Machtübergabe II


Fortsetzung “Machtübergabe“

Und wiederum fanden „Sistierungen“ bei Kommunisten und Mitgliedern des Reichsbanners und seiner Nebenorganisationen statt: Bei einem KPD-Mitglied stieß die Polizei nun auf „eine Leihbücherei“ mit 25 Bänden, die „Aufklärungsbücher für die Revolution und Bürgerkrieg“ enthielt, die die „Leser zu Übergriffen aufputschen und sie über die Revolution unterrichten“ sollten. In WF-Linden nahm die „Polizei“ 10 KPD-Mitglieder in Schutzhaft, darunter den Gemeindevorsteher Fricke. Der schon vor kurzem verhaftete KPD-Stadtverordnete Rönnicke, der auf Anordnung Bürgermeisters Eyferth wieder entlassen worden war, mußte wieder zurück ins Gefängnis. Gleichzeitig berichtete die BTZ, er habe sein Stadtverordneten-Mandat „niedergelegt und sei aus der KPD ausgetreten“. In der Auguststadt durchsuchte die SA-Hilfspolizei erneut Wohnungen und nahm 15 Männer und eine Frau fest. Bei ihnen, die Lokalzeitung veröffentlichte u. a. die Namen der beiden Kommunisten Richard Liebold und Stöter, fanden die rechten Revolutionäre angeblich „einen Karabiner, 75 Schuß Infanterie-Munition und 35 Schuß Pistolenmunition, eine Armeepistole und einen selbst angefertigten Sprengkörper.“

Einen besonderen Ehrgeiz entwickelte die SA bei der Suche nach einer wertvollen Fahne der KPD. Dieses Tuch hatten die Wolfenbütteler Kommunisten im September 1924 von „russischen Bauern und Arbeitern“ gestiftet bekommen und feierlich geweiht. Die Nazis hatten es nun besonders auf diese Fahne abgesehen, die sie unbedingt in ihre Finger bekommen wollten. Bei der Durchsuchung einer Wohnung in Linden fanden sie leider nur die Fahnenstange; dafür nahmen sie alle Teilnehmer einer angeblichen geheimen KPD-Versammlung fest, auf der sich die Kommunisten über die Erfolglosigkeit der Nazis lustig gemacht haben sollen. Möglicherweise durch undichte Stellen in der KPD war die Nazi-Polizei eine Woche später erfolgreich: Sie fand die Fahne versteckt im Hühnerstall eines Arbeiters in Sottmar. Sie vernichteten die Fahne nicht, wie man angenommen hätte, sondern übergaben sie dem später eingerichteten Gauarchiv der NSDAP in Hannover, in dem es ein spezielles Zimmer über die KPD gab und sie einen Platz zwischen „Briefen von Liebknecht und Zetkin“ und anderen Trophäen aus dem Kampf gegen die KPD fand; das Gauarchiv wurde bei dem Luftangriff auf Hannover im Oktober 1943 fast vollständig vernichtet.

Wer hatte schon Hitlers „Mein Kampf“ gelesen, dieses schier unlesbare Gemenge von Anleitungen zur Unterdrückung Andersdenkender? Einige der Wolfenbütteler Nazis werden es sicher getan haben und hielten sich an die Anweisungen ihres Führers zur Anwendung von Gewalt: „Tatsächlich führen aber fast sämtliche Versuche, durch Gewalt ohne geistige Grundlage eine Lehre und deren organisatorische Auswirkung auszurotten, zu Mißerfolgen, ja enden nicht selten gerade mit dem Gegenteil des Gewünschten aus folgendem Grunde: Die allererste Voraussetzung zu einer Kampfesweise mit den Waffen der nackten Gewalt ist und bleibt die Beharrlichkeit. Das heißt, daß nur in der dauernd gleichmäßigen Anwendung der Methoden zur Unterdrückung einer Lehre usw. die Möglichkeit eines Gelingens der Absicht liegt. Sobald hier aber auch nur schwankend Gewalt mit Nachsicht wechselt, wird nicht nur die zu unterdrückende Lehre sich immer wieder erholen, sondern sie wird sogar aus jeder Verfolgung neue Werte zu ziehen in der Lage sein, indem nach Abflauen einer solchen Welle des Druckes die Empörung über das erduldete Leid der alten Lehre neue Anhänger zuführt, die bereits vorhandenen aber mit größerem Trotz und tieferem Haß als vordem an ihr hängen werden, ja schon abgesplitterte Abtrünnige wieder nach Beseitigung der Gefahr zur alten Einstellung zurückzukehren versuchen. In der ewig gleichmäßigen Anwendung der Gewalt allein liegt die allererste Voraussetzung zum Erfolge. (…) Sie ist der Ausfluß der jeweiligen Energie und brutalen Entschlossenheit eines einzelnen, mithin aber eben dem Wechsel der Persönlichkeit und ihrer Wesensart und Stärke unterworfen.“ (Mein Kampf, Seite 188)

Zwar verkündete Dietrich Klagges, der sich mit den demokratischen Titeln eines braunschweigischen Innenministers und Ministerpräsidenten umgeben durfte, am 23. März eine Warnung, mit der er einzelne Nazis vor Aktionen warnte: „Niemand ist befugt, Einzelaktionen irgendwelcher Art ohne ausdrücklichen Auftrag der zuständigen Behörde durchzuführen. Wer diese selbstverständliche Disziplin nicht wahrt, gefährdet den Sieg der nationalen Revolution und ist als deren Feind zu betrachten. Er handelt überdies ungesetzlich und hat strenge Bestrafung zu gewärtigen.“ Dennoch wurde – ungesetzlich im Sinne der Reichsverfassung, weitergemacht, die Anhänger der „zu unterdrückenden Lehre“ einzuschüchtern, abzusetzen, zu mißhandeln oder einzusperren.

Die von der sozialdemokratischen Landtagsfraktion noch vor dem Amtsantritt Hitlers einge-brachte Große Anfrage mit der Aufforderung an Klagges, seine politischen Verbrecher zu verfolgen, bügelten die Nazis mit genau dem Gegenteil ab. Die erste Landtagssitzung seit drei Monaten war auf den 14. März angesetzt worden. Über die Stimmung vor der Sitzung draußen auf dem Platz zwischen Martinikirche und Landtagsgebäude berichtete die WZ am nächsten Tag: „Man sah dieser Tagung im ganzen Lande und wohl auch darüber hinaus mit besonderem Interesse entgegen. Die Frage, ob die SPD auch nach der inzwischen eingetretenen Wendung im deutschen Schicksal ihre Große Anfrage über die Verfolgung des politischen Verbrechertums und ihren Dringlichkeitsantrag auf Entlassung des Polizeipräsidenten und des Polizeikommandeurs noch vertreten würde. Geschah das, dann war mit einer stürmischen Sitzung zu rechnen, und daran teilzunehmen trugen die vielen Hunderte Verlangen, die den Eiermarkt, obschon er im Bannkreis liegt und Ansammlungen dort nicht geduldet werden dürfen, schon seit den frühen Morgenstunden besetzt hielten. Die Polizei, die stark vertreten war, ließ diesmal Nachsicht walten – auch dann noch, als um zehn Uhr der Spielmannszug und die Kapelle der SA-Standarte 49 vor dem Gebäude des Bauamts Aufstellung nahm und einige Märsche spielte.“ In dieser hochgeputschten Atmosphäre hatte es die SPD-Fraktion vorgezogen, der Sitzung fernzubleiben. Parlamentspräsident Zörner, dessen NS-Abgeordnete alle in Uniform erschienen waren, las die Erklärung der Sozialdemokraten vor: „Die sozialdemokratische Fraktion des Landtages lehnt es ab, an der heutigen Sitzung des Landtages teilzunehmen. Zur Begründung weisen wir auf die zahlreichen Terrorakte hin, die sich in den letzten Tagen zugetragen haben und denen auch Mitglieder des Landtages ausgesetzt gewesen sind. Eine sachliche Verhandlung halten wir unter diesen Umständen für ausgeschlossen.“

Dietrich Klagges‘ bürgerlicher Mitminister Küchenthal gab in der folgenden Beratung der Ablehnung der Anfrage eine pseudorechtliche Grundlage: „Eine Anweisung an die Polizei und die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung politischer Verbrechen sei nicht notwendig, denn die gesamten Behörden seien nach den Gesetzen zur Verfolgung des Verbrechertums verpflichtet. Diese Verpflichtung sei stets auch mit anerkannter Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit erfüllt worden.“ Einfügung des Autors: Am Tag vor der Verhaftung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Dr. Heinrich Jasper entließ die Staatsanwaltschaft die SS-Männer Naumann und Lemke aus dem Gefängnis. Sie waren im Zusammenhang mit Bombenanschlägen auf Arbeiterwohnungen inhaftiert worden. Die Freilassung begründete die Behörde mit der Anordnung der Reichsregierung, „dass Straftaten, die aus nationalen Beweggründen begangen worden sind, nicht weiter verfolgt werden sollen.“

Nach Küchenthal sprach der Abgeordnete Alpers, der am 11. März die ersten große Beschmierung und Zerstörung von Schaufenstern und Inventar „jüdischer Geschäfte“ in Braunschweig organisiert hatte. Er meinte, in der Tat müsse gegen politisches Verbrechertum gehandelt werden: „Seit man 1918 Landesverrat und Treuebruch zur Grundlage eines neuen Staates und einen Landesverräter zum Präsidenten gemacht habe, seien Verbrechen über Verbrechen begangen worden. Auch in unserer engeren Heimat hätten marxistische Führer die Anfänge eines gesunden Wiederaufbaues unmöglich gemacht. Aus den Ministerien und Ämtern müßten Marxisten und Menschen undeutscher Abstammung verschwinden.“

Für die bürgerliche Gemeinschaftsfraktion sprach Dr. Roloff. Er unterstützte die nationalsozialistische Auffassung, übte aber auch noch etwas Kritik an dem Überfall auf die „jüdischen Geschäfte“: „Es ist selbstverständlich, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um uns vor der drohenden Gefahr einer Bolschewisierung zu schützen. Die schwerste Unterlassungssünde der sozialdemokratischen Regierungen im Reiche und in den Ländern besteht darin, dass sie um einer schikanösen Bekämpfung der nationalen Bewegung willen die Gefahr der Bolschewisierung geflissentlich übersehen haben.“ Für die Bürgerlichen vertrat er die Meinung, ein neues Deutschland könne nur auf dem Wege strengster autoritärer Führung, strengster Disziplin und Wahrung strengster Ordnung „erwachsen“ werden: „Ausschreitungen, wie sie in den letzten Tagen stattgefunden haben, Schaufensterstürme und dergleichen, können wir nicht billigen, sondern wir mißbilligen sie aufs schärfste, und wir erwarten von allen, die wirklich der nationalen Bewegung mit Erfolg und für die Zukunft dienen wollen, dass sie sich von derartigen Dingen nicht nur fernhalten, sondern dass sie alle diejenigen festzustellen suchen, die etwa als Provokateure derartige Dinge heraufbeschwören.“ Damit meinte er eindeutig Alpers und vertrat auch die Position seines gemäßigten Partners, des Wolfenbütteler Verlegers Heinrich Wessel. Die Kritik verpuffte jedoch als laue Pflichtübung. Alpers, der als zum Gärtner gemachter Bock schon bald für die braunschweigische Justiz Zuständigkeit erhielt, brachte einen Antrag ein, den das Scheinparlament ohne Aussprache annahm. „Der Landtag billigt das erfolgreiche Bestreben des Staatsministeriums, Disziplin und Ordnung im Land Braunschweig zu wahren, marxistischem, politischen Verbrechertum entschieden entgegen zu treten und unsaubere Elemente in der gesamten Staats- und Kommunalverwaltung nicht zu dulden.“

Unter der Rubrik „Kurzberichte“ und versteckt zwischen Hinweisen, dass Hakenkreuze auf Postsendungen erlaubt seien und der Reichsinnenminister die Landesregierungen ersuche, die Vorbereitungen zur Jugendweihe zu verbieten, fand sich noch eine fünfzeilige Meldung mit weitreichender Bedeutung: „Polizeipräsident Himmler teilt mit, dass in der Nähe von München, in Dachau, das erste Konzentrationslager mit einem Fassungsvermögen von 5000 Menschen eröffnet werde. Hier werden die gesamten marxistischen Funktionäre unterge-bracht.“

Der gewaltsame Exzeß gegen alle Andersdenkenden konnte also mit Unterstützung der gemäßigten Bürgerlichen weitergehen. Und er ging weiter: In der Nacht von Samstag zu Sonntag, vom 18. zum 19. März , nahm die Hilfspolizei Dr. Heinrich Jasper fest, als er gegen zwei Uhr ein Restaurant verließ. Im Volksfreundehaus erlitt der 58jährige eine brutale Folterung: „Er wurde mit Schlagwerkzeugen schwer mißhandelt. Ihm wurden eine Anzahl Zähne völlig ausgeschlagen, andere stark beschädigt, so dass er Wochen hindurch keine festen Speisen essen konnte. Das durch die Mißhandlungen ausgetretene Blut bildete auf dem Fußboden große Lachen, die Dr. Jasper unter vorgehaltener Pistole selbst beseitigen mußte. Unter allerlei Verhöhnungen wurde ihm von SS-Leuten der Bart abgeschnitten. Schließlich wurde eine Pistole in Reichweite Dr. Jaspers mit den Worten niedergelegt: „Gnade Dir Gott, wenn Du noch lebst, wenn wir wiederkommen!“ Dr. Jasper lehnte es indessen ab, sich zu erschießen.“ Im Dezember 1933 verurteilte ihn das Braunschweiger Amtsgericht wegen eines angeblichen Verstoßes gegen den Paragraphen 15 der Steuergemeindeverordnung zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe.

Dr. Heinrich Jasper starb nach Aufenthalten in mehreren Gefängnissen und Konzentrationslagern kurz vor Kriegsende an Flecktyphus im KZ Bergen-Belsen. Seine Einsperrung war der Auftakt zur Einkerkerung der führenden Braunschweiger Sozialdemokraten. Fast alle wurden sie gefoltert, bevor sie ins Gefängnis Rennelberg kamen. Braunschweigs Oberbürgermeister Erst Böhme holten die von Klagges beauftragten Gewalttäter, nachdem er bereits aus seinem Amt geworfen worden war, aus seiner Wohnung und brachten ihn ebenfalls ins Volksfreundehaus. Zitat aus dem Protokoll des Prozesses gegen Dietrich Klagges 1950: „Dort wurde er, nachdem sein Körper teilweise entblößt worden war, von mehreren SS-Leuten über eine Truhe geworfen und mit schweren Peitschen solange mißhandelt, bis er bewußtlos wurde. Durch einen Abguß mit kaltem Wasser wurde der Zeuge wieder zur Besinnung gebracht. Darauf setzten die Mißhandlungen in der gleichen Form wie zuvor wieder ein. Insgesamt wiederholte sich dieser Vorgang dreimal. Die Mißhandlungen erstreckten sich nach einer ungefähren Schätzung auf etwa eineinhalb Stunden. Böhme büßte hierbei einige Backenzähne ein und erlitt im übrigen Körperschäden, die in für Monate arbeitsunfähig machten. Im Verlauf der Mißhandlungen forderte Alpers ihn auf, zwei vorbereitete Erklärungen zu unterschreiben. Die eine dieser Erklärungen enthielt den Verzicht auf alle Ansprüche aus dem Beamtenverhältnis, die andere den Verzicht auf das Landtagsmandat. Unter dem Eindruck seines schweren Erlebnisses unterzeichnete Böhme beide Schriftstücke. Böhme überlebte die Nazizeit und amtierte von 1945 bis 1948 erneut als Oberbürgermeister. Ähnliche Brutalitäten erlebten viele politisch engagierte Männer und Frauen; der interessierte Leser kann sie nachlesen, leiht er sich die 177seitige Begründung des Urteils gegen Dietrich Klagges aus dem April 1950 in der Braunschweiger Stadtbibliothek aus.

Am 24. März teilte die WZ mit, fünf sozialdemokratische Landtagsabgeordnete hätten ihre Mandate niedergelegt. Dr. von Frankenberg habe Alpers über seinen Rücktritt informiert und ihn zugleich um Schutz gebeten. Die Zeitung kannte auch die Begründung und würzte den unter Gewaltandrohung zustande gekommenen Text mit dem Hinweis, Frankenberg sei von der SPD ohnehin bereits „kalt gestellt und für die kommende Landtagswahl nicht wieder aufgestellt“ worden. Man habe ihm sogar die Gauführung des Reichsbanners abgenommen. So ähnlich wie von Frankenbergs Begründung lauteten auch die Erklärungen der anderen Abgeordneten: „Unter der Wucht der geschichtlichen Tatsachen und der nationalen Revolution stehend, erkenne ich die Aussichtslosigkeit jeder auch geistigen Gegenwehr an und lege hiermit mein Landtagsmandat nieder. Ich habe gleichzeitig meinen Austritt aus der SPD erklärt.“

Rechtsanwalt Frank, jüdischer Verteidiger linker Angeklagter, erhiet „Schutzhaft“; er flüchtete noch 1933 zunächst nach England. Sein Auto wurde beschlagnahmt und im August 1934 für 310 Mark von der Wolfenbütteler SA gekauft; der Betrag mußte auf ein „Sonderkonto Klagges“ bei der Staatsbank überwiesen werden.

Auch die schärfsten Drohungen konnten nicht verhindern, dass Menschen über die nicht zu verheimlichenden Vorfälle redeten. Wie sie im braunen Wolfenbüttel bewertet wurden, mag die Aussage von Friedrich Smalian beleuchten, der sich damals in der Bündischen Jugend engagierte. Seine Einschätzung der Lage ist in der „Geschichte der Stadt Wolfenbüttel 1914 bis 1933“ veröffentlicht. Lassen wir also Friedrich Smalian sprechen, später Volksschullehrer in Wolfenbüttel: „Bei der Beurteilung unserer Gutwilligkeit gegenüber dem Nationalsozialismus ist auch zu bedenken, dass wir noch an die Gültigkeit demokratischer Spielregeln geglaubt haben, da die Verbrechen gegenüber Funktionären von anderen Parteien und Gewerkschaften sich in dem Prozeß der Konsolidierung des Dritten Reiches über längere Zeiträume hinzogen und erst nach und nach gerüchteweise durchsickerten. Noch lebte der greise Reichspräsident, und der Mord an dem gewesenen Reichskanzler, General Kurt von Schleicher (30. Juni 1934), die Röhm-Affäre usw. hatten noch nicht stattgefunden. Wie hätte man damals diese Vorgänge überhaupt objektiv beurteilen können? Wir hatten doch keinerlei Vorstellungen davon, was Gleichschaltung von Presse und Rundfunk in Wahrheit für uns bedeutete.“ Friedrich Smalian hat Erinnerungen aufgeschrieben, die er aber nicht veröffentlichte. Ein ge-tipptes Exemplar, aus der Sicht des Autors geschönte Aufzeichnungen eines zum Nachkriegsdemokraten gewandelten ehemaligen Mitmachers, bewahrt das Niedersächsische Staatsarchiv in Wolfenbüttel auf. Sie dürfen nur mit großer Vorsicht als Grundlage für die Bewertung der NS-Zeit benutzt werden, wie das folgende Zitat belegt. Darin beschreibt Smalian, wie er als Studienbewerber vom Gauobmann des NS-Lehrerbundes und Staatsrat Schmidt-Bodenstedt zur „Musterung befohlen“ war und danach quasi gezwungenermaßen der SA beitreten mußte:
Schmidt-Bodenstedt: „In welcher nationalsozialistischen Organisation haben Sie bisher Dienst getan?“
Smalian: „Herr Staatsrat, ich habe der Jugendbewegung angehört.“
Schmidt-Bodenstedt: „Welcher Bund?“
Smalian: „Großdeutscher Bund. Sollte ich zum Studium zugelassen werden, so will ich mich um die Mitgliedschaft im NS-Lehrerbund bewerben.“
Schmidt-Bodenstedt: „(laut und ärgerlich): Der NSLB ist überhaupt keine NS-Organisation! (Er meinte wohl eine Kampforganisation). Sie gehen in die SA, verstanden – oder Sie werden nicht Lehrer! (leiser:) Ich werde das überprüfen lassen.“
Smalian: „Darf ich daraus schließen, dass meiner Zulassung nichts anderes im Wege steht?“
Schmidt-Bodenstedt: „Sie dürfen. Ich brauche Sie nicht mehr!“

Smalian wurde „SA-Anwärter beim Nachrichtensturm der SA in Wolfenbüttel“ und beschaffte sich nach und nach die braunen Uniformteile. Den SA-Dienst beschreibt Smalian als lustige Kommißklamotte: „Ein langweiliger Dienst fand des Donnerstags jeder Woche von 20 bis 22 Uhr in der Post statt. Zuerst mußten wir eine Philippika über uns ergehen lassen, was es für eine Schweinerei sei, nicht zum Dienst zu erscheinen. Das war für die bestimmt, die die Schelte nicht hören konnten. Dann wurde geprüft, ob die Messingknöpfe richtig blank, die Stiefel geputzt und auch vollzählig mit Pinnen versehen waren. Wenn nun auch noch die Namen verlesen und die Lautstärke des „Hier-Rufens“ zur Zufriedenheit ausgefallen war, durfte zu einer „Zigarettenlänge Pause“ weggetreten werden. Das dauerte so ungefähr 15 bis 20 Minuten, da man klönend umherstand. Nach der Pause wurde Strippenziehen, der Mastwurf, Klappenschrankvermittlung und Umgang mit dem Feldfernsprecher geübt. Um Viertel vor 22 Uhr begann der Abbau überaus gekonnt, so dass uns der Oberscharführer Genter noch vor 22 Uhr entlassen konnte. Er wollte sicherlich auch nach Haus, und ich bin nicht so sicher, ob ihm das Soldatenspiel selbst wirklich Freude machte.“
Offenbar ein wirklich sinnloser SA-Dienst, von dem keinerlei Gefahr für Andersdenkende ausging und dessen Führer lieber zu Hause gewesen wäre: Wo waren die brutalen Nazis, als Smalian in Wolfenbüttel Nazi nur spielte?

Gegenüber dem Autor, der ihn ergebnislos mit der Hoffnung anrief, etwas über den jüdischen Kaufmann Werner Ilberg zu erfahren, äußerte er sich über die Stimmung nach dem 30. Januar: „Die Menschen waren nicht mehr krumm, mißmutig; plötzlich hatten sie ein Korsett. Wir hatten den Kopf wieder oben, es war wieder etwas los.“ Zu Hitler: „Mein Kampf, das waren doch Emotionen, die er da losgelassen hat: Es wird nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird. Arbeit und Brot hat er uns versprochen, er hat doch alles versprochen und hat auch manches gehalten: Wir haben uns blenden lassen. Das Verrückte ist doch dieser Rassenspleen gewesen, das wir rechtzeitig hätten merken müssen. Das haben wir beiseite geschoben und haben gedacht: Wir haben so viele Regierungen gehabt, probieren wir es mal mit denen. Die Entwicklung mit Konzentrationslagern war nicht vorherzusehen, man hat den Mann ja auch nicht ernst genommen. 33 kamen zunächst diese äußeren Dinge: Autobahnen, Kraft durch Freude, das hat uns allen doch zunächst gefallen. Die NSDAP war eine starke Organisation: Wir hatten eine Revolution. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Denkt mal an die französische Revolution.“ 1898 hat das Volk in Frankreich, so erinnert sich der Autor, den in Saus und Braus lebenden Adel verjagt. Doch diejenigen, denen Smalians SA-Kameraden die Köpfe blutig schlugen und sie sogar umbrachten, waren keine Luxusmenschen, sondern Arbeiter, die täglich ihren Lohn erschuften mußten. In Dettum, wo die SA-Hilfspolizei in die Wohnungen der Sozialdemokraten einfiel und Druckschriften und die Parteifahne beschlagnahmten, lebte 1933 kein schmarotzender Adel.

Kreisdirektor Hinkel berichtete dem Innenministerium, dass im Landkreis Wolfenbüttel „381 polizeiliche Hilfskräfte zur Unterstützung der Polizei herangezogen sind und dass diese Kräfte zu der Polizei in dem Prozentsatz 6,25 zu 1 stehen“. Kaserniert waren diese Männer, dessen Namen weitgehend in Akten des Staatsarchivs vermerkt sind, in der Klosterstraße in den Räumen der ehemaligen weltlichen Schule, wohin sie auch Festgenommene verschleppten und mißhandelten. Eine Liste enthält 29 Namen von SS-Männern, die unter dem Kommando des SS-Sturmführers Josef Keppels standen.

Während SA- und SS-Männer unter Andersdenkenden und Juden Angst und Schrecken verbreiteten, feierten sie die Siege ihrer Brutalität mit Musik und Tanz. Immer wieder war die Gaststätte Antoinettenruh der Ort dieser Feierlichkeiten: Nach einem Werbemarsch durch die Stadt besetzten die Nazi-Schergen mit ihren Angehörigen das Lokal bis auf den letzten Platz und lauschten der zackigen Musik der SA-Kapelle, dirigiert von Heinrich Pinkernelle. Dabei auch Pastor Teichmann, der die Versammelten auf die neue Zeit einstimmte: „Ich freue mich, daß jetzt, nach der Bildung der nationalen Regierung unter der Führung unseres Führers Adolf Hitler alle Hemmungen entfallen sind, die Geistliche von der NSDAP ferngehalten haben. Diesen Sieg haben einzig und allein SS und SA errungen. Sie haben Deutschland mit ihrem Herzblut erobert. Die deutsche Jugend hat in den letzten 14 Jahren die von Kommunisten und Marxisten besetzten Straßen erobert. Nachdem wir nun die erste Etappe des Dritten Reiches erreicht haben, wollen wir in dieser Stunde auch derer gedenken, die von feiger Mordpest hinterrücks ermordet worden sind.“ Die Menge stimmte begeistert in seinen Ruf ein: „Ein dreifaches Sieg-Heil auf unseren Führer Adolf Hitler!“ An der Veranstaltung nahmen der kommissarische Bürgermeister Hämerling teil, Kreisdirektor Hinkel und etwas später auch noch der Standortälteste Hauptmann Ebeling; letzterer wurde von den Anwesenden begeistert begrüßt.

Mit dieser Einstimmung fiel es dem SA-Führer Wilhelm Hannibal nicht schwer, seine Männer für weitere Aktionen zu begeistern: In Oker überfielen 120 SA- und SS-Männer Kommunisten und Sozialdemokraten, worüber die WZ kurz berichtete: “Um diese Aktion richtig durchführen zu können, wurden in den Vormittagsstunden etwa 20 Personen inhaftiert. Bei einer großen Zahl weiterer Angehöriger der SPD und KPD wurden nur Haussuchungen veranstaltet. Zwei Personen wurden der Landesstrafanstalt hier zugeführt, bei einer anderen, nämlich dem Arbeiter Erich Schleicher, mußte von einer Überführung in die Wolfenbütteler Anstalt abgesehen werden, da dieser in Krämpfe verfiel.“ Bei der Aktion konnten 8 Feldfernsprecher des Reichsbanners beschlagnahmt werden. Einige Monate später, Mitte Dezember 1933, bat die Kreisdirektion den Innenminister um Überlassung der Telefone: „Die SA-Standarte 46, hierselbst, hat jetzt den Antrag gestellt, ihr die Fernsprecher zwecks Ausbildung zu überlassen. Die Apparate sind durch die Beschlagnahme und Einziehung Staatseigentum geworden. Im Einvernehmen mit dem politischen Beauftragten der Kreisdirektion, Herrn Kreisleiter Lehmann, bitte ich die Apparate der SA-Brigade Braunschweig zur weiteren Verteilung zu überweisen.“

Nachdem bereits am 23. März die sozialdemokratischen und kommunistischen Jugendorganisationen verboten worden waren, folgte am 1. April das Verbot aller linker Kultur- und Sportvereine. In Wolfenbüttel mußten folgende Organisationen aufgelöst werden: Arbeiter-Sportkartell, Arbeiter-Turnverein Vorwärts, Freier Wassersport, Radfahrerbund Solidarität, Rot-Sport, Spielvereinigung 23, Arbeiter-Schützenbund, Ring- und Stemmklub Eiche, Arbeiter-Samariterbund, Naturfrende, Sozialistische Arbeiterjugend, Freie Volksbühne, Freier Volkschor.

Weil sich die Ortsvereine der SPD „aufgelöst“ hätten, spekulierte die WZ, „dürften auch die vier Mandate für die Stadtverordnetenversammlung hinfällig geworden sein“. Die gesamte Führung der Wolfenbütteler SPD und alle Stadtverordneten sowie der Kreistagsabgeordnete Franz Baier wurden in „Schutzhaft genommen“. Einzelheiten konnten „im Interesse der Untersuchung nicht mitgeteilt werden.“ Ebenfalls ohne nähere Erläuterungen erfuhren die Zeitungsleser, die SPD-Kreistagsabgeordneten hätten ihre Mandate „niedergelegt“ und der Kommunist Wagenknecht, der ehemalige Herausgeber der KPD-Zeitung „Das Rote Sprachrohr, sei aus der KPD“ ausgetreten. Froh waren nicht nur die Nazis, als auch die Druckerei der obigen Zeitung ausgehoben wurde. Die WZ: Mit ihr seien auch andere Drucksachen hergestellt worden, die „viel Ärgernis erregt“ hätten.

Otto Rüdiger berichtet über den Fall eines Parteigenossen, der, durch den Terror gebrochen, sich öffentlich in der WZ von der SPD distanzierte und seine neue Haltung bekundete: „Nach Ablauf meines Stadtverordnetenmandats 1931 bin ich als Funktionär der SPD nicht mehr tätig gewesen, da ich in weltanschaulichen Fragen nicht den Parteigrundsätzen folgen konnte. Aus der Partei bin ich seit Wochen ausgetreten. Nachdem sich die politischen Ereignisse jetzt grundlegend geändert haben, erkenne ich ohne Vorbehalt den neuen Staat an und erkläre mich bereit, am Aufbau meines Vaterlandes nach besten Können mitzuarbeiten.“

Und damit auch der einfache Bürger, der noch nicht bis ins letzte Tüpfelchen rechtspolitisiert war, begriff, wer die Schuld an allem hatte, was jetzt geschah, veranstaltete die BTZ im Verbreitungsgebiet Braunschweig-Hannover ein großes Preisausschreiben. Als Belohnung lockten zehn wertvolle Preise: Vom kompletten Schlafzimmer über Motorrad und Kücheneinrichtung hin zu Fahrrädern und Bekleidungartikeln. Den richtigen Einsendern, die nicht das Glück eines Hauptpreises hatten, waren allesamt Trostpreise versprochen. Die Auflösung bestand aus einem Wahlslogan der NSDAP: „Wer hat uns verraten – Die Sozialdemokraten. Wer macht uns frei – Die Hitlerpartei!“ Die Auslosung der Preisträger geschah unter strikter notarieller Kontrolle und bedachte auch eine Bürgerin des Dorfes Baddeckenstedt: Frau Irma B. gewann einen Regenmantel.

Bei den diesjährigen Wahlen zum Betriebsrat der Landmaschinenfabrik Welger reichten nur die Nazis eine Wahlvorschlagsliste ein, die mangels der „roten Gegenliste“ als gewählt angesehen wurde. Die BTZ berichtete: „Der bisherige rote Betriebsratsobmann Franz Hüther SPD, mit seinem Genossen Diekmann haben sich die Füße wund gelaufen, um eine Liste zustanden zu bringen. Aber keiner dieser Genossen und Anhängsel brachte den Mut auf, seinen Namen unter die Liste zu setzen. Und so müssen sie sich jetzt mit dem Schicksal abfinden und abtreten.“

Die Gerüchteküche in der Stadt heizte die Mitteilung an, dass in einer Wohnung am Neuen Weg eine „unerlaubte Sende- bzw. Empfangsanlage“ entdeckt und natürlich beschlagnahmt worden sei. Zwar sei eine Verständigung in einem weiteren Umkreis möglich gewesen, ob aber die Anlage zu geheimen Sendungen benutzt worden war, sollte noch untersucht werden. Am Tag nach diesem Fund vermutete der „Kreis-Funkwart des Reichsverbandes Deutscher Rundfunkteilnehmer“, es gebe möglicherweise noch weitere Schwarzsender. Potentielle Denunzianten sollten sich an Ernst B. in der Halchterschen Straße wenden.

In „Schutzhaft“ nahmen die Nazis den Führer der Naturfreunde und der Sozialistischen Arbeiterjugend, Fritz Ehrhoff (späterer Bürgermeister in Wolfenbüttel), weil man ihn verdächtigte, mit der Zerstörung des Naturfreundehauses im Oder zu tun gehabt zu haben. Die Hütte hatten zwei Naturfreunde zerstört, damit sie nicht den Nazis in die Hände fiel. Einer von ihnen, Hermann Dannenbaum, hatte die Reste noch fotografiert. Auch ihn nahm man fest und beschlagnahmte seinen Fotoapparat. Ein wegen der Fotos gegen ihn eingeleitetes Verfahren wegen „Greuelpropaganda“ konnte nicht eröffnet werden, da ihm die Benutzung der Fotos zur „Verbreitung von Greuelnachrichten“ nicht bewiesen werden konnte. Kreisdirektor Hinkel, der die Abgabe des Apparates an den Landkreis verlangte, um ihn für dienstliche Zwecke einzusetzen, sah die Sache in einem Brief an den Innenminister ganz anders: „Der Versuch eines solchen Vorgehens erscheint mir allerdings unbedingt vorzuliegen. Das Fotografieren einer absichtlich vorher vorgenommenen Zerstörung läßt an der zugrunde liegenden Absicht der nachweislich marxistisch eingestellt gewesenen Täter die Aufnahmen zu Greuelpropaganda zu verwenden, schlechterdings nicht zweifeln. Der Fotoapparat ist also zur Förderung marxistisch-, volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen gebraucht oder war doch dazu bestimmt. Ich bitte daher den Minister anzuordnen, dass der Fotoapparat des Dannenbaum entschädigungslos zu Gunsten des Landes eingezogen wird und mich zur Veranlassung seiner bestmöglichen Verwertung zu ermächtigen.“ Nicht nur die Nazis bemächtigten sich des Eigentums andersdenkender Organisationen und Personen, sondern in diesem Fall auch die Kreisverwaltung, der es offenbar noch an einem Fotoapparat mangelte.

Der spätere Reichsstatthalter für Braunschweig und Anhalt, Wilhelm Loeper, schrieb der Staatsregierung im Juli 1933: „Die Durchführung der siegreichen Revolution und der damit verbundene Umsturz der Dinge zugunsten der Nation ist der alleinige Verdienst der NSDAP, welche diesen gigantischen Kampf unter unsäglichen Mühen und Opfern aus eigener Kraft und gegen alle Mittel des Staates hat führen müssen. Nachdem nunmehr vor allem der Hauptgegner, der Marxismus, niedergeschlagen ist und nachdem man ihm seines Vermögens beraubt hat, ist es nicht mehr als recht und billig, das als Ausdruck des Dankes und als eine kleine Entschädigung für die gebrachten Opfer das Vermögen der SPD der NSDAP überantwortet wird. Ich ordne daher an, dass in den Ländern Braunschweig und Anhalt das beschlagnahmte Vermögen der SPD den zuständigen Stellen der NSDAP zu übertragen ist.“

Das ließen sich die Nazis nicht zweimal sagen: Sie raubten, was sie konnten: Das Volksfreundehaus in Braunschweig, im Volksmund auch das Rote Schloß genannt, nahmen sie vollständig in Besitz und tauften es auf den Namen des Nazis Landmann, dessen gewalttätiger Tod – darüber wird noch berichtet, im Lande Braunschweig zu schlimmsten Folterungen und Massakern führte. Die Wolfenbütteler SA stahl dem Reichsbanner Harlingerode fünf Flöten, drei Trommeln und eine Pauke. Die Musikinstrumente des Wolfenbütteler Zitterclubs „Edelweiß“ eignete sich die Ortsgruppe der NS-Kulturvereinigung Braunschweig an: Was für eine Kultur, die mit Diebstahl beginnt…!

Die Nazis klauten nicht nur Sachwerte wie Häuser, Feldtelefone oder Musikinstrumente, sie stahlen auch Arbeitsplätze: Heinrich Naumann gehörte der SPD an und arbeitete in der AOK als Kassenbote. Eine so wichtige Tätigkeit durfte nicht in den Händen eines Marxisten bleiben: Da seine einseitige politische Einstellung keine Gewähr für eine ordnungsgemäße Abwicklung bot, so Kreisdirektor Hinkel an den Innenminister, ist er beurlaubt worden und seine Stelle mit dem Elektromeister Wilhelm Gebhardt sen. „vorläufig“ besetzt worden. Die einseitige politische Haltung des Gebhardt, der zu den Gründern der NSDAP-Ortsgruppe gehörte und von 1925 bis 1927 den Kreisleiterposten innehatte, stand der Tätigkeit nicht im Wege.

Klassische Rache an Otto Rüdiger übte Kreisleiter Kurt Bertram: Er entließ Otto Rüdiger aus seiner Stelle als Geschäftsführer der AOK in Bad Harzburg. Die BTZ kommentierte den Rausschmiß hämisch: „Wenn er glaubt, Ersatzansprüche geltend machen zu müssen, so muß er sich an die Kreisleitung wenden.“

Bertram selber erlebte in diesen Wochen einen ungeahnten Aufstieg: Ab 1. April amtierte er über Kreisdirektor Hinkel als politischer Kommissar in der Kreisverwaltung, erhielt einen Posten im Direktorium der Staatsbank und wurde auch noch ehrenamtlicher Staatsrat. In dieser Funktion war er auch Stellvertreter des Justiz- und Finanzministers Alpers und im Alter von 36 Jahren zu einem der führenden Nazis im Lande Braunschweig aufgestiegen. Bertram stammte aus Braunschweig und hatte nach einer Banklehre und der Teilnahme am 1. Weltkrieg als Buchhalter in Wolfenbüttel gearbeitet. Nach einer Rede des NSDAP-Gauleiters Rust in Wolfenbüttel 1925 war er der Partei beigetreten und schon bald zum stellvertretenden Ortsgruppenleiter aufgestiegen. 1930 wurde er in den Landtag gewählt, war Stadtverordneter und Aufsichtsratsmitglied der Staatsbank und ab 1932 Kreisleiter in Wolfenbüttel.

Das angebliche Futterkrippenverhalten der sogenannten SPD-Bonzen, gegen das die Nazis jahrelang gekämpft hatten, entwickelten sie selber zur Perfektion. Da ihnen der Hausmeister des Rathauses politisch nicht genehm war, schmissen sie auch ihn hinaus. Der Elektriker bei den Stadtwerken, Fritz Fählandt, erhielt wie viele andere linke Arbeiter, die Kündigung. Auf seinen Einspruch teilte ihm der Arbeiterratsvorsitzende mit, nach Rücksprache mit Heinrich Bode, der nun schon als ehemaliger Wallwächter die Macht besaß, Mitarbeiter der Stadtwerke zu feuern, sei man davon überzeugt, dass er, Fählandt, keine „Gewähr für die heutige Staatsform“ biete. Der Entlassene, der 1922 als Lehrling bei den städtischen Betrieben angefangen hatte, schrieb an das Staatsministerium und teilte mit, er sei zwar gewerkschaftlich organisiert, habe die SPD aber bereits im Januar 1933 verlassen. Von der Kreisdirektion erhielt er die endgültige Antwort, er habe seine Beschwerde zu spät eingelegt. Regierungsrat Walter Seeliger ließ ihn wissen: „Wenn ich daher nicht in der Lage bin, ihre gegen die Kündigung eingelegte Beschwerde in sachlicher Hinsicht zu prüfen, so sei doch darauf hingewiesen, dass ihre Beschwerde auf Grund Ihrer Zugehörigkeit zur SPD bis Januar 33 doch keinen Erfolg haben kann.“

In ganz anderer Weise verfuhr die Polizeileitung mit Polizeibeamten: Bestimmte Polizeibeamte im Zuständigkeitsbereich der Kreisverwaltung, gleich 10 auf einen Schlag, wurden Anfang April befördert, andere wiederum versetzte die Polizeileitung an von ihren Wohnort weit entfernte Dienststellen. Der Landjäger Bruns aus Thiede mußte wohl aus Strafe für gerechtes Verhalten einen Posten im Weserbergland übernehmen.

Wie die Partei mit dem kleinen Andersdenkenden umsprang, tat sie es auch mit den großen Persönlichkeiten, von denen anzunehmen war, dass sie Sand im Getriebe der reinen nationalsozialistischen Lehre sein könnten. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 konnten die nicht genehmen Beamten ausgeschaltet werden. Eine besondere Bedeutung hatte die Bestimmung, wonach Beamte, die „nichtarischer Abstammung sind“, in den Ruhestand versetzt werden konnten. Mit diesem Gesetz „säuberten“ Alpers und Klagges die braunschweigische Justiz mit Entlassungen oder durch Versetzungen, um bestimmte Postionen mit Nazigenehmen Beamten besetzen zu können.

Die Bewegung in der Braunschweiger Justiz begründete das Staatsministerium mit der „Wiedererweckung des deutschen Rechtsgedanken auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung“. Für den Aufbau des neuen Staates und seines Rechtes sei es wesentlich, dass „der Richter mit seiner Rechtssprechung sich nicht außerhalb des Rechtsempfindens der völkischen Gemeinschaft stellt, sondern dass sich die Gerichte in ihrem Schaffen verbunden mit Volk und Land fühlen und in dem Gedanken der Volksgemeinschaft und dem völkischen Rechtsempfinden ihr erstes Gesetz sehen“. Dieses könne nur mit einer Richterschaft erreicht werden, die „mit ihren rassischen Eigenschaften eine Auslese des Volkes ist“.

Doch nicht nur Richter mußten rassisch ausgelesen werden, diese neue Rechtssprechung nach den Vorstellungen des NSDAP-Programms betraf natürlich auch Anwälte. Dieser Grundgedanke habe den Justizminister „bezüglich der Zuziehung von Rechtsanwälten in Armenrechtssachen“ bewogen, „dass jüdische Anwälte, Sozien jüdischer Anwälte und Anwälte, die jüdisch gebunden sind, nicht mehr als Armenanwälte Parteien arischer“ Abstammung beigeordnet und „dass ferner ehrengerichtlich bestrafte Rechtsanwälte gleichermaßen behandelt werden müßten.“

„In unserem hohen und höchsten Beamtentum“, so Hitler in „Mein Kampf“ (Seite 352), habe „der Jude zu allen Zeiten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) den willfährigen Förderer seiner Zerstörungsarbeit gefunden. Kriechende Unterwürfigkeit nach „Oben“ und arrogante Hochnäsigkeit nach „Unten“ zeichnen diesen Stand ebenso sehr aus wie eine oft himmelschreiende Borniertheit, die nur durch die manchmal geradezu erstaunliche Einbildung übertroffen wird.“ So charakterisierte Staatsdiener wirkten auch im Landkreis Wolfenbüttel. Ja, die Annahme ist falsch, dass aus diesen Beamten nun dem Volke freundlich dienende Hüter der öffentlichen Ordnung wurden. Die hitlersche Einstufung führte vielmehr dazu, dass sie sich fast vollständig unterwarfen und ihre Unterwürfigkeit nun im Lichte völkischer Erkenntnisse gesehen wurde. Schon zehn Tage nach der Reichstagswahl zogen die hiesigen Beamten Konsequenzen aus dem – aus einem – Wahlergebnis: Das Ortskartell des Deutschen Beamtenbundes traf sich im Kaffeehaus oberhalb des Lessingtheaters und richtete seine Mitglieder darauf aus, sich nie an „Pflichtbewußtsein und Nationalsinn“ von anderen übertreffen zu lassen. Der Vorsitzende des Landeskartells Braunschweig betonte, der aufrichtige Wunsch der Beamtenschaft gehe dahin, „dass es der neuen Reichsregierung gelingen möge, die nationalpolitischen und wirtschaftlichen Aufgaben, die sie sich gesetzt habe, zu erfüllen und das deutsche Volk zur wahren inneren Einigung zu führen. Dazu sei restloses, unerschütterliches Vertrauen der Beamten zur neuen Staatsführung die unbedingte Voraussetzung“.

Am 5. April reihten sie sich wegen der „veränderten politischen Lage“ in die neue Richtung ein und wählten daher einen neuen Vorstand. Das Ergebnis der Wahl war frappierend, denn weil alle bisherigen Vorstandsmitglieder „als auf nationalem Boden stehende Männer bekannt waren und sich ehrlich dazu bekannten, wurden sie sämtlich einstimmig wiedergewählt“. Aus dem Dienst des Landkreises entlassen wurde Kreisobersekretär Willi Mull, der die SPD auch im Kreistag vertreten hatte. Auch die Maschinenschreiberin M. Himmler mußte, weil ihr Verlobter aktives SPD-Mitglied war, ihren Arbeitsplatz verlassen. Den Kreisobersekretär und Nazi Wilhelm Hämerling ernannte der Kreisausschuß zum Kreisoberinspektor. Vom einfachen nichtbeamteten Versorgungsanwärter stieg eine Woche später, am 1. April, SA-Führer Wilhelm Hannibal zum beamteten Kreisobersekretär auf. Diese Personalveränderungen veröffentlichte die Lokalzeitung und gab damit der Verballhornung der Abkürzung Pg. für Parteigenosse Auftrieb: Als Pg. bezeichneten die Menschen die Vergabe von Arbeitsplätzen an Nazis: „Posten gefunden“. Aus dem Personalfragebogen vom Juli 1937, den ich aus dem Document Center Berlin erhielt, ist Hannibals beruflicher Werdegang vermerkt. Darin steht als Berufsbezeichnung „Kreisinspektor“, was einen weiteren Aufstieg in der Kreisverwaltung dokumentiert. Hannibal war im März 1893 in Söllingen, dem selbsternannten schönsten Dorf des Freistaates Braunschweig und ebenfalls Geburtsort des Autors, geboren worden. Nach der Volksschule lernte er Schumacher und ging im Oktober 1912 zur Wehrmacht. Er diente als Geschütz- und später als Zugführer, bekam 1915 das EK II, danach das Braunschweigische Verdienstkreuz II mit Bewährungsabzeichen und kurz vor Kriegsende ein Verwaltungs-Abzeichen in Silber. Von 1921 bis 1924 besuchte der die Heeresfachschule und verließ die Wehrmacht Ende März 1925 mit einer weiteren Dienstauszeichnung, um beim Landkreis Wolfenbüttel als Angestellter zu arbeiten. Für ein Jahr lang war er auch Mitglied der Braunschweiger Niedersächsischen Partei. Er engagierte er sich in der Orstgruppe Wolfenbüttel der “Vereinigung des ehemaligen Niedersächsischen Feld-Artillerie-Regt. 46″, um dann erst recht spät, am 1. Februar 1930, der NSDAP beizutreten. Er gehörte also nicht zu den „alten Kämpfern“ mit einer Mitgliedsnummer unter 100.000, von denen einige in Wolfenbüttel und Umgebung lebten. Ein paar Tage vor dem großen SA-Aufmarsch in Braunschweig wurde er Führer des Sturms 89 der SA-Standarte 6, stieg weiter auf zunächst zum Sturmbannführer, bis ihn der Oberste SA-Führer mit Führerbefehl 54 am 1. Juli 1932 zum Führer der Standarte 46 in Wolfenbüttel ernannte. Der SA-Sturmbannführer war ein Jahr lang auch Führer des freiwilligen NS-Arbeitsdienstes im Lager Wolfenbüttel.

Leider hat sich bisher noch kein Historiker gefunden, z.B. die Biografie Hannibals aufzuarbeiten. Schaut man sich z.B. seine Stellungnahmen in seiner Entnazifizierungsakte an, kommt man, ist man unkritisch, zu der Annahme, Hannibal sei gar kein Nazi gewesen, sondern eher ein Opfer. Er schrieb am 8.1.1949: „Die NSDAP war eine Partei, wie alle die anderen vielen Parteien in Deutschland. Tausende von deutschen Menschen glaubten damals in dem Programm der NSDAP das Beste für das Wohlergehen des deutschen Volkes zu sehen. Kein Mensch konnte damals wissen, daß die führenden Männer der Partei von dem, was sie versprachen, so weit abwichen. Auch ich glaubte mit meinem Eintritt in die Partei und meiner Tätigkeit in der SA meinem Volke einen guten Dienst zu erweisen. Daß dieses nicht der Fall war, konnte ich damals nicht wissen.“ Hannibal beendete seine politische Karriere im Gemeinderat seines Heimatdorfes Söllingen: Ab 1956 Ratsmitglied, 1961 bis 1963 Bürgermeister, danach bis zu seinem Tod im Juni 1967, Bürgermeister und Gemeindedirektor.

Einen Amtwechsel, der wohl eher eine Amtsenthebung war, betraf das Wolfenbütteler Gefängnis. Dessen Direktor, Oberregierungsrat Dr. Gustav Weiß, der sich angeblich wegen eines Nervenleidens im Erholungsurlaub befand, werde auf seinen Posten nicht zurückkehren; das berichtete die BTZ, die auch ihren Kommentar dazu gab: „Wir brauchen nicht näher auf die Tätigkeit dieses biederen Herren einzugehen, denn seine bewährten Erziehungsmethoden sind uns Wolfenbüttelern noch sehr gut in Erinnerung.“ Sachlicher informierte die WZ über die Personalveränderung: „Dr. Gustav Weiß ist seit 1923 Direktor der Landesstrafanstalt. Er war vorher Schulrat in Stendal und wurde vom damaligen Minister Grotewohl in sein Amt in Wolfenbüttel berufen. Für den schon länger leidenden Dr. Weiß führt bereits seit Mitte Januar Assessor Dr. Geismar die Geschäfte des Vorstandes.“

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Amtsblatt der braunschweigischen Staatsregierung vom 22. Juli 1933 bekundet die Ernennung des Staatsanwaltes Hans Greiffenhagen zum Oberregierungsrat und ab 1.10.1933 zum Leiter des Wolfenbütteler Gefängnisses. Nur ein paar Wochen nach seinem Amtsantritt berichtete die Lokalzeitung über den „neuen Kurs in der Landestrafanstalt“. Redaktionsleiter Kurt Meyer-Rotermund selber, späterer Ehrenbürger Wolfenbüttels, hatte sich über die nach der „nationalen Erhebung“ eingeführten Neuerungen informiert. So seien die früheren, einer wenig fruchtbaren Humanitätsduselei entsprungenen pädagogischen Experimente abgeschafft worden. Der Beirat, dessen Existenz den vielen Beschwerden der Häftlinge Vorschub geleistet habe, existiere nicht mehr: „Da der Gefangene weiß, dass heute nicht mehr die Straße hinter ihm steht, pflegt er sich der gesteiferten Disziplin auch zumeist zu unterwerfen.“ Die Neuordnung im Strafvollzug mit der Betonung des Sühnegedankens habe auch die Kriminalitätsrate zurückgehen lassen. Die Insassen müßten jetzt auf Unterhaltungsabende verzichten, dürften nicht mehr rauchen und es sei ihnen beim Spaziergang auf dem Hof ebenfalls das Sprechen verboten worden. Die neue Ordnung bringe auch finanzielle Einsparungen: „In seiner schlechtesten Kleidung erschien der Gefangene bei Antritt der Strafe, nach deren Verbüßung erhielt er einen neuen, noch gut tragbaren Anzug – im Winter sogar Mantel – was er später nicht selten verpfändete oder verkaufte.“ Die Anstalt müsse schon deshalb sparen, da einige Gefängnisbetriebe zugunsten der freien Wirtschaft eingestellt worden seien. Die Buchbinderei verdiene ihren Namen nicht mehr, denn „über Tütenkleben geht die Beschäftigung kaum hinaus“. Die Belegungszahl der Strafanstalt bezeichnete Meyer-Rotermund als „derzeit sehr hoch – sie schwankt zwischen 820 und 880.“

Der Grund für die Überfüllung des Gefängnisses in diesem Jahr ist bekannt. Die Lage besserte sich auch in den folgenden Jahren nicht. 1937 erhielt das Gefängnis eine Hinrichtungsstätte. Das Wolfenbütteler Fallbeil, das von 1937 bis 1945 516 Köpfe abhackte (nach der Befreiung dann noch 67 durch die Justiz der Alliierten) hat bis dahin nie Gelegenheit bekommen, einzurosten. Dafür sorgte besonders das Braunschweiger Sondergericht, das, wie in jedem Bezirk eines Oberlandesgerichts, in Schnelljustiz Verstöße gegen die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung vom 28.3.33), gegen die Heimtückeverordnung vom 21.3.33 und gegen das Gesetz zur Abwehr politischer Straftaten vom 4.4.33 ahndete. Die Rechte der vor dieses Gericht gezerrten Menschen – gerichtliche Voruntersuchung, mündliche Haftprüfung, Rechtsmittel gegen Urteile, Bewährungsstrafe, Strafaussetzung – hatten die NS-Juristen durch Federstrich bereits abgeköpft; es war nichts weiter als ein „legalisierte“ Terror- und Mordinstrument mit 6000 Verfahren und 7000 betroffenen Menschen bis 1945.

Die Reichsregierung hatte am 21. März 1933 die Verordnung zur Bildung von Sondergerichten erlassen. Durch sie wollten die Nazis die schnelle und harte Bestrafung von Gegnern durch nationalsozialistische Richter sicherstellen. Fanatische Nazis als Vorsitzende dieser anfänglich 26 Gerichte im Reich (Ende 1942 waren es 74.) wurden zu grausamen Vollstreckern des Terrors im Inland.

Der im März noch amtierende braunschweigische Justizminister Küchenthal erließ für das Land Braunschweig einige Bestimmungen, die in der Lokalzeitung auf der ersten Seite veröffentlicht wurden. Als Sitz des Sondergerichts wurde Braunschweig bestimmt, und weil gegen die Entscheidungen des Sondergerichts Rechtsmittel nicht zulässig waren, sollte der Vorsitzende mindestens ein Landgerichtsdirektor werden. Den fand man in der Person des Landgerichtsdirektors Lachmund, der 1886 als Sohn des (später an der Landesstrafanstalt Wolfenbüttel tätigen) Pastors Lachmund geboren war. Er war u.a.in Wolfenbüttel zur Schule gegangen, hatte in Göttingen studiert und den Ersten Weltkrieg (Batterieführer) mitgemacht. Seit 1928 hatte er sich „nach Kräften für die nationalsozialistische Bewegung eingesetzt“ und war auch Mitglied der NSDAP-Landtagsfraktion.

Anläßlich der ersten Sitzung des Sondergerichts am 8. Juli 1933 wurden fünf Männer abgeurteilt. Bei der Begründung der Urteils gegen einen Arbeiter aus Braunschweig machte Lachmund einige „allgemeingültige Ausfhrungen“: Die Aufgaben des Sondergerichts seien am besten zu erfüllen, wenn es sich „so schnell wie möglich entbehrlich“ mache. Das geschehe dadaurch, „daß es von Anfang an mit fester Hand zupackt“ und den Willen zeige, nationalsozialistische Ziele zu verwirklichen. Das Gericht werde drakonische Strafen nicht „aus Lust am Strafen“ verhängen, sondern weil es „von dem Bewusstsein durchdrungen sei, daß der rücksichtsloseste Kampf der humanste ist“. Die zu erwartenden hohen Strafen sollten auf die „erzieherisch“ einwirken, die der nationalen Regierung noch Widerstand leisteten. Wenn sie so zur Einsicht gebracht werden könnten, nicht gegen sondern „mit dem Strom“ zu schwimmen, würden die Sondergerichte überflüssig. Lachmund zum Schluß: „Es sei also jeder gewarnt.“

Der Sinn dieser Gerichte war es also nicht, Recht zu spechen, sondern Menschen einzuschüchtern. Diesen Zweck erfüllen erfüllten auch die ersten Urteile Lachmunds: Der 20jährige Arbeiter Junke erhielt eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten für das Tragen eines Abzeichens einer kommunistischen Jugendorganisation. Ein Schlosser erhielt sechs Monate für das Verteilen von SPD-Flugblättern und zwei weitere SPD-Mitglieder wurden für das Kleben von Wahlaufrufen verurteilt. Neun Monate Gefängnis mußte ein Braunschweiger Monteur verbüßen, der unter seinem Rockkragen ein antifaschistisches Abzeichen getragen hatte. Ein Reichsbahnarbeiter erhielt dafür, dass er sich öffentlich über die NSDAP-Mitgliedschaft eines Kollegen gewundert hatte, ein Jahr Gefängnis. Die Verhandlung gegen zwei Arbeiter, die ein Flugblatt mit der Aufforderung verteilt hatten, die „nationale Regierung“ zu stürzen, wurde an das Reichsgericht überwiesen, da deren Tat als „Landesverrat anzusehen“ sei.

In der zweiten Verhandlung, zwei Wochen später, stand u.a. ein Mann vor Gericht, der in Wolfenbüttel gebettelt und dabei ein nationalsozialistisches Abzeichen getragen hatte, obschon er nicht mehr Mitglied der Bewegung war. Da er jedoch glaubhaft machen konnte, jahrelang NSADP-Mitglied gewesen zu sein und ausgeschlossen worden war, weil er „durch Drohung mit einer damals verbotenen Schußwaffe Parteigenossen zu Hilfe gekommen sei, die von einer Übermacht angegriffen waren“, erhielt er nur 3 Tage Gefängnis wegen Bettelns.

Anders erging es einem jungen Gespannführer aus dem Landkreisdorf Seinstedt, der sich öffentlich darüber gewundert hatte, dass man einen Ausländer zum Reichskanzler gemacht habe. Er werde bald wieder aus der Regierung verschwinden, und dann werde auch auf die Hitlerjugend wieder geschossen.“ Das Urteil lautete auf sechs Monate Gefängnis. Die 29jährige Arbeiterin Paula M. aus Wolfenbüttel kam glimpflich mit einem Monat Gefängnis davon, weil sie ein Abzeichen der Eisernen Front getragen hatte. Der Rohrleger Stöter erhielt eine zweieinhalbjährige Zuchthausstrafe wegen Waffenbesitzes. Drei Jahre Gefängnis erhielt der Kutscher Gustav Mertens wegen Beleidigung des “Reichskanzlers Adolf Hitler“. Mertens Festnahme war von einem Stadtverordneten “veranlasst“ worden, weil er in einer Kneipe gesagt hatte: “Adolf Hitler trinkt keinen Schnaps und kein Bier, raucht nicht und hat nicht einmal Zeit, zu heiraten.“ Dieser Bemerkung habe er eine “unflätige, schwer beleidigende Äußerung“ folgen lassen.

Gar nicht erst vor Gericht kam ein Mann, der in der Langen Herzogstraße ein Damenfahrrad gestohlen hatte. Ein Polizeibeamter verfolgte ihn in einem Auto und holte ihn in Klein Stöckheim ein. Der Mann setzte seine Flucht zu Fuß querfeldein weiter und blieb auch nach mehreren Schreckschüssen nicht stehen. Weil er dann in eine Hosentasche griff und der Polizist annahm, er wolle eine Waffe ziehen, tötete er ihn mit einem Kopfschuß . Die offizielle Rechtfertigung und Erledigung dieses Meuchelmords, der sicher so geschah, weil Töten inzwischen normal geworden war, lautete: „In der Tasche des Toten fand man eine Zange zum Aufschneiden von Fahrradschlössern, und damit hätte der Mann sich schon auch zur Wehr setzen können.“ Ein Schiftsetzer erhielt aufgrund der Beschuldigungen seiner „national gesinnten“ Lehrlinge eine Gefängnisstrafe von einem Jahr für die „schwere Beschimpfung des Reichskanzlers, der Hilfspolizei und wegen Verunglimpfung des gefallen Kampffliegers Richthofen“. Ein in der ehemaligen Samsonschule wohnender Mann hatte Hitler mit den Braunschweiger SPD-Abgeordneten Jasper und Grotewohl “auf eine Stufe gestellt“. Der Oberstaatsanwalt bezeichnete es als unerhört, den „reinen und makellosen“ Hitler „in solcher Weise zu beschimpfen“. Lachmunds Urteil: Ein Jahr und drei Monate Gefängnis.

Nach der Verurteilung einer Wahrsagerin aus dem Harz, die der Hitler-Regierung eine Amtszeit von nur vier Wochen vorausgesagt hatte, erhielt der Maurer Otte aus Wolfenbüttel ein Jahr Gefängnis, da er Hitlers Rede zum ersten Mai kritisiert hatte. Die Verurteilten erwartete ein Strafvollzug, der bewusst darauf angelegt war, streng zu bestrafen.

Roland Freisler, der wohl berüchtigste Blutrichter des Dritten Reiches, wurde im Juli 1933 in der WZ ausführlich mit seiner Meinung über die neue Strafrechtspflege ziiert. Der Kernsatz lautete: „Die gefühlsduselige Rücksichtnahme darauf, den Rechtsbrecher ja nicht zu scharf anzufassen, bedeutet eine Versündigung an der Pflicht der Strafrechtspflege, das Volk als ganzes gesund und rein zu halten.“

Ein Menschenleben weniger oder mehr war dem NS-Staat nicht von Bedeutung. Wurde ein Andersdenkender umgebracht, sah man das als Bereinigung an; starb, wie auch immer, ein Nationalsozialist, nutzten die Propagandisten den Tod für ihre Zwecke aus. Zur Nazi-Ideologie gehörte schon immer die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Diese Haltung führt, wie wir wissen, zu unvergleichlichen Exzessen gegen Millionen von Menschen. Um diese menschenverachtende Haltung kontinuierlich durchzusetzen und zu praktizieren, ohne dass ein Richter oder Staatsanwalt Einhalt gebieten konnte, mußte natürlich das Rechtssystem mit seinen Amtsträgern auf die Inhumanität eingeschworen werden. Wie das geschehen sollte, ließ Roland Freisler, jetzt noch Ministerialdirektor im preußischen Justizministerium, in der Presse verbreiten. Er beschäftigte sich eingehend mit der Frage, in welcher Weise der juristische Nachwuchs ausgesucht werden soll. Es werde insofern eine Neuerung eingeführt, dass zukünftig nach der zweiten juristischen Prüfung „die werdenden Richter auch auf ihren Charakter geprüft“ werden sollen: „Nicht Wissen und Fähigkeit allein sind für die heutige Justizauffassung maßgebend, sondern vor allem auch der Charakter. Da man diesen bei einer mehrstündigen oder auch zweitägigen wissenschaftlichen Prüfung nicht feststellen kann, ist beabsichtigt, nach Einrichtung eines Sonderdezernats für Referendare diejenigen jungen Leute, die ihre zweite juristische Prüfung abgelegt haben, auf sechs bis acht Wochen in ein Sammellager zu geben, in dem sie ganz auf sich selbst gestellt sind. Hier wird sich zeigen, wer Charakter hat und ein ganzer Kerl ist, und wen man aus dem Justizdienst ausschalten muß.“

Über diese Art der Juristenausbildung gibt es ein berühmtes Foto, das auch in der 1991 herausgegebenen Broschüre über die Hinrichtungsstätte Wolfenbüttel dokumentiert ist. Der preußische Justizminister Kerrl stellte sich mit Referendaren im Lager Jüterborg zu einem Gruppenfoto: Freundlich grinsende Charakter-Juristen stehen unter einem Galgen, an dem ein großes Paragraphen-Zeichen baumelt und nicht weniger verdeutlicht als die Todesstrafe für das Recht. In Wernigerode drehten die Nazis, die ja 1000 Jahre Zukunft gestalten wollten, das Rechtssystem gleich um einige Jahrhunderte zurück: Die SA errichtete auf dem Marktplatz einen Schandpfahl, der für jeden Einwohner von „Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang“ vorgesehen war, der „sich eine Verächtlichmachung des Reichskanzlers und der Regierung zuschulden kommen lässt“. Dass diese mittelalterliche Bestrafung nicht nur eine lokal begrenzte Idee einiger SA-Männer war, belegt ein Artikel der WZ, in dem sie über die Vorlage eines neuen Strafgesetzbuches durch Reichsjustizminister Dr. Gürtner berichtete. Die zuständige Kommission habe davon abgesehen , die Wiedereinführung des Prangers zu empfehlen. Dagegen sollte jedoch, „gleichsam als symbolischer Pranger, die öffentliche Bekanntmachung Verwertung finden, die künftig dem Richter allgemein zur Verfügung“ gestellt werden sollte. Zur Vollstreckung der Todesstrafe schlug die Kommission vor: „Das Erschießen soll dem Militärstrafrecht, dem Kriegsrecht und dem Ausnahmerecht vorbehalten bleiben. Als Regelform wird wie im geltenden Recht die Enthauptung vorgesehen. Als der Erwägung wert bezeichnete der Referent Ministerialrat Rietzsch die Frage, ob dem zum Tode Verurteilten durch Trinken eines Giftbechers und in Ausnahmefällen durch Bereitstellung einer Schußwaffe die Möglichkeit gegeben werden soll, die Strafe an sich selbst zu vollziehen. Selbstverständlich käme diese Art der Ausführung nicht bei allen Verurteilten in Frage.“

Diese öffentlich angekündigte, immer wieder dargestellte und praktizierte Eliminierung nicht nur der Grundrechte und der Rückfall in eine Zeit, in der adelige Herrscher das Recht bestimmten, konnte oft auf Grund der talentierten Propaganda und des unverblümten Mitmachens vieler Menschen dennoch kaschiert werden. Als deutsche und ausländische Pressevertreter im März 33 überprüfen wollten, was an den Nachrichten über Folterungen – von den Nazis Gräuelmärchen genannt – dran war, durften sie in Berlin unter den Augen der Politischen Polizei „kommunistische Schutzhäftlinge in ihren Zellen“ besuchen. Sie sahen auch den KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, der ihnen angeblich bestätigte, ihm sei „kein Haar gekrümmt“ worden; ebensolche Aussagen hätten auch die anderen Häftlinge gemacht. Bekannt ist ja, dass gerade Ernst Thälmann, persönlicher Gefangener des Führers, im KZ Buchenwald wahrscheinlich auf Grund einer Anordnung Hitlers in der Nacht des 18. August 1944 ermordet wurde. Der Rückfall in mittelalterliche Strafjustiz wurde soweit erwogen, ob die „Turm- oder Kerkerstrafe“ wieder eingeführt werden sollte.

Schade, dass die Pressevertreter nicht nach Braunschweig gelassen worden waren: Hier hätten sie den von der KPD zur SPD gewechselten Stadtverordneten und Sekretär des Baugewerksbundes, Matthias Theisen, im Krankenhaus besuchen können. Dessen Versteck war durch einen Bauarbeiter den Nazis verraten worden. SS-Männer holten ihn ab und schleppten ihn zum Volksfreund-Haus. „Dort wurde er stundenlang mit schweren Fahrerpeitschen auf den nackten Körper geschlagen, bis ihm das Fleisch in Fetzen vom Leibe hing. Die SS hatte einen Häftling in das Zimmer geholt, der Augenzeuge dieser furchtbaren Mißhandlung sein mußte, damit er seinen Arbeitskollegen später von den Prügeln erzählen konnte, die Theisen bezogen hatte. (…) Am Ende dieser grausamen Prügelei hatte Theisens Gesicht nichts Menschliches mehr. Die Unterlippe hing herab, die Haut war schwarz. Der ganze Körper war eine einzige Wunde. Er kam in diesem Zustande in das katholische Krankenhaus St. Vinzenz. In den letzten Tagen seines Lebens konnte Theisen nicht mehr liegen. Er mußte auf Anordnung des Arztes in einem Gestell hängen. Am 10. April 1933 verstarb er an Blutvergiftung.“ Die Wolfenbütteler Zeitung vermeldete immerhin seinen Tod: Theisen sei gestorben, nachdem er etwa zwölf Tage im Katholischen Krankenhaus zugebracht habe. Die Todesursache stehe noch nicht fest. Theisens Tod hatte einen weiteren Tod zur Folge: Der ihn behandelnde Arzt, Dr. Waldvogel, hatte den geschundenen Körper fotografiert. Ein Kollege denunzierte ihn bei der Gestapo. Als die SS auch den Arzt abholen wollte, nahm er sich mit Gift das Leben.

Quellen:
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