzen Lederstiefeln, einen Mantel, wollene Kopfschützer und Handschuhe, viele trugen Ledermäntel der Art, wie Wittig jetzt einen anhat. Das Spülwasser aus der Küche wurde in der Erde vergraben, damit es Gefangene nicht essen konnten. Hungrig aussehende Zivilisten habe ich nicht gesehen, sie sahen alle gut genährt aus.
Aussage des Zeugen Albert Gorsler gegenüber dem Staatsanwalt:
Ich heiße Albert Gorsler und wohne in der Maschstraße in Braunschweig. Ich bin 1982 geboren und von Beruf Kaufmann. Im April 1944 wurde ich von der Firma Steinöl eingestellt. Zu meinen Aufgaben gehörte der Einkauf der Materialien, für die besondere Genehmigungen erforderlich waren. Mein Büro befand sich zunächst in Braunschweig, danach ab Juli 1944 im Dorf Schandelah. Mitte Februar 1945 zogen wir um in die Verwaltungsbaracke auf der Baustelle in Wohld.
Wittig war der leitende Direktor der Firma. Ein eigenes Büro hatte er nicht. Er war mal hier, mal da. Auf die Baustelle kam er anfangs nicht sehr oft. Seit der Aufnahme der Produktion hielt er sich ab Oktober zwei bis drei Mal pro Woche im Lager auf. Ich wußte, daß die bei uns arbeitenden Gefangenen aus Neuengamme kamen und von der Firma Steinöl besorgt worden waren. Ende April hatte mir entweder Wittig oder Ohlen die Ankunft der Zwangsarbeiter angekündigt. Ich erhielt den Auftrag, Unterkünfte zu besorgen und die Verpflegung zu organisieren. Dieses erforderte eine enge Zusammenarbeit mit der Braunschweigischen Landesregierung, der ich die Zahl der erwarteten Gefangenen mitteilen mußte. Zunächst erhielt ich eine pauschale Menge an Lebensmitteln. Da wir angesichts der schweren Arbeit der Meinung waren, daß die Verpflegung nicht ausreichte, beantragten wir Schwerarbeiterzulagen, die aber erst nach drei Wochen genehmigt wurden. Diese Zulagen haben wir vollständig an die Gefangenen weitergeleitet. Im Zeitraum vom 6. bis zum 21. Mai 1944 erhielten wir für 128 Personen die folgenden Lebensmittel (ohne Schwerarbeiterzulagen):
1032 kg Mehl, 46,4 kg Margarine, 76 kg Fleisch, 16 kg Pferdefleisch, 14,4 kg Butter, 5,4 kg Schmalz,,30,8 kg Käse, 43,9 kg Zucker, 42,7 kg Marmelade, 49,6 kg Hafer und Graupen, 25,7 kg Nudeln, 48 kg Roggen, 40 kg Erbsen.
Kartoffeln und Kohl bezogen wir von der lokalen Bauerngenossenschaft: 8 Pfund pro Woche und Mann. Daneben kauften wir Mohrrüben und Runkelrüben jeweils in größeren Mengen ein. Die Brotration für jeden Gefangenen betrug zwischen 400 und 450 Gramm pro Tag. Da ich nicht genügend Zucker erhielt, kaufte ich 250 kg eines besonderen Süßstoffes ein. Auch Tee habe ich eingekauft. Die Wurst war in der Fleischmenge enthalten. Das mir vorliegende Beweisstück E ist einer der Küchenzettel, die jede Woche aufgestellt wurden:
Küchenwochenzettel vom 15.5. – 21.1944.
Montag, 15.5.: morgens: Kaffee, mittags: Kartoffelsuppe, abends: Brot mit Margarine und Marmelade bestrichen.
Dienstag, 6.5.: morgens: Kaffee, mittags: Steckrübensuppe, abends: Brot mit Margarine bestrichen.
Mittwoch, 17.5.: morgens: Kaffee, mittags: Pellkartoffeln mit Senfsoße, abends: Brot mit Wurst und Margarine bestrichen.
Donnerstag, 18.5.; morgens: Kaffee, mittags: Erbsensuppe, abends: Brot mit Käse und Margarine bestrichen.
Freitag, 19.5.: morgens: Kaffee, mittags: Graupensuppe, abends: Brot mit Wurst und Margarine bestrichen.
Sonnabend, 20.5.: morgens: Kaffee, mittags: Pellkartoffeln mit Sauerkraut, abends: Brot mit Margarine bestrichen.
Sonntag, 21.5.: morgens: Kaffee, mittags: Nudelsuppe mit Fleischeinlage, abends: Milchsuppe und Brot mit Wurst und Margarine bestrichen.
Die Unterschriften auf dem Küchenzettel stammen von Jauch und Ohlen. Dieses Essen war für Schwerarbeiter nicht ausreichend. Am 20. Mai erhielt ich zusätzliche Rationen, die ich dem damaligen Lagerführer Jauch schickte. Ich habe an einer Konferenz mit SS-Offiziellen teilgenommen, in der zwischen dem Konzentrationslager Neuengamme und der Firma Steinöl eine Vereinbarung über den Einsatz von KZ-Gefangenen auf unserer Baustelle in Wohld getroffen wurde. Dieses Dokument ist das Beweisstück D und ist von mir unterschrieben. Wittig und Ohlen haben diese Vereinbarung akzeptiert. In der Vereinbarung wurden die folgenden Punkte festgelegt:
Das K.L. Neuengamme bezw. Außenlager Schandelah stellt die für Steinöl G.m.b.H. benötigten bzw. dem Lager zur Verfügung stehenden Häftlinge gegen eine Vergütung von RM 6,- pro Tag für Facharbeiter und RM 4,- pro Tag für Hilfsarbeiter.
Die Vergütungssätze von RM 6,- bezw. RM 4,- pro Tag sind lt. SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt Berlin festgesetzte Sätze. Sollten die Sätze vom SS-WVHA geändert werden, so treten jeweils die vom SS-WVHA neu festgesetzten Vergütungssätze in Kraft. Zu zahlen sind sämtliche Häftlinge, auch diejenigen, welche zur Instandsetzung des Häftlingslagers, der Bekleidung, wie Schuster und Schneider sowie Küchenpersonal und Krankenpfleger eingesetzt sind. Für den internen Lagerbetrieb dürfen bis zu 5% der Gesamt-Lagerstarke beschäftigt werden.
Die Bewachung der Häftlinge erfolgt durch SS-Angehörige des K. L Neuengamme bezw. des Außenlagers Schandelah.
Die ärztliche Betreuung der Häftlinge erfolgt durch den Lagerarzt Neuengamme bezw. dessen Beauftragten im Arbeitslager Schandelah, Herrn Dr. Zschirpe, Schandelah.
Verpflegung der SS-Wachmannschaften und Häftlinge:
Die Verpflegung der SS-Wachmannschaften und Häftlinge erfolgt durch das K.L. Neuengamme bzw. Arbeitslager Drütte ab 22.5.44 und ist wöchentlich durch einen LKW der Steinöl G.m.b.H. in Drütte in Empfang zu nehmen.
Unterkunft für SS-Wachmannschaften und Häftlinge:
Unterkunft mit elektr. Licht und Wasseranschluß sowie Heizung für die SS-Männer und Häftlinge ist kostenlos durch die Steinöl GmbH zu stellen. Evtl. erforderliche Entwesungen der Unterkünfte gehen zu Lasten der Steinöl-G.m.b.H.
Einrichtung, Unterhaltung, Abgaben usw. der Unterkünfte für SS-Männer und Häftlinge:
Die Einrichtung der Unterkünfte, sowie Küchen und Revier mit sämtlichen Küchen- und Reviergeräten sowie Unterkunftsgeräte, Bettwäsche, Decken, Essgeschirre, Heizung usw. für SS-Männer und Häftlinge haben die Steinöl-G.m.b.H. kostenlos zur Verfügung zu stellen. Unterhaltung und bauliche Reparaturen gehen zu Lasten der Steinöl. Ausserdem sind sämtliche erforderliche Verbrauchsmittel zur Unterhaltung der Unterkünfte wie Besen, Schrubber, Putzlappen, Reinigungsmittel usw. durch die Steinöl zu liefern.
Reinigung, Entlausung der Unterkunftswäsche und Häftlingsbekleidung:
Die Reinigung der Unterkunfts- und Häftlingsbekleidung hat durch die Steinöl G.m.b.H. zu erfolgen. Die erforderlichen Waschmittel sind von einer Vertragswäscherei der Steinöl zu stellen.
Reinigung der Leibwäsche der SS-Angehörigen:
Die Reinigung der Leibwäsche geht zu Lasten des K. L. Neuengamme. Die Reinigung erfolgt durch eine Vertragswäscherei der Steinöl.
Die erforderlichen Bezugscheine für Waschmittel sind von der Steinöl zu beantragen. Die Waschmittel und Reinigungskosten werden aufgrund der vorzulegenden Rechnungen vom K.L. Neuengamme bezahlt. Die Fahrzeuge für Wirtschaftsfahrten wie Abholung von Verpflegung usw. sind von der Steinöl kostenlos zu stellen. Vorstehende Vereinbarungen gelten als vorläufig vereinbart und erfolgt die endgültige Bestätigung der betroffenen Abmachungen durch den Lagerkommandanten des K.L. Hmb.-Neuengamme. Der Leiter der Verwaltung des Konzentrationslagers Neuengamme. gez. Unterschrift: SS-Hauptsturmführer“

Prozessakten, Public Record Office, London (Übersetzung der englischen Originale durch J.K.)