6. Prozesstag


„8. Januar 1947.


Der Zeuge Gorsler fährt, mit seiner Aussage fort:
Die Versorgung des Lagers mit Wasser bereitete eine ganze Reihe von Problemen. Anfangs wurde das Wasser an der Schmiede in die Tonnen gefüllt und von dort aus ins Lager transportiert. Im September 1944 konnte in der Küche fließendes Wasser installiert werden, danach allmählich auch im Lager. Pfingsten 1944 wurde die Wäsche der Gefangenen von einer Braunschweiger Wäscherei gewaschen. Beweisstück 25 ist ein Brief meiner Firma an den Lagerführer Jauch vom 18. Mai 1944. Darin heißt es: Wir teilen ihnen mit:, daß wir am Montag, den 22. d.M. die Häftlingswäsche der Wäscherei zuführen müssen, wenn diese noch zu Pfingsten wieder zurückgeliefert werden soll. Wir bitten Sie, die schmutzige Wäsche zur Abholung bereit zu halten und zwar am Montag Morgen um 8 Uhr. Unser Herr Koch hat den Auftrag, Ihnen das für den Transport nötige Fahrzeug zur Verfügung zu stellen und bitten Sie, dieserhalb mit Herrn Koch Rücksprache zu nehmen. Heil Hitler!

Danach hat nur noch der Lagerkommandant die Wäsche zur Wäscherei geschickt, wenn er es für erforderlich hielt. Es war im Oktober 1944 wegen der großen Bombenschäden sehr schwierig, eine Wäscherei zu finden. Wir bemühten uns sehr darum. Auch in Wolfenbüttel hatten wir keinen Erfolg. Obwohl es sehr schwierig war, große Waschkessel zu kaufen, waren im Lager einige für die Schmutzwäsche errichtet worden. Die Firma Steinöl hat für die Gefangenen Medikamente zur Verfügung gestellt. Ich lege ein Schreiben des Lagerkommandanten vom 16.Mai 1944 an meine Firma vor: Wir teilen Ihnen mit, daß gestern der zuständige Lagerarzt Herr Dr. med. Zschirpe aus Schandelah unser Krankenrevier mit Ambulanz besichtigt hat. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Medikamente und Verbandsstoffe überprüft und dabei festgestellt, daß für eventuell vorkommende Krankheitsfälle und Unfälle diverses Material noch fehlt. Wir überreichen Ihnen beigeschlossen die von Herrn Dr. med. Zschirpe aufgestellte Beschaffungsliste mit der Bitte, dafür besorgt zu sein, daß die Medikamente und Verbandsstoffe umgehend dem Lager noch zugeführt werden.
Der Kommandoführer Jauch, SS-Oberscharführer.

Die Bleistiftnotiz auf dem Schreiben stammt von mir und bedeutet: Muß sofort ausgeführt werden. Die dem Schreiben beigefügte Liste wurde als Bestellung an die Post-Apotheke in Braunschweig weitergeleitet. Im Schreiben vom 17.Mai 1944 wird das Braunschweiger Büro meiner Firma von den Kollegen in Schandelah aufgefordert, die Medikamente zu beschaffen (Beweisstück 28): Wir bitten möglichst umgehend die vom Lagerarzt auf beiliegender Liste bezeichneten Arzneien zu beschaffen und der Lagerapotheke zur Verfügung zu stellen. Außerdem bitten wir die beiden Rezepte für erkrankte Wachmänner ausfertigen zu lassen und getrennt uns zu überweisen
. Bauleitung Schandelah .

Außer diesen sind entsprechend der Anforderungen des Lagerkommandanten oder des Arztes noch weitere Materialien für das Lager beschafft und geliefert worden. Im September 1944 wechselte die Verantwortung für die Beschaffung medizinischer Artikel in eine andere Abteilung meiner Firma. Ich hatte die Versorgung des Lagers mit Heizmaterialien zu organisieren. Die Mengen, die uns das Wirtschaftsamt genehmigte, wurden zum Lager geliefert. In einem Schreiben meiner Firma vom 13. Juni 1944 an die Verwaltung des Lagers heißt es:
Betr.: Arbeitslager Schandelah Wir haben der Lagerküche heute 80 Ctr. Brikett zugeführt. Sie sollen bitte den Verbrauch der Feuerung überwachen und darauf achten, daß die Brikett ausschließlich nur für die Küche Verwendung finden und nicht etwa für die Baracken-Heizung. Hierfür kommt ausschließlich die Verwendung von Koks infrage. Das Kohlenwirtschaftsamt mahnt zum sparsamsten Verbrauch und verweigert Bezugscheine, wenn dieselben über das Maß hinausgehen, was sich in letzter Zeit leider gezeigt hat. Heil Hitler!
Steinöl-Gesellschaft m.b.H.

In einem Schreiben der Kohlenhandlung Frommann (Beweisstück 32) wird meine Firma aufgefordert, für eine Lieferung von 100 Zentner Briketts am 3.August 1944 nach Schandelah die Reichskohlenkarte nachzuliefern. Ich antwortete der Kohlenhandlung in einem Schreiben vom 25.August 1944 wie folgt:
Wir nehmen Bezug auf Ihr Schreiben vom 22. d.M. und überreichen Ihnen anbei Bezugsrechte über 60 Zentner Brikett und zwar für die Lieferung vom 3.8.44. Für die fehlenden 40 Zentner werden wir Ihnen in den nächsten Tagen den Bezugsschein noch übermitteln. Der Herr Paul vom Landratsamt hatte leider keine Formulare mehr vorrätig. Ferner hatten wir Ihnen telefonisch einen weiteren Auftrag über 100 Zentner Brikett erteilt und bitten Sie, dieses Quantum in den nächsten Tagen unserer Baustelle zuzuführen. Auch diesen Bezugsschein werden wir Ihnen gleich nach der Erledigung des Auftrages zukommen lassen.
Heil Hitler!
Steinöl-Gesellschaft m.b.H.

Die Arbeitszeit der Gefangenen wurde von der Technischen Abteilung geregelt und betrug zwischen 11 bis 12 Stunden pro Tag. Ich gehe davon aus, daß die Vorgaben dafür von Prof. Wittig bestimmt wurden. Bestimmte Arbeiten mußten in einer festgelegten Zeit ausgeführt werden. Oft kamen Herren aus Berlin, die sich um die besonders wichtigen Arbeiten kümmerten. Dann rief Wittig seine Assistenten zusammen und teilte ihnen mit, wieviel Zeit zur Fertigstellung dieser Arbeit übrig blieb. Aufgrund der Nachfragen der Rechtsanwälte Grünkorn, Schmidt, Will, Giffhorn und Peters macht der Zeuge Gorsler die folgende Aussage: Wegen der anfänglich geringen Zahl von Mitarbeitern mußten wir uns untereinander in den verschiedenen Aufgaben helfen. Ursprünglich hatte ich rationierte Materialien zu beschaffen und war für die Beschaffung der Lebensmittel bis Oktober zuständig. Mein eigentlicher Aufgabenbereich lag jedoch in der Beschaffung von Baumaterialien für die Errichtung der Öfen, in der Versorgung des Fuhrparks mit Kraftstoff und des Ölschiefertagebaus mit den erforderlichen Hilfsmitteln.

Weil Holz rationiert war, mußten wir unseren Bedarf an das Wirtschaftsamt in Berlin melden. Zuständig für den Einkauf des Holzes war Herr Essen, der für die Einholung der Genehmigungen nach Berlin fahren mußte. Das Holz durfte nur für die genehmigten Zwecke verwendet werden. Hätte ich dem zuwidergehandelt, wäre ich ebenfalls eingesperrt worden. Die von uns benötigten Mengen an Holz haben wir nur selten auch tatsächlich erhalten. Auch für den Einkauf von Zement mußten wir Genehmigungen einholen. Mir ist nicht bekannt, daß Zement nur gegen die Rückgabe der leeren Tüten geliefert wurde.

Von der Existenz eines Prämiensystems zur Auszahlung von Geld habe ich nie gehört. Soweit ich weiß, wurden Prämien in Form von Lebensmitteln an die Gefangenen ausbezahlt, die besondere Arbeitsleistungen erbracht hatten. Damit hatte ich nichts zu tun, weil dafür die Technische Abteilung zuständig war. Der Leiter der Bauabteilung, Herr Koch, hat vom Konzentrationslager Neuengamme schriftlich Häftlinge angefordert. Beweisstück 41 ist ein Schreiben Kochs an den Neuengammer Lagerkommandanten Pauli:

Schandelah, den 25.5.1944
Im Nachgang zu unserem Schreiben vom 17.5. 1944, mit welchem wir weitere 28 Facharbeiterhäftlinge anforderten, bitten wir hiermit uns zum 10. Juni 1944 weitere 135 Häftlinge zuzuführen. Die Verteilung in Fach- und Hilfsarbeiter bitten wir wie folgt vorzusehen:

1 Gleisbauschachtmeister
1 Erdbauschachtmeister
1 Betonpolier
2 Diesellokführer, Lokomotive 90 cm Spur, 165 PS
2 Dampflokführer, 90 cm Spur, 200 PS
4 Schlosser
2 Schmiede
1 Stellmacher
4 Mauerer
10 Zimmerer
1 Bauingenieur
2 Bautechniker
1Bauzeichner
1 Lohnbuchhalter
2 Bauschreiber
100 Hilfsarbeiter
135 Häftlinge
Für Ihre Bemühungen danken wir Ihnen bestens.
Heil Hitler!
Bauleitung Schandelah, Koch.

Mit der Beschaffung von Kleidung für die Gefangenen hatte ich nichts zu tun, weil das von Neuengamme zu erledigen war. Beschafft habe ich allerdings Gummistiefel und Regenumhänge, wieviel, weiß ich nicht mehr. Nicht alle Gefangenen, glaube ich, trugen Gummistiefel. Ich habe schon betont, daß wir die Medikamente und Verbandsmaterialien gekauft haben, die der Lagerkommandant anforderte. Die Firma Steinöl war bei der Bereitstellung dieser Materialien sehr großzügig. Anfangs mußte ich vor dem Einkauf dieser Dinge die Genehmigung Ohlens einholen. Später erledigte das auch die Technische Abteilung. Daß Wittig derartige Anforderungen abgelehnt haben soll, ist mir nicht bekannt. Ich habe einmal mit Dr. Siegel über den Einkauf der Arzneimittel gesprochen. In dem Monat, teilte er mir mit, hätte die Firma Steinöl dafür bereits 3.700 Mark ausgegeben. Einem Sanitäter aus Drütte, der von mir 750 Mark für den Kauf von Rasiermessern und Haarschneidemaschinen verlangte, habe ich die entsprechende Summe ausgezahlt.

Auch Seife gehörte zu den rationierten Wirtschaftsgütern. Mit einem Schreiben an das Wirtschaftsamt Braunschweig vom 18. Mai 1944 hatte ich um die Zuteilung von Reinigungsmaterialien gebeten. (Beweisstück 38) Wir haben in Schandelah ein Barackenlager eingerichtet. In demselben sind 128 Häftlinge sowie 24 Wachmannschaften untergebracht. Für die Durchführung der Sauberkeit des Lagers benötigen wir Besen, Schrubber, Putzlappen, Reinigungsmittel, vor allen Dingen auch für die Körperpflege die dazu erforderliche Seife, auch Rasierseife. Wir bitten um entsprechende Zuteilung und bemerken dabei, daß die Häftlinge bereits schon 14 Tage im Lager wohnen. Heil Hitler!
Steinöl-Gesellschaft m.b.H .

Von der Lieferung der Seife habe ich nur gehört, selber gesehen habe ich es nicht. Ich nehme an, daß weitere Lieferungen von Reinigungsmitteln durchgeführt worden sind. Im Büro habe ich öfter Lieferungen ankommen gesehen, die dann von Herr Koch abgeholt wurden. Von einer Desinfizierung des Lagers ist mir nichts bekannt. Im Gefangenenlager bin ich nie gewesen. Wie uns Zivilisten verboten war, mit den Gefangenen zu sprechen, war uns auch der Aufenthalt im Gefangenenlager nicht gestattet. Niemand hat uns jemals er zählt, was dort geschah. Das Verhältnis der Zivilisten zu den Gefangenen war frei von der Frage der Mißhandlungen. Als wir Schwierigkeiten mit der Wasserversorgung hatten, wurde beschlossen, Bier einzukaufen. Ich lege dem Gericht Rechnungen der National-Jürgens-Brauerei Braunschweig vor, aus denen hervorgeht, daß in der Zeit vom 24. Juni bis zum l. Juli 1944 100 Flaschen Bier und 2,14 Hektoliter Schankbier an das Lager in Schandelah geliefert worden war.(Beweisstück 40)

Vor der Installierung der Wasserleitung wurde das Wasser in großen Bottichen von einem Bauern mit einem Pferdewagen angeliefert In der Kantine für die Zivilisten habe ich nie gegessen. Ich habe aber von Beschwerden über das schlechte Essen dort gehört. Entgegen der Bestimmungen über die Höhe der Essensrationen habe ich zusätzliche Lebensmittel eingekauft. Ich bin davon überzeugt, daß die Versorgung der Gefangenen mit Kartoffeln besser war als die der Zivilbevölkerung. Deren Essen war sicher kalorienhaltiger als das Essen, was wir zur Zeit bekommen. Die Brotlaibe wogen nie weniger als 1500 Gramm. (Auf eine Frage des Gerichts antwortete der Zeuge: Ich habe sie nie nachgewogen.)

Ebsen hat mehrmals Heizmaterialien angefordert. Er rief mich dann an, und ich versuchte – manchmal auch auf nicht ganz legalem Weg, die Kohle zu bekommen. War es besonders dringend, holten wir die Kohle sogar selber ab. Sie wurde in einem Schuppen hinter der Küche gelagert und von Ebsen verteilt. Die industrielle Kohle zum Betrieb der Öfen wurde im Gefangenenlager nicht verwendet. Einmal bat ich Ebsen, uns Kohle aus seinen Beständen zu leihen. Er hat sie wieder zurückbekommen. Nein, wir haben die Gefangenen nicht um die ihnen zustehende Kohle betrogen . Ich hatte den Eindruck, daß Ebsen alles tat, das Los der Gefangenen zu erleichtern. Meine Firma hat sich an alle mit dem KZ Neuengamme getroffenen Vereinbarungen gehalten. Ohlen hat mir gegenüber oft betont, daß alle Wünsche des Lagerkommandanten erfüllt werden müßten. Für die Trockenlagerung verschiedener Materialien hatte ich ein großes Zelt gemietet. Davon übriggeblieben sind nur traurige Reste, weil sich die Gefangenen aus den Zeltplanen Fußlappen angefertigt haben. Ich lege dem Gericht ein Schreiben vom 26. Mai 1944 vor (Beweisstück 39), mit dem die Bemühungen meiner Firma bei der Beschaffung von Materialien belegt werden, die zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gefangenen beitragen sollten:

Wir mahnen noch einmal die fehlenden Teile für die Häftlingsunterkunft:

84 Wolldecken
20 Türdrücker
28 Strohsäcke
20 Fensterscheiben
28 Kopfkeile
Dachpappnägel
Heil Hitler!
Stein öl G.m.b.H.

Auf die Frage Major Drumgooles zur Todesrate unter den Beschäftigten der Firma Steinöl antwortet der Zeuge Gorsler: Im Dezember 1944 waren bei Steinöl 100 Mitarbeiter beschäftigt. In der Zeit zwischen November und März ist keiner unserer Mitarbeiter gestorben. Auf weitere Rückfragen des Gerichts antwortet der Zeuge Gorsler: Auf der Baustelle lag mein Büro in der Verwaltungsbaracke an der Seite zum Wald. Aus meinem Fenster konnte ich die Öfen und den Schiefer-Tagebau nicht sehen. Mein eigenes Frühstück bestand im Dezember 1944 aus Kaffee und drei Scheiben Brot mit Butter und Marmelade. Mittags aß ich ein doppeltes, belegtes Brot. Abends gab es bei mir zu Hause ein warmes Essen, meistens aus Gemüse, Kartoffeln und Würsten oder Fleisch, die man in der Fleisch-Zuteilung erhielt. Das Büro war immer geheizt, allerdings nicht sehr warm.
Meine Arbeit bestand nicht nur aus einer sitzenden Tätigkeit, oft war ich auch irgendwo unterwegs. Während der Wintermonate hatte ich um fünf Uhr Feierabend, sonst etwas später. Auf dem Weg zum Schandelaher Bahnhof, von wo ich immer mit dem Abendzug nach Braunschweig fuhr, begegneten mir die Gefangenen auf dem Rückmarsch ins Lager. Die Kapos und einige andere Männer sahen ganz gut aus. Von dem Diebstahl der Zeltplane hörte ich, als mein Büro noch in Schandelah lag. Ich sah keine Notwendigkeit, dagegen einzuschreiten, nachdem ich bemerkt hatte, daß die Gefangenen gar keine Strümpfe hatten.

Vom SS-Wachpersonal kannte ich nur Ebsen gut. Wenn ich im Lager war, ging ich immer zu ihm, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Ich habe ihn nie mit Gefangenen gesehen. Truschel bin ich ein Mal begegnet, er trug eine Waffe. Ich lege dem Gericht einen von mir verfaßten Brief vom 24. Mai 1944 an Oberscharführer Jauch (Beweisstück 42) vor, in dem die Behandlung der Kranken geregelt wird. Meines Wissens ist die folgende Regelung nie geändert worden:

Wir bestätigen hiermit noch die Unterredung, die Sie mit unserem Herrn Gorsler am 20.d.M. über die evtl. krank werdenden Häftlinge hatten. Danach sollen alle Häftlinge, die einer längeren Behandlung unterzogen werden müssen, unverzüglich nach dem Lager Drütte überführt werden. Es wurde ausdrücklich dabei betont, daß die erste Hilfe durch unseren Vertragsarzt, Herrn Dr. Zschirpe, Schandelah, zu erfolgen hat. Sollten Erkrankungen leichterer Natur vorkommen, die durch kurze Revierbehandlung geheilt werden können, verbleiben die Häftlinge im Lager. In allen anderen Fällen scheiden Erkrankte aus unserem Arbeitsverhältnis aus. Ich bitte um Gegenbestätigung.
Heil Hitler!

Als nächste Zeugin tritt die Tochter des Schandelaher Hausarztes, Ursula Zschirpe vor das Gericht. Ich bin Deutsche, wohne in Schandelah und bin 1916 geboren. Von Beruf bin ich medizinische Assistentin. In der Praxis meines Vaters arbeitete ich bis zu seinem Tod im April 1945. Ich erinnere mich an den Besuch zweier Zivilisten, die irgendwann 1944 meinen Vater zu einem Gespräch aufgesucht haben. Er teilte mir danach mit, er sei um die ärztliche Betreuung des SS-Lagers in Wohld gebeten worden, über seine Tätigkeit dort hat er mir kaum etwas erzählt. Er wurde immer telefonisch vom Lager angefordert, um die toten Gefangenen zu untersuchen. Begonnen hat die Tätigkeit am 9. November, über seine Besuche machte er sich kurze Notizen. Anhand dieser Aufzeichnungen habe ich die Todesfälle zusammengezählt:
November 9
Dezember 34
Januar 28
Februar 21
März 28
zusammen: 129 Tote.
Am 9. November heißt es zum Beispiel:
Lager, 2 Totenschau, Besuch.
Die Eintragungen sind handschriftlich, jedoch ohne Erwähnung der Todesursachen. Da ich auch die Buchhaltung der Praxis geführt habe, weiß ich, daß mein Vater für seine Besuche im SS-Lager kein Geld erhalten hat.

Frau Zschirpe beantwortet die Fragen der Rechtsanwälte Grünkorn, Will und Giffhorn:
Mein Vater praktizierte in Schandelah seit 1913. Er hatte ein Gebiet von ungefähr 7 Kilometer im Umkreis zu betreuen. Außer ihm gab es in Schandelah keinen anderen Arzt. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Wehrmacht kehrte er 1940 oder 41 zurück. Bereits vor dem Krieg hatte er sehr viel zu tun. Nach seiner Rückkehr aus der Wehrmacht mußte er die Vertretung anderer Ärzte in der Umgebung übernehmen und bekam noch mehr zu tun. Meistens machte er Hausbesuche und verließ die Praxis nach Ende der Sprechstunde, die um 8 Uhr begann und meistens zwei Stunden dauerte. Zum Mittagessen kehrte er zurück, weil nachmittags keine Sprechstunden waren, fuhr er zwischen 3 und 4 Uhr wieder weg. Im Durchschnitt machte er 15 bis 20 Besuche jeden Tag. Abends war er immer sehr müde. Mit mir sprach er nur über die Hausbesuche, nicht aber über das Lager. Meine Mutter und ich nahmen während seiner Abwesenheit Anrufe entgegen, über die wir kurze Notizen machten. Die Krankheiten der Patienten habe ich nicht notiert, außer manchmal einige Symptome, um so meinem Vater die Möglichkeit zu geben, die Wichtigkeit besser einzuschätzen.

Ich habe auch Anrufe aus dem Lager entgegengenommen. Dann wurde einfach gesagt: Es ist für eine Totenschau. Ich bin sicher, daß mein Vater nur zur Durchführung der Totenschauen ins Lager gerufen wurde. Warum mein Vater kein Geld verlangt hat, weiß ich nicht. Er war kein Mitglied der NSDAP. An einem der letzten Tage vor dem Einmarsch der Alliierten in Schandelah ist er erschossen worden. Die Gründe sind mir nicht bekannt. Eine Untersuchung des Todes meines Vaters war ohne Ergebnis geblieben. Wir hatten im Jahr 1944 keine Schwierigkeiten, Arzneimittel zu bekommen. Ob es 1945 anders war, kann ich nicht beurteilen. Manchmal sprach er zwar von Schwierigkeiten, einen Mangel an Arzneimitteln habe ich aber nicht erlebt. Es war auch immer genügend Chloroform vorhanden, und andere Betäubungsmittel. Operative Behandlungen vermittelte er an Spezialisten in Braunschweig.

Der Zeuge Walter Schulze wird vom Gericht vernommen:
Ich bin am 15. Juni 1880 geboren, besitze die deutsche Staatsbürgerschaft und wohne zur Zeit in der Helmstedter Straße in Braunschweig. Von Beruf bin ich Pathologe und Leiter des Pathologischen Institutes in Braunschweig. Von der Braunschweiger Landesregierung hatte ich den Auftrag erhalten, bei Schandelah einer Exhumierung beizuwohnen. Auf einem Gelände an der Nord-Ost-Seite des Lagers wurden 113 Leichen exhumiert. Es kann sein, daß wegen des feuchten Geländes einige Leichen gar nicht gefunden worden sind. Die Leichen haben dort zwischen eineinviertel und eineinhalb Jahren gelegen. Es war unmöglich, bei den meisten Überresten die Todesursache genau zu bestimmen. An vier Leichen konnte als Todesursache Lungenentzündung festgestellt werden, und an einer Lungentuberkulose. An einer Leiche war eine Schußverletzung am Kopf zu erkennen. Der Ausgang des Schußkanals lag an der Rückseite des Schädels. Die Gehirnschale war vollkommen zerstört. Wir haben 12 Särge gefunden. In einigen davon lagen mehrere Leichen gleichzeitig. Die anderen Körper lagen in Löchern mit einer Grundfläche von einem Quadratmeter und nur 50 Zentimeter Tiefe. Manchmal lagen bis zu drei Körper in einem Loch

. Der Zeuge Schulz beantwortet Fragen der Rechtsanwälte Grünkorn, Schmidt, Will und Giffhorn:
Das Kaliber der Kugel kenne ich nicht. Ich gehe davon aus, daß der Schuß ins linke Auge gegangen ist. Wahrscheinlich hat der Mann auf der Erde gelegen, als auf ihn geschossen wurde. Seine Staatsbürgerschaft war nicht mehr festzustellen. Auf einer Liste mit Todesursachen, die ich erhielt, stand: durch Tiefflieger erschossen. Auf den von mir hier beschriebenen Fall kann das keinesfalls zutreffen. Der Schuß muß aus einer niedrigen Höhe erfolgt sein. Die bei einigen Leichen aufgefunden Kennmarken bestanden aus schmalen Metallstreifen mit aufgeprägten Nummern. Es waren nicht die gleichen, wie sie bei der Wehrmacht benutzt wurden.
Da ich schon seit 1909 in Braunschweig lebe, habe ich gute Verbindungen zum Gesundheitsdienst. Die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln war im Jahr 1944 nach meiner Kenntnis sehr gut. Natürlich waren einige Dinge knapp. Das Verbandsmaterial bestand in einigen Krankenhäusern nur aus Papier. Da viele Drogerien besonders im Braunschweiger Stadtzentrum am 15 Oktober 1944 zerstört worden waren, hatte anders als die Krankenhäuser die Bevölkerung Probleme mit der Beschaffung von Arzneien. Nachdem in Bunkern Arzneilager angelegt worden waren, wurde auch die Versorgung wieder besser. Die Todesursachen der KZ-Gefangenen lassen sich nicht mit denen der deutschen Bevölkerung vergleichen. Ich habe in den letzten Kriegsjahren Leichen untersucht, die sehr dünn und unterernährt gewesen waren. Ein Mann mit 40 Grad Fieber und doppelter Lungenentzündung kann meines Erachtens nicht mehr arbeiten.

Nachfragen des Gerichts und Major Drumgooles:
Ich glaube nicht, daß die von mir untersuchte Schußwunde dem Mann auf der Flucht zugefügt worden sein kann. Ein Mann, der Deckung vor Tieffliegern sucht, wird unmöglich mit dem Gesicht nach oben liegen bleiben. Der Schuß kann meines Erachtens nur von einem Mann erfolgt sein, der vor dem auf der Erde liegenden Mann stand. Den Tod durch einen Querschläger schließe ich aus. Die damalige Todesrate der Deutschen betrug ohne die Bombenopfer 10 von Tausend im Jahr 1944. Darunter waren nur wenig Tote, die an Hunger oder Unterernährung gestorben waren.“

Prozessakten, Public Record Office, London (Übersetzung der englischen Originale)