Sonnenwende


Sonnenwendfeier

Im Juni 1923, sieben Monate nach der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe Wolfenbüttel und ein paar Tage nach der Aufstellung der SA-Truppe waren die Nazis nach Kneitlingen am Elm gepilgert, um dort das erste Mal in größerem Rahmen an die Öffentlichkeit zu treten. Als Anlaß benutzten sie die Feier der Sonnenwende, die die ländliche Bevölkerung seit Jahrhunderten gemäß mit dem Abbrennen großer Feuer beging. Dieses bäuerliche Brauchtum, das trotz kirchlicher Verbote überlebte, markierte den Beginn der Ernte. Den ersten Schnitt des Korns und das Einbringen der letzten Garbe nutzten die von „Blut und Boden“ getränkten Nationalsozialisten für die Bindung der bäuerlichen Bevölkerung an ihre Ziele. Die Sonnenwendfeiern und die folgenden Erntedankfeste waren im Jahresablauf besonders gepflegte Festtage. Der bis 1937 pompös organisierte Erntedanktag auf dem Bückeberg bei Hameln, an dem auch Bauern aus der Region Wolfenbüttel teilnahmen, diente vor allem dazu, den Bauernstand zu ehren und ihn ideologisch und politisch in die Bewegung zu integrieren.

Schon allein deshalb bot sich das alte Bauerndorf Kneitlingen an, Ort dieser in der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung historischen Veranstaltung zu werden. Aber das Dorf hatte noch andere Vorteile: Der damalige Ortsvorsteher unterstützte das Vorhaben, Kneitlingen lag verkehrsgünstig mit einem Bahnhof an der Braunschweig-Schöninger Eisenbahn, ein Feuer am Elmrand würde weit ins Land hinein leuchten und, nicht zuletzt bot sich ihnen die Möglichkeit, den fast sechshundert Jahre alten Eulenspiegel, angeblich in Kneitlingen geboren, für ihre monumental-geschichtlichen Zwecke zu mißbrauchen.

Eine nationalsozialistische Chronik erinnert an diese erste Sonnenwendfeier, aus der nach 1933 ein besonders gepflegter nationalsozialistischer Feiertag erwuchs: „…die wir mit Unterstützung des damaligen Ortsvorstehers Quidde zusammen mit der Wolfenbütteler Parteigenossenschaft abhielten. Im Sonderwagen ging es am letzten Sonnabend im Juni nach Kneitlingen, wo bereits das Parteimitglied Klie mit den jungen SA-Leuten Quartier gemacht und die notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte. Die Männer schliefen auf Stroh in der Scheune, die Frauen wurden im Tanzsaal einquartiert. Die bereits vorher eingetroffenen Wolfenbütteler Parteigenossen holten gemeinsam mit dem Vorkommando die Braunschweiger im großen Zuge vom Bahnhof Kneitlingen ab, und bei Dunkelheit ging es zum Sonnenwendfeuer. Ein großer Holzstoß mit Hakenkreuz wurde angezündet. Die Feuerrede hielt unser erster Ortsgruppenführer Arthur Becker. Am nächsten Tage, dem Sonntag, ging der Rückmarsch über den Teztelstein vor sich.“

Zehn Jahre danach erinnerten sich die alten Kämpfer dieses prägenden Ereignisses, bei dem die alten Raufbolde den „Grundstein der Bewegung für den Gau Niedersachsen gelegt“ hatten: „Denn neben dem Gauleiter Pg. Rust war auch der nimmermüde Trommler der Bewegung, der unvergeßliche Pg. Dinklage vor zehn Jahren in Kneitlingen, um hier ein Fundament zu schaffen, auf dem später aufgebaut werden konnte. Dieses Fundament, das sich in der Entwicklungsgeschichte der NSDAP, in der engeren Heimat Niedersachsen und darüber hinaus als zuverlässig und unzerstörbar erwiesen hat, bestand aus Vertrauen, zäher Ausdauer im Kampfe und bedingungsloser Unterordnung unter den Führer.“

Um den später dazugekommenen Parteigenossen eine eindrucksvolle Erinnerung zu ermög-lichen, entschloß sich die NSDAP-Zelle Kneitlingen, die organisatorisch zur Ortsgruppe Evessen gehörte, im Einvernehmen mit der Kreisleitung Wolfenbüttel 1933, eine Jubiläums-Sonnenwendfeier im größeren Rahmen zu veranstalten. Das Programm sah eine Beteiligung der Nazi-Führer des Freistaates und anderer Parteigrößen vor: Ministerpräsident Klagges, Staatsminister Alpers, den Staatsräten Schmidt-Bodenstedt und Bertram, dem SA-Oberführer Sauke und dem SS-Abschnittführer Mark. Die Ausgestaltung des Spektakels besorgten die Amtswalter der Kreise Braunschweig und Wolfenbüttel unter Beteiligung der SA-Standarte 46. Zum An- und Abtransport der Mitgliedermengen fuhren Sonderzüge; und damit jeder einfache Parteigenosse „einmal die Freuden und die Sorgen einer Unterkunft erleben konnte, wie sie der SA-Mann so oft hatte“, waren einfache Massenquartiere eingerichtet worden.

Kneitlinger Landwirte stellten ihre Wiesen zur Verfügung, auf denen drei große Tanzzelte errichtet waren. Ein speziell hergestelltes Festabzeichen, das in den Partei-Geschäftsstellen erworben werden konnte, diente der Finanzierung der Massenveranstaltung. Die Schöppenstedter Elm-Zeitung berichtete von „Tausenden von Nationalsozialisten“, die in das festlich geschmückte Kneitlingen gekommen waren: „Tannen- und Birkengrün schmückten die Häuser, die Dorfstraßen wehten im Schmuck der Fahnen Adolf Hitlers.“ Die Feierlichkeiten begannen mit der Ehrung der Gefallenen und der Toten der Bewegung am Kriegerdenkmal. Pastor Teichmann predigte vor den Fahnenabordnungen, dem SA-Ehrensturm und dem Gemeinderat: „Wir stehen heute zum erstenmal an diesem Kriegerdenkmal und brauchen uns nicht zu schämen, denn durch Adolf Hitler haben wir es so weit gebracht, daß wir wieder vor unsere Toten, die in unserem Sinne gefallen sind, hintreten dürfen.“

Um 16 Uhr empfingen die Versammelten die Ehrengäste, die oben bereits erwähnten Nazi-Führer, die nicht mit dem Zug, sondern standesgemäß, mit einem Kraftwagen anreisten. Alpers und Klagges zu Ehren ertönte der Präsentiermarsch, dann marschierte Prominenz und Anhang zum Festplatz. Hier versammelten sich zunächst die Amtswalter, die Angestellten und Beamten der Parteiorganisation, um aktuelle Anweisungen entgegenzunehmen. Nach der Begrüßung durch den NSDAP-Ortsgruppenleiter und Domänenpächter Karl Deeke aus Evessen ergriff Staatsrat Schmidt-Bodenstedt das Wort. Der junge Parteibuchaufsteiger nutzte das anhaltende Regenwetter, das den Nazis die erhoffte Zündelei zu vermasseln drohte, um die unteren Chargen anzuspornen: „Ob das Feuer heute abend brennt, ist für Amtswalter und Kämpfer Nebensache: die Hauptsache ist, daß das Feuer in uns so brennt, wie es in den Herzen derer gebrannt hat, die hier schon vor zehn Jahren weilten. Daß dieser Brand noch einmal in unserem Herzen so brennen möge wie damals, das ist für uns die Hauptsache!“

Da das Feuer aber offenbar noch nicht in allen Deutschherzen brannte, gab der völkische Pädagoge unumwunden zu, dass sich die Masse der „verspießten Bürger“ nicht ohne weiteres einreihen ließe; um sie ginge es in der Hauptsache auch gar nicht: „Unser Kampf geht um die Menschen, die die beiden Kräfte in unserem Volk verkörpern, die das Volk und die Nation festfügen und bereit sind, dafür einzutreten: Das ist die Jugend und das ist die Arbeiterschaft. Diese beiden zu gewinnen und mit unserem Feuer zu erfüllen, muß unsere Aufgabe sein. Dann mag kommen, was will: Das Dritte Reich wird nie zerstört werden.“

Den ergeben lauschenden Parteiangestellten gab er die aktuelle Richtung an: „Diejenigen, die jetzt zu uns kommen, werden erfaßt und geschult für die Partei durch den Amtswalter. Er hat uns dafür gerade zu stehen, daß die Bewegung nicht verfälscht wird; er ist auch für die Zu-kunft verantwortlich, dafür, daß die Bewegung rein bleibt.“

Er warnte die Männer mit einem Satz, der innerparteiliche Schwierigkeiten vermuten ließ: „Von dieser Verantwortung wird man ihn nicht freisprechen, wenn das Werk verloren gehen sollte.“ Zusammenhalt fördere den revolutionären Geist: „Dann mag der Teufel oder sonstwer kommen: Wir werden sie zermalmen.“

Karl Deeke versprach im Namen aller, dem Führer die Treue zu halten. Zum Schluß meldete sich noch Heinrich Bode zu Wort: Er gedachte des toten Rucksackmajors Dincklage und erin-nerte an den Beginn des Kampfes: „Wer hätte daran gedacht, daß wir schon nach zehn Jahren den Marxismus totgeschlagen hätten. Der feste Glaube an Deutschlands Zukunft war unsere Zuversicht in unserem Kampfe, es war das Treue-Gefühl zu unserem Führer Adolf Hitler, das wir ihm an diesem Feuer schworen.“

Im Auftrag von Klagges vom Bildhauer Schidt-Reindahl in den dreißige Jahren geschaffene Skulptur Till Eulenspiegel, nach 1945 in Kneitlingen errichtet.

Nach dieser Verhöhnung bisher geschundener Andersdenkender, an diesem Tag lebten Fritz Fischer und seine Genossen noch, besichtigte die braune Führungsclique den als „Eulenspie-gel-Geburtshaus“ bezeichneten Bauernhof; über diesen Programmpunkt sind keine Einzelheiten überliefert. Das Fest näherte sich dem Höhepunkt. Obwohl sich der Regen gelegt hatte, mußte wegen des aufgeweichten Bodens die Feier umorganisiert werden. Anstatt hoch zum Elm zu marschieren, wo der große Holzstoß errichtet worden war, zogen die Menschenmassen in Begleitung mehrerer Kapellen zum nahegelegenen Dorfanger. Als sich die Kolonnen der SA, SS, der Amtswalter und der alten nationalsozialistischen Kämpfer auf dem Anger ausgerichtet hatten, zündeten unter Zuhilfenahme leicht brennbarer Stoffe andere Männer oben am Elm den großen Holzstoß an, dessen „riesiger Schein zum Dorfanger herüberleuchtete“. Nun betrat Ministerpräsident Klagges das Podium und begann die Feuerrede mit dem Wort eines unbekannten Dichters:

“Liebe deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen!
Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm
Durchs Land frohlocken im Jubelsturm!
Des Flammenstoßes Geleucht facht an.
Der Herr hat Großes an uns getan!“

Er fuhr fort: „Dieses Dichterwort wurde gesprochen in einer Zeit, in der unser Volk durch einmütiges Zusammenstehen, durch einen übermenschlichen Kampf, durch gewaltige Opfer an Gut und Blut einen herrlichen Sieg erfochten hatte. Jener Sieg war ein Sieg gegen den äußeren Feind Frankreich, seit Jahrhundert.“

Heute blicke man auf einen Sieg gegen den inneren Feind zurück, der Deutschland zum Gespött der Völker gemacht habe: „Dieser innere Zwiespalt, dieser fluchwürdige Klassenkampf, diese Selbstvernichtung, wie sie auf jüdische Einflüsterung hin von den Parteien des Marxismus in unserem deutschen Volke zu einer politischen Weltanschauung gemacht worden waren, sind überwunden. Sie sind ausgerottet aus unseren Reihen.“ Da sich die braunschweigischen Vorkämpfer der gerade entstehende Bewegung in Kneitlingen vor zehn Jahren das erste mal mit einer Kundgebung an die Öffentlichkeit gewagt hätten, sei dieses Dorf eine historische Stätte geworden. Die damals Deutschland beherrschenden Kreise hätten zwar über die „törichten Nationalsozialisten“ gelächelt, die hätten in dem Eulenspiegel-Dorf aber gezeigt, dass sie „in achtbarer Stärke auf dem Plane waren“. Zwar sei es nicht stetig bergauf gegangen, doch die alten Kämpfer hätten auch unter dem marxistischen „Terror ihre Pflicht getan“. Die Bataillone der SA und der SS hätten den „roten Mordbanditen“ jedoch die Macht aus der Hand gerissen und sie in ihre Schlupfwinkel zurückgedrängt. Nun könnten die Kinder wieder deutsch erzogen werden und dürften deutsch denken: „Wir wollen aus unserem überkommenen Erbgut heraus unser deutsches Leben wieder rein gestalten, frei von jeder fremden Beeinflussung, frei vor allen Dingen vom furchtbaren, zersetzenden Gift des internationalen Judaismus in jeder Form. Darum kehren wir zurück zum Altväterbrauch und zünden zur Zeit der Sonnenwende die heiligen Feuer wieder an.“

Der Nazi-Ministerpräsident mit dem Ehrgeiz, den Freistraat Braunschweig zu einem blühenden Zentrum des Nationalsozialismus zu machen, zur „freien Heimat mit einem freien Leben“, das nach eigenen inneren Gesetzen gestaltet werden solle; das sei das Wesen der Volksfreiheit. Ohne diese Freiheit, die nicht die Willkür des einzelnen sei, könne ein Volk nicht leben. Wie so oft bei den Nazis, sah die Realität ihres Handelns genau entgegengesetzt aus, was Klagges auch offen erörterte: „Freiheit ist, sich beugen unter das angeborene Gesetz des Volksschicksals, ist, sich freiwillig dem Dienste der großen völkischen Gemeinschaft zu widmen. Darum hat Adolf Hitler an die Stelle des individiualistischen Freiheitsideals das Gesetz der Disziplin und Treue gesetzt. Diesem herrlichen Volksführer gilt es in Zukunft eiserne Disziplin zu wahren und die Treue zu halten, auch dann, wenn nicht der Siegesjubel uns umrauscht, sondern dann, wenn wie 1928 ein Rückschlag kommt, wenn schwere Ereignisse, die vielleicht nicht fern sein mögen, über uns kommen und die ganze Widerstandskraft deutscher Männer notwendig ist, um diesen Schlag zu überwinden.“ Mit dieser Aussage kann Klagges nur den bevorstehenden Krieg gemeint haben. Er fuhr fort und mahnte seine Volksgenossen, dann ihren „Mann stehen“ zu müssen: „Treue ist es, die den Helden macht und den Deutschen zum Manne adelt.“ Ob die Kneitlinger und ihre Gäste diese versteckte Kriegsankündigung betroffen machte, muß angesichts der martialischen Hochstimmung bezweifelt werden; sie sangen nach der Rede und dem kollektiv gebrüllten „Heil Hitler“ das Lied „Flamme empor“, berauschten sich noch an bengalischem Feuer und in den Nachthimmel steigenden Raketen und, so beschrieb es die WZ vielleicht etwas respektlos: „…und ein Deutscher Tanz hielt auf den verschiedenen Stätten die braunen Gäste und ihre Angehörigen bis tief in die Nacht noch gesellig zusammen.“

Auch in anderen Dörfern und Städten trommelte die NSDAP die Menschen zu Sonnenwendfeiern zusammen. In Klein Twülpstedt im Landkreis Helmstedt drohte ein SA-Sturmführer Andersdenkenden mit Feuer: „Deutschland ist erwacht. Wer aber heute noch nichts von dem Erwachen begriffen hat, oder es nicht begreifen will, der wird von den Flammen gefressen werden.“ Der vom Kneitlinger Elmrand in der Ferne sichtbare Heeseberg war Ziel der Nazis im Helmstedter Südkreis. Von Söllingen aus, dem Heimatort des bekannten SA-Führers Hannibal, marschierten Braunhemden in Gemeinschaft mit der Landwehr, der Feuerwehr und den Einwohnern der umliegenden Dörfer zur Kuppe des Berges. Die Laienspielschar der NSDAP Schöningen führte „das Schwertweihespiel“ auf, und Rektor Schünemann aus Helmstedt hielt die Feuerrede: „Wir stehen hier auf uraltem, geheiligten Boden, den unsere Vorväter in Ehre erkämpft und in Ehre verteidigten. Unehre und Verrat haben in den letzten fünfzehn Jahren das Land überzogen und beschmutzt. Die Reinigung des Landes von dieser Unehre und diesem Verrat vorzunehmen, ist unsere Aufgabe, und dieses ist von SA- und SS-Männern bereits begomnnen worden und wird weiter Fortgesetzt werden.“

Auf dem Brocken berauschten sich Angehörige der SA-Führerschule Wernigerode und Mitglieder des Harzklub-Zweigvereins Braunschweig an den Flammen, die von zwei Scheinwerfern mit rotem und gelbem Licht zudem noch angestrahlt wurden. Der geografisch unkundige Leser muß wissen, dass die Feuerstellen Kneitlingen, Heeseberg und Brocken bei klarem Wetter gleichzeitig zu sehen waren und das Erlebnis dieser weit auseinanderliegenden Feiern einen gewollten nachhaltigen Eindruck hinterließ.

Der Autor fand im Archiv ein von der Reichspropagandaleitung minutiös ausgearbeitetes Programm für eine „Große Sonnenwendfeier“. Die dazugehörige Musik basiert auf einer Volkskantate von Franz Philipp (“Heiliges Vaterland“ und Dichtungen u.a. von Baldur von Schirach, Ernst Moritz Arndt, Heinrich Anacker, Karl Bröger und Herbert Böhme.) Baldur von Schirach ist dem Leser bereits als poetischer Trompeter der Hitler-Jugend und literarischer Beweihräucherer Hitlers begegnet; vom national gesinnten Freiheitsdichter Arndt konnten die Nazis martialische Texte mißbrauchen, die er einst gegen Napoleon und für die Einheit Deutschlands geschrieben hatte. Heinrich Anacker verfaßte eine Flut von SA- und HJ-Liedern und galt als Lyriker der Braunen Front. Der einstige sozialdemokratische Journalist Karl Bröger gehörte zu den Arbeiterdichtern, entwickelte sich seit dem Ersten Weltkrieg zu einem „Künder deutscher Kameradschaft und Volksgemeinschaft“ und bekannte sich 1933 schließlich zum Nationalsozialismus, von dem er die Beseitigung der Klassengegensätze erhoffte. Herbert Böhme, Fachschaftsleiter für Lyrik in der Reichsschrifttumskammer, verfaßte unzählige „Führer-Gedichte“, seine Dichtungen „atmeten frischen, nationalsozialistischen Geist“.

Die „Große Sonnenwendfeier“ übertraf in der Zahl der Mitzuwirkenden wirklich jede noch so pompöse Oper: „Eine gute Kapelle (möglichst mit 4 guten Fanfarenbläsern, die aber notfalls auch durch Trompeter ersetzt werden können), ein Trommlerchor, ein guter Männerchor in Stärke von etwa 200 Mann, ein kleiner Männerchor mit ausgesuchten Mittelstimmen, ein Knabenchor (Jungvolkchor) in Stärke von etwa 120 bis 150 Stimmen, 4 bis 5 gute Einzelsprecher und 3 Sprechchöre.“

Im Juni 1935 marschierte Wolfenbüttels gesamte Jugend vor dem Lessing-Theater auf. Zum ersten Mal sollte hier eine zentrale Feier stattfinden, die „vom Geist der neuen Zeit getragen“ eine Kundgebung „deutscher Menschen“ sein sollte, „die sich auf das Erbgut ihrer Väter besonnen haben“. Offenbar hielten sich die Wolfenbütteler Organisatoren an die von der Reichspropagandaleitung herausgegebenen Choreographie und verwandelten den Platz vor dem Theater in eine Thingstätte.

Es würde hier zu weit führen, auf Texte und Regieanweisungen der ungefähr eine Stunde dauernden Aufführung ausführlich einzugehen. Neben den bereits erwähnten Mitwirkenden spielten auch noch Mitglieder anderer Gliederungen der NSDAP mit, wenn Fahnen die Szenerie vervollständigten. Die Darbietung begann, nachdem die NS-Hoheitsträger den Platz betreten hatten. Vom Balkon des Lessingtheaters dröhnten dumpf die Landknechtstrommeln der Hitlerjugend, gefolgt von den schmetternden Fanfaren der SA-Bläser. Dann „marschierten die ältesten Sturmfahnen unter Trommelgerühr mit Begleitmannschaften ein“. Zwischen ihnen stellten sich Wimpelträger des Jungvolks und des BDM auf. Nach einem Schirach-Text über die Freiheit aus Sicht der Nationalsozialisten:

„Frei sind wir alle, doch wir seh’n im Dienen
Mehr Freiheit als im eigenen Befehle.
Am Schreibtisch sitzen wir und an Maschinen,
Sind Hunderttausend – und nur eine Seele.
Wir sind die Ketzer und die tiefen Frommen,
Das Heut‘, das Gestern und das große Kommen.“

sprach ein Männer- und Jungvolkchor ein Gelöbnis, das sie dem Ernst Moritz Arndt entwen-det hatten:

„Ich schwöre dir, o Vaterland,
Mit blankem Schwert in fester Hand,
An des Altars heil’gem Schrein,
Bis in den Tod dir treu zu sein.

Ich schwöre dir, o Freiheit auch,
Zu dienen bis zum letzten Hauch
Mit Herz und Seele, Mut und Blut;
Du bist des Mannes höchstes Glut.

Du droben in dem Himmelszelt,
der Sonnen lenkt und Herzen hält,
Du großer Gott, o steh mir bei,
Da ich es halte wahr und treu.“

Diesen vaterländischen Schwulst hätten natürlich auch die notorischen Nazi-Lyriker schrei-ben können, doch es schien wichtig, unter diese neue Kulturvölkelei immer wieder national gesinnte Klassikker zu mengen, um dem Volk einen kulturgeschichtlichen Unterbau der Nazi-Ideologie vorzuführen.

Nun stellten sich zehn Frontsoldaten im Stahlhelm und Mantel gegenüber den Zuschauern auf. Unter grünem Scheinwerferlicht rezitierten sie Teil 6, „Die Saat geht auf“:

„Und aus den Gräbern die Saaten
raffen sich auf zu Taten:
Frucht bist du und bin ich.
Hügel werden Altäre,
und wie die blühendste Ähre
diene auch ich
Deutschland!“

Ein Männerchor betrat langsam die Bühne auf und sprach die Totenklage:

„Nun haben sie begraben
Meinen blonden Knaben
So weit, so weit von hier.
Ich konnt‘ ihn nicht umfangen,
Er ist zum Tod gegangen
Wohl ohne Gruß von mir.
Doch wenn zurück er käme
Und dann wie damals nähme
So stolz das Schwert zur Hand:
In schmerzlichem Umfassen
Würd ich ihn wieder lassen
Für’s heil’ge Vaterland.“

Von rechts marschierten Fackeln tragende Jugendgruppen singend herein:

„Feuer zu schüren sind wir entsandt,
Trommelzu rühren im deutschen Land!
Da nie mehr verdämmert, was heiß uns gepackt:
Jungherzen hämmert in heiligem Takt.“

Als der Männerchor sang:

„Alle Knechtschaft ist verschwunden,
Deutsches Blut hat sich gefunden,
Schmach und Schande schied“

rückten die Gliederungen der Partei mit Fahnen heran: „SA, SS, Parteiorganisation, Hitlerjugend, BDM, DAF“ und andere. Im Wechsel mit anderen Sprechchoren teilte die HJ mit, wie sie mit Gegnern der NSDAP, was ja nun gleichbedeutend mit Deutschland war, umzugehen gedachte:

„Wir wollen,
Es sollen
Die Feinde des Volkes,
Für welches wir leben,
Für das wir einst sterben,
Auf ewige Zeiten
Entrechtet sein!“

Nach dem Befehl „Feuer spring auf!“ zündeten Hitlerjungen den Holzstoß vor dem Lessingtheater an und entfachten die Flammen. Sechs Mädchen des BDM präsentierten je einen Kranz „als Ehrung für die Gefallenen des Weltkrieges und der Bewegung“. Unter leisem Trommelwirbel sprach ein Nazi-Führer diese Warnungen:
„Für die deutsche Einheit: Wer sie stört, sei unser Feind!
Für die deutsche Ehre: Wer sie befleckt, den treffe uns’re Rache.
Für die deutsche Treue zu Führer Volk und Reich. Wer sie bricht, der falle durch uns’re Hand.“
Um die Jugend früh genug an Mord und Totschlag zu gewöhnen, sprachen Hitlerjugend und Jungvolk:

„Wir Jungen, die wir Deutschland lieben,
Wir haben ein Wort auf die Fahne geschrieben.
Kampf!
Brennen soll alles,
Was feige und schlecht
Aus Blut und Boden
Ersteht unser Recht.
Das Gemeine soll lodern
In hellen Flammen,
Schlagt alles Schlechte
Und Morsche zusammen.“

Nach dieser deutlichen Ankündigung bevorstehender Gräuel, vor dem obligatorischen Zapfenstreich am Ende, sangen Männer- und Jungvolkchor, damit auch die Gefühle der Christen unter den Zuschauern berücksichtigt wurden, einen Dankchoral:

„Nun wollen wir Gott, dem Herrn, lobsingen,
Ihm klinge unser Jubelton,
Er ließ des Glaubens Sieg erringen,
Gab deutscher Treue höchsten Lohn.“

Am Schluß verlas der Standortführer der HJ, Mittelschullehrer Hans Wurm, einen Aufruf des Reichsjugendführers. Die Sonnenwendfeier war zu Ende. Der ca. sechs Meter hohe Holzstoß vor dem Lessingtheater brannte noch lange weiter.

Wer es wissen will, der weiß, da diese „deutsche Treue“ den Tod von Millionen von Menschen zur Folge hatte; und dass trotz dieses geschichtlichen Hintergrundes auch heute noch Menschen unter uns leben, die der deutschen Treue immer noch den Vorrang geben vor Wahrheit und Toleranz, finden auch an im Jahr 2008 immer noch nationalsozialistisch beeinflußte Sonnenwendfeiern statt, deren Spuren in den alljährlich von den Innenministerien herausgegebenen Verfassungsschutzberichten zu finden sind. Neben den sommerlichen Sonnenwendfeiern versuchten die Nazis mit den Feiern zur Wintersonnenwende am 21. Dezember das christliche Weihnachtsfest zu ersetzen; hier blieben sie allerdings erfolglos.

Der Wolfenbütteler Kallmeyer-Verlag besaß in seinem Musikalien-Angebot eine „Kantate zur Wintersonnenwende“: „Steht ein Flammenstoß in tiefer Nacht“ hieß das Werk. Der Verlag bot hieraus einen Auszug von zwei Chorliedern für einen vierstimmigen gemischten Chor an, der den christlichen Titel trug: „Heilige Nacht“.

Ob dieses Werk auch im Dezember 1938 in Wolfenbüttel zur Aufführung gelangte, ist unbekannt. Auf dem Rosenberg, der einige Monate vorher zur Feierstätte mit einem Großdeutschland-Gedenkstein gestaltet worden war, fand am 21. Dezember ein Appell am lodernden Feuer statt. Mit dem altem deutschen Brauch sollte der Sieg des Lichts über die Finsternis angekündigt werden. Aber nicht auf diese Äußerlichkeiten käme es an, sondern maßgeblich sei dabei die „Ausdeutung“: Die Feier erhalte erst dann ihre Berechtigung, „wenn man darin die Fortsetzung ältesten Kulturgutes sieht und sich der Bedeutung bewußt wird, die in der Fortsetzung eines jahrtausendealten Brauches unserer Vorfahren begründet liegt“.
Ortsgruppenleiter Wurm betonte, „daß sich zur gleichen Stunde überall im weiten deutschen Reich die Menschen zur Wintersonnenwende zusammengefunden haben“. Die Feier sei auch ein Symbol zur Lichtwerdung des deutschen Volkes unter der Führung von Adolf Hitler.

Quellen:
Wolfenbütteler Zeitung
Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger
Wulf, Joseph, Kultur im Dritten Reich, Frankfurt-Berlin 1989
Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel