7. Prozesstag


„9. Januar 1947.

Der Zeuge Hermann Struck wird aufgerufen und macht gegenüber dem Gericht diese Aussage:
Ich bin deutscher Staatsbürger und wohne in Schandelah. 1933 wurde ich verhaftet, weil ich der Kommunistischen Partei angehörte. Nach Schandelah kam ich am 2. Juni 1944. Im Gefangenenlager gab es zu dem Zeitpunkt eine Baracke, mit dem Bau der zweiten wurde sofort begonnen. Deren Fertigstellung fiel mit der Ankunft eines weiteren Transports von Gefangenen aus Neuengamme zusammen.
Mein erster Arbeitsplatz war die Küche, die ich zusammen mit einem Kameraden führte, bis Jahn als Leiter eingesetzt wurde. Alle Lebensmittel, die in der Küche eintrafen, wurden auch an die Gefangenen weitergegeben. Jede Baracke hatte einen Essenholer. Einmal mußte ich bei der Suche nach einem geflüchteten Gefangenen helfen. Er wurde schlafend in der Nähe des Waldes in einem Kesselhaus gefunden. Er war sehr erschöpft, und ich glaubte nicht an eine Flucht. Truschel brachte ihn ins Lager zurück und verprügelte ihn dort mit einem Stück Kabel. Bei der Suche war auch Hans Schenawa dabei, der seinen Hund auf den Gefangenen hetzte. Der Hund biß sich an den Füßen fest und brachte ihn zu Fall. Der Mann blutete zwar nicht, aber da Schenawa ihn auch noch mit einem Gewehrkolben geschlagen hatte, mußte er ins Lazarett eingeliefert werden. Im Lager wurde er auch noch von Spinrath verprügelt. Ich weiß nicht, was aus diesem Mann, einem Polen, dann geworden ist. Ich habe außerdem erlebt, wie ein Gefangener, der in Richtung Scheppau geflohen war, nach seinem Rücktransport ins Lager im Lazarett verbunden wurde. Ein Hund hatte seine Beine in Fetzen gerissen. Weil ich zu der Zeit auch im Lazarett lag, konnte ich mit dem Mann sprechen. Er sagte mir, Schenawa hätte den Hund auf ihn gehetzt, und von Truschel sei er verprügelt worden. Ich habe Truschel Gefangene mit einem Kabel schlagen gesehen. Seine Haltung gegenüber Gefangenen war vollkommen rücksichtslos. Er trug immer eine Pistole bei sich.
Ergebnis der Befragung des Zeugen Struck durch die Rechtsanwälte Grünkorn, Will, Giffhorn und Peters:
Von Grosse kann ich sagen, daß er immer ein gefälliger Kamerad gewesen ist und in mancher Beziehung besser war, als einige der politischen Gefangenen. Wenn er Gefangene mißhandelt hätte, wäre mir das bekannt geworden.

Als ich bis Ende November im Lazarett lag, waren die Bedingungen dort weder schlecht noch gut. Die Versorgung mit Arzneimitteln war jedoch vollkommen ungenügend. Verbandsmaterial gab es überhaupt nicht. Mein Freund Napp sagte mir, er hätte immer wieder Verbandsmaterial angefordert, aber nichts erhalten. Seiner Meinung nach lag das hauptsächlich an der Firma Steinöl und teilweise auch an der Drogerie. Ich weiß, dass Dr. Siegel etwas von Napps Liste gestrichen hat. Napp bemühte sich wirklich so gut er konnte. Die Belieferung des Lazaretts mit Heizmaterialien war ebenfalls vollkommen ungenügend. Wäre nicht von allen dort arbeitenden Gefangenen immer wieder über alle möglichen Wege versucht worden, Kohlen zu bekommen, wären dort noch viel mehr Männer gestorben.
Es stimmt, dass ich im Lager zu den privilegierten Gefangenen gehörte. Diese Gruppe umfaßte ungefähr 20 bis 25 ausschließlich politische Gefangene. Uns war es nicht möglich, so viel Essen zu bekommen, sodaß für die übrigen Gefangenen zu wenig übrig blieb. Es stimmt auch nicht, daß von den fünf bis sechs Kapos alle kriminelle Gefangene waren. Grosse war Berufsverbrecher und im Lager Kapo. Auch der Lagerälteste war ein Krimineller.

Zur Zeit meiner Ankunft in Schandelah arbeiteten dort bereits 100 Gefangene. Ich hatte während meines gesamten Aufenthaltes im Lager ein separates Zimmer im Revierblock. Die Blockältesten hatten zwei Ordonanzen. Sie hatten die Aufgabe, die Baracken sauber zu halten, Essen zu holen und Heizmaterial zu besorgen. Für diese Aufgaben wurden nur als ordentlich geltende Männer ausgesucht. Meistens wurden sie ausgewechselt, wenn es im betreffenden Block zu einem Diebstahl gekommen war.
Ich habe Schiefelbein keine Gefangenen mißhandeln gesehen, es aber von glaubwürdigen Quellen erfahren. Einmal sah ich ihn nach einem Kartoffeldiebstahl mit zwei Russen in einem Stall verschwinden.
Über Ebsens Ansehen im Lager kann ich nichts sagen. Als ich im Lazarett lag, kam er die Räumlichkeiten inspizieren. Er sprach auch mit den Gefangenen. Die Deutschen behandelte er anders als die Ausländer.
Beim Morgenappell war ich oft nicht dabei. Sonst habe ich dort keine Prügeleien erlebt, und von besonderen Appellen weiß ich nichts.
Das Gespräch mit dem russischen Gefangenen, dessen Beine zerfetzt waren, habe ich über einen Dolmetscher geführt. Ich schließe aus, daß er die Namen der Männer verwechselt hat, die ihn mißhandelt haben.

Über den Gefangenen im Kesselhaus kann ich ebenfalls ausschließen, dass er den Schlaf nur vorgetäuscht hat. Er konnte kaum auf den Beinen stehen und erst recht nicht flüchten. Ich kann ihnen drei Gründe nennen, warum das nicht möglich war: Erstens war er körperlich geschwächt, daß er kaum ein Stück Brot in seinen Händen halten konnte. Zweitens gelang es ihm nicht, einen Fuß vor den anderen zu stellen. Drittens: Um zu fliehen hätte er mehrere Wachen passieren müssen, die ihre Posten erst verließen, wenn alle Gefangenen im Lager gezählt worden waren.

In der Küche standen drei 400 Liter fassende Kochkessel. Wir kochten für 800 Gefangene täglich vier Kessel voll Essen. Das ergab eine Menge von eineinhalb Litern pro Gefangenen. Während der ganzen Zeit gab es nie genug Gemüse. Man sah dem Essen den Mangel an Fett an.
400 Gramm Kartoffeln wurden pro Tag für jeden Gefangenen bereitgestellt. Es stimmt aber, dass nicht jeder tatsächlich auch Kartoffeln erhielt. Ich kann erklären warum: Die sechs Kartoffelschäler konnten die erforderliche Menge für 800 Gefangene überhaupt nicht schälen. Und nach zwei Stunden Kochen blieb von den Kartoffeln nur sehr wenig übrig. Wegen des Hungers im Lager wurden beim Transport der Kartoffeln und der Runkelrüben in die Küche immer einige Mengen beiseite geschafft. Gewöhnlich machten das 10 bis 12 Männer. Wenn man sie mal beim Stehlen schnappte, hatten sie immer alle Taschen voll. Einer hatte einmal 18 Pfund Kartoffeln bei sich. Das Essen der Gefangenen wurde hauptsächlich von den stehlenden Kameraden reduziert.

Ich habe das Kochen beaufsichtigt. Ein Mal pro Woche gab es Milchsuppe. Im Durchschnitt wurden uns wöchentlich 200 Liter Milch geliefert, von denen die 800 Gefangenen nur 150 Liter erhielten. Den Rest erhielt die SS. Abends gab es manchmal Grießmehl in der Suppe, einen halben Liter pro Mann, manchmal auch Brühwürfel. Meistens bestand die Suppe aus Runkelrüben, Karotten, Kartoffeln und von Zeit zu Zeit Weißkohl. Das gesamte Essen war sehr einseitig.
Das Brot wurde bereits in der Küche zu Portionen von 150 Gramm morgens und 350 Gramm abends zugeschnitten. Anders als in Neuengamme hatten wir in Schandelah auch Fleisch. Zwei Mal in der Woche gab es einen fleischfreien Tag. Sonst gab es pro Gefangenen 35 Gramm, in dem auch die Wurst enthalten war. An den fleischfreien Tagen gab es anstatt der Wurst Margarine. Zwei Mal pro Woche gab es Marmelade.

Befragung durch Major Drumgoole
Ich ging Mitte September ins Lazarett. In der Gefangenen-Küche war ich nur 8 – 14 Tage – nach meiner Entlassung aus dem Lazarett Ende November. Danach arbeitete ich in der Zivilisten-Küche.
Als ich im Lazarett war, verschlechterte sich das Essen. Das war die Schuld der Köche. Als ich in der Küche arbeitete, bekamen die Gefangenen 400 Gramm Kartoffeln. Später hörte ich, dass eine große Menge eingemieteter Kartoffeln erfroren waren. Diese Menge zusammengetan mit der Menge der gestohlenen Kartoffeln führte dazu, dass 400 Gramm nicht länger ausgegeben werden konnten.
Befragung durch das Gericht:
Das Essen in der Zivilisten-Küche war nicht viel besser als das der Gefangenen. Es mußte für 120 Menschen gekocht werden. Die Küche für die SS-Männer lag innerhalb der Gefangenen-Küche. Ihr Essen wurde in einem besonderen Kessel gekocht. Die SS-Leute erhielten 500 Gramm Kartoffeln täglich und bekamen im Gegensatz zu den Gefangenen jeden Tag 35 Gramm richtige Butter, 60 Gramm Wurst und 40 Gramm Fleisch, 25 Gramm Käse und 100 Gramm Marmelade oder Kunsthonig. Schwerstarbeit hatten sie nicht zu befürchten. Die Reste des Essens der SS-Leute konnten sich die Kapos nehmen, die deswegen selten auf das Essen für die Gefangenen zurückgreifen brauchten. Einen Zivilisten habe ich in der Küche nie gesehen.
Aussagen des Zeugen der Staatsanwaltschaft, Franz Misliwetz:
Ich wohne in Schandelah. Geboren bin ich am 10. Januar 1917. Ich bin deutscher Staatsbürger und von Beruf Schreiner. Im August 1944 wurde ich in die Waffen-SS nach Neuengamme versetzt und am 3. September nach Schandelah. Von den Angeklagten kenne ich nur Truschel, Ebsen und Heitz. Ebsen war Kommandant. Er behandelte jeden gut, die Gefangenen wie die anderen. Truschel war strenger.
Ich wurde dem Kommando „Staatsbahn“ zugeteilt. Einmal war ich dabei, als Truschel einen Gefangenen vernahm, der sich von seiner Arbeitsstelle entfernt hatte. Er schlug ihn mehrfach ins Gesicht. Kurz vor Kriegsende fehlten beim abendlichen Zählappell zwei Gefangene. Während der Suchaktion hörte ich plötzlich Schüsse. Nach meiner Rückkehr ins Lager sah ich vor dem Revierblock zwei Tote liegen.
Heitz sagte mir, er hätte die beiden Gefangenen in einem Zementschuppen gefunden und dort erschossen, nachdem sie seiner Aufforderung, stehen zu bleiben, nicht gefolgt waren. Über Grosse kann ich außer, dass er die Gefangenen gut behandelte, nicht viel sagen. Ich habe ihn nie Gefangene verprügeln gesehen.
Viele Gefangene waren krank. Die Frage, warum sie starben, habe ich mir nie gestellt.
Befragung durch die Rechtanwälte Grünkorn, Giffhorn und Peters:
Ich habe nie einen Befehl erhalten, die Gefangenen durch Prügel zur Arbeit anzureiben. Auf unseren täglichen Appellen wurden wir von Ebsen immer darauf hingewiesen, dass Schlagen nicht erlaubt sei.
Befragung durch das Gericht:
Es gehörte ja zur Natur der SS-Männer, Gefangene zu schlagen. Mir ist bekannt, dass ein SS-Kamerad die Erlaubnis dazu hatte. Außer Schenawa und Hennings hat jedoch keiner von uns Gefangene verprügelt. Unter den SS-Leuten interessierte es keinen, ob Gefangene starben oder nicht.
Befragung des Zeugen Karl Hartmann durch den Staatsanwalt:
Ich wohne in Schandelah, bin Deutscher und 1880 geboren. Anfang September 1944 habe ich im Lager im Büro angefangen zu arbeiten. Ich habe die Gefangenen gesehen. Sie sahen sehr schlecht aus, waren hungrig und hielten sich kaum auf ihren Beinen. Sie trugen blau-weißgestreifte Anzüge. Was sie darunter anhatten, konnte ich nicht sehen. Ihre Fußkleidung unterschied sich sehr. Einige trugen mit Segeltuch bespannte Holzschuhe, andere hatten sich nur Lumpen um die Füße gewickelt. Ich habe es erlebt, dass Gefangene aus Hunger und Erschöpfung zusammenbrachen.
Vor dem Ausmarsch zur Arbeit mußten sie sich auf der Hauptstraße aufstellen, um dann in Gruppen loszumarschieren. Einige der Kapos hielt ich für sehr gefährlich. Ich habe von vielen Toten gehört, aber erst nach der Kapitulation Leichen auch tatsächlich gesehen.
Wittig kam fast jeden Tag auf die Baustelle und muß die Verhältnisse dort so miterlebt haben, wie ich. Seitdem sein Büro zur Baustelle verlegt worden war, hielt sich Ohlen dort regelmäßig auf.
Im Büro arbeitete ein russischer Gefangener, ein Student, der sich um die Reinigung und Heizung der Räume zu kümmern hatte. Als sich Ebsen einmal im Büro aufhielt, betrat der Russe mit den Armen voller Holz den Raum. Weil er seine Mütze nicht sofort abnahm, wurde Ebsen furchtbar ärgerlich und brüllte ihn an: Kannst du deine Mütze nicht abnehmen! Dann schlug er ihn mehrmals ins Gesicht, das danach aus mehreren Wunden blutete. Ebsen hat uns in einigen Vorträgen immer wieder davor gewarnt, uns mit den Gefangenen zu unterhalten. Er bezeichnete sie als Kriminelle und als Abschaum der Menschheit, die auf die Bevölkerung einen schlechten Eindruck ausgeübt hätten.

Aussage gegenüber Rechtsanwalt Grünkorn:
Als ich bei Kalk- und Zement anfing, hatte ich vor der Übernahme des Lohnbüros zunächst keine umrahmte Tätigkeit. Das Lohnbüro hatte mit Geldzahlungen an die Gefangenen nichts zu tun. Die Gefangenen habe ich nur auf der Baustelle gesehen. Uns war es nicht erlaubt, das Gefangenenlager auf der anderen Straßenseite zu betreten. Von der Firmenleitung habe ich nie eine Aufforderung erhalten, Gefangene zu schlagen. Wie man deren inhumane Lebensbedingungen hätten verbessern können, habe ich nicht überlegt. Ebsen hat uns wiederholt gedroht. Weil ich nicht auch die Uniform der Gefangenen anziehen wollte, habe ich meinen Mund gehalten. Seit 1906 bin ich Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.“

Prozessakten, Public Record Office, London (Übersetzung der englischen Originale durch J.K)