Erinnern


Es dauerte bis 1982, als bekannt wurde, dass die Akten über den KZ-Schandelah-Prozeß im Londoner Public Record Office aufbewahrt wurden. Till Ausmeier und Jürgen Kumlehn, Mitglieder der Grünen Bürgerliste, fuhren in die britische Hauptstadt, sahen die Dokumente ein und ließen sie auf Microfilm bringen. So konnte die Wahrheit nach Schandelah zurückkehren.

Die Grüne Bürgerliste bat die im Rat der Gemeinde Cremlingen, zu der Schandelah nun gehörte, vertretenen Parteien (CDU und SPD) um Hilfe bei der Aufarbeitung dieser lokalen Geschichte. Die CDU bot im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfe an, die SPD hat trotz Erinnerung nicht geantwortet.

Am Buß – und Bettag 1982 fand in der Nähe des Häftlingslagers – das Grundstück ist im Privatbesitz – die erste Gedenkfeier statt. Am Rande der Durchgangsstraße wurde ein Holzkreuz errichtet. Ungefähr 200 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. Offizielle Vertreter der umliegenden Dörfer waren nicht gekommen. Eine Kranzschleife trug die Worte von Ilse Aichinger: Wer die Toten vergißt, bringt sie noch einmal um. Im Zentrum der Gedenkfeier stand die Frage, wo die Gräber der hier umgekommenen Männer verborgen liegen.

Doch bevor die Suche begann, geriet das Gedenken in das bürokratische Räderwerk des Niedersächsischen Straßenbauamtes in Wolfenbüttel, das als Eigentümerin der Fläche auftrat, auf der das Kreuz errichtet worden war und in den Widerstand einiger Einwohner der Siedlung Wohld, die ihren Wohnort nicht als ehemaliges KZ-Gelände bezeichnet sehen wollten.

Zwei Tage nach der Gedenkveranstaltung schrieb das Straßenverkehrsamt, das ca. 180 cm große Holzkreuz sei ohne Genehmigung errichtet worden. Da keine Baugenehmigung vorläge, verlangte der Amtsleiter die Beseitigung des Kreuzes innerhalb einer Woche. Vom KZ, von den Opfern, über die Gedenkfeier oder sonst Verständnisvolles war in dem Schreiben nichts zu entdecken. In der Antwort auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Amtsleiter stellte das Nieders. Landesverwaltungsamt später fest, dass für derartige Gedenk – Objekte keine Baugenehmigung erforderlich sei. Gegen geltendes Straßenrecht sei jedoch verstoßen worden. Um die Erinnerung an die Opfer nicht mit dem bürokratischen Sumpf deutscher Behörden zu beschädigen, wurde das Kreuz fristgerecht demontiert und für verständnisvollere Zeiten aufbewahrt.

Eine Bewohnerin der Siedlung, die den Widerstand gegen das Gedenken aktivierte, behauptete am Tag nach dem Buß- und Bettag, mit der Gedenk-Inszenierung sei ein neues Holocaust geschaffen worden. In der Siedlung gäbe es nun verweinte Kinderaugen, Judenschweine werden sie von ihren Mitschülern genannt. In einer Petition an den Nieders. Landtag forderte sie, die Genehmigung für die Einrichtung einer Gedenkstätte nicht zu gestatten, sondern das nur an neutralerer Stelle, z.B. in der Kirche oder im Kirchhof Schandelahs zu vollziehen. Einige Leute erhoben den Vorwurf, im Vorfeld der Gedenkfeier hätte erst mit den Einwohnern der Siedlung gesprochen werden müssen. Tatsächlich wäre das besser gewesen. Kommunalpolitiker lehnten eine Teilnahme an der Gedenkfeier mit der Begründung ab, sie wollten (angebliche) Parteipolitik nicht unterstützen. Dass sie durch ihre Abstinenz Parteipolitik betrieben hatten, merkten sie allerdings nicht.

Im September 1984 fragte die Cremlinger Grünen-Ratsfrau Ursula Schaefer den Schandelaher Kirchenvorstand, ob er der Errichtung eines Gedenksymbols für die KZ-Opfer in der Nähe der Ehrentafeln für die Gefallenen beider Weltkriege und der Erinnerungstafeln für Dr. Zschirpe und Bürgermeister Jürgens zustimmen könnte. Sie erhielt eine Antwort, kurz und bündig: Der Kirchenvorstand Schandelah kann Ihrem Antrag nicht zustimmen.

Die intensive Suche nach Gräbern in der Feldmark um das KZ-Gelände war erfolglos. Anfang 1983 erfuhr die Grünen-Landtagsabgeordnete Christel Schuran durch eine kleine Anfrage, dass die Gräber auf dem Scheppauer Friedhof lägen. Tatsächlich, nur 2 Kilometer vom Lagerort entfernt, wurde auf dem kommunalen Friedhof eine durch Hecken eingerahmte Grabfläche mit 61 im Rasen fast versunkenen Grabplatten gefunden. Ganz hinten in der Ecke steht auch heute noch eine Steinsäule mit der nicht gerade informativen Aufschrift:
DEM GEDENKEN DERER, DIE HIER RUHEN und DEM GEDENKEN DER HIER RUHENDEN OPFERN DER NATIONALSOZIALISTISCHEN GEWALTHERRSCHAFT.
Zur KZ – Wahrheit kein Hinweis. Die Grabplatten tragen viele Namen, aber auch den Schriftzug unbekannt. Laut Gräberliste liegen hier 14 Russen, 9 Letten, 11 Franzosen, 9 Dänen, 6 Belgier, 3 Deutsche, 1 Tscheche, 1 Holländer, 1 Spanier, 1 Grieche, 1 Italiener, 1 Pole und 3 Unbekannte.

Da Scheppau nicht zur Gemeinde Cremlingen und nicht zum Landkreis Wolfenbüttel gehört, sondern zur Stadt Königslutter, waren die Cremlinger für die Grabpflege nicht zuständig. So gerieten die Opfer hier in Vergessenheit. Die für die Gräber zuständige Stadt Königslutter pflegte zwar das Gräberfeld durch gelegentliches Grasmähen, dort kam aber niemand auf die Idee mal zu fragen, um was für hier begrabene Opfer es sich handelte.

Im Oktober 1983 besuchten durch Vermittlung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zwei ehemalige Gefangene, Eugene Marion aus Frankreich und Victor Malbecq aus Belgien, Schandelah und nahmen Kontakt zur Grünen Bürgerliste auf . Sie drückten ihre Freude darüber aus, dass es in dieser Gegend doch noch Menschen gab, die ihre ermordeten und umgekommenen Kameraden nicht vergessen wollten.

Zur zweiten Gedenkfeier im November kehrten sie zurück. Sie brachten Kameraden mit, darunter Jean Everaert und Fritz Bringmann. Am Buß- und Bettag 1983 fand auf dem wiedergefundenen Friedhof Scheppau – wieder ohne Beteiligung von Vertretern der Gemeinde Cremlingen – die erste Erinnerungsfeier mit Überlebenden statt. Eugene Marion zitierte die Aufschrift des Deportationsdenkmals auf der Ile de la Cité in Paris:Verzeih, aber vergiß nicht. Das sei die Devise der ehemaligen Gefangenen nach ihrer Befreiung geworden. Und: Wie können wir auch eine so tragische Epoche unseres Lebens vergessen? Wie können wir unsere furchtbaren Erinnerungen verjagen?

Das Engagement der ehemaligen Gefangenen und weiterer Besuche bei Gedenkfeiern führten zum Umdenken der zuständigen Politiker. 1985 errichteten die Gemeinde Cremlingen und der Landkreis Wolfenbüttel am Rande des einstigen Ölschiefertagebaus in der Siedlung einen Gedenkstein. Seitdem finden hier jedes Jahr im Mai von der Gemeinde organisierte Gedenkfeiern statt, an denen ehemalige Gefangene und ihre Angehörigen teilnehmen.

Am 1. Mai 1995 errichtete die Stadt Königslutter auf dem Scheppauer Friedhof einen Gedenkstein mit einem erklärenden Text. Das Kreuz vom Buß- und Bettag 1982 durfte, nachdem es lange in einer Scheune gelegen hatte, ebenfalls für immer auf dem Friedhof errichtet werden. Mitglieder des SPD – Ortsvereins Scheppau kümmern sich seit einigen Jahren um die Pflege der Gedenkstätte und richten die Gräber für die jährliche Gedenkfeier in würdiger Weise her.

Muss man noch immer erinnern? Manche dieser Diskurse oder Kontroversen weisen auf Ermüdungserscheinungen des öffentlichen Gewissens hin. Manchmal hatte die Frage im Raum gestanden, ob nicht die Zeit gekommen sei, die Vergangenheit ruhen zu lassen, ob man in der zweiten und dritten Generation nach dem Ende der Nazi – Diktatur nicht unbelastet Politik treiben könne, ob man auch im nunmehr 21. Jahrhundert noch an die Barbarei des 20. erinnern müsse. Doch daneben wurde gerade in jüngster Zeit auch die Verpflichtung betont, die sich aus einer mit Unrecht verknüpften Geschichte für Gegenwart und Zukunft ergibt, oder auf die Gefährdung hingewiesen, die mit dem Vergessen einhergehen. Ich glaube, dass Gedenken eine bleibende Aufgabe ist.

Aus der Ansprache von Hilmar Mittendorf, stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Cremlingen, anlässlich der Gedenkfeier am 1. Mai 2003