Hitler kommt


“Nicht die Menschen, aber einen Mann haben wir nötig.“
Joseph Goebbels in seinem Buch “Michael“

Joseph Goebbels in seinem Buch “Michael“

Hitler kommt

Bei der Wahl zum braunschweigischen Landtag im September 1930 verlor die SPD die Mehrheit, mit der sie seit 1927 im Lande regiert hatte. Die Bürgerlichen hatten sich zur Bürgerlichen Einheitsliste zusammengeschlossen und hofften auf eine Mehrheit, um gegen SPD, Kommunisten und Nationalsozialisten eine Regierungsmehrheit zu schaffen. Doch es kam anders.
Die Linken errangen 19 Mandate, 2 KPD und 17 SPD. Die Nazis schafften 9 Sitze, die Einheitsliste 11 und die Staatspartei schickte einen Abgeordneten in den Landtag. Die Regierungskonstellation war somit vorbestimmt, eine Koalition der Nazis mit den Bürgerlichen unter Einbeziehung der Staatspartei. Die Nazis waren somit Regierungspartei.

Die Demokratie, oder was die die Koalition beherrschenden Nazis in den gut zwei Jahren von ihr noch übrig gelassen hatten, besaß zu Beginn des Jahres 1933 nur noch eine Galgenfrist von 30 Tagen. Die Kommunisten veranstalteten am 5. Januar noch eine Versammlung mit ihrem preußischen Landtagsabgeordneten Lademann. Der sozialdemokratische Volksfreund informierte seine Leser ein paar Tage später über den „Nazi-Krach“ in Wolfenbüttel in seiner durch den Kakao ziehenden Art und meinte personelle Veränderungen in der NSDAP, nachdem „Hakenkreuz-Bertram“ zum Kreisleiter bestimmt worden war. Sein Vorgänger, Albert Duckstein, sei zum „Fachberater für Kommunalangelegenheiten“ degradiert worden, was viele Wolfenbütteler darum schade fänden, weil er wegen seiner etwas simplen Art oft Anlaß zu Heiterkeit geboten habe. Er werde jetzt wohl auf seinen „Schweigerplatz“ im Landtag zurückkehren: „Seine große Rolle in der Politik ist offenbar ausgespielt. Sogar die Nazis haben erkannt, dass mit ihm kein großer Staat zu machen ist, und das will schon etwas heißen.“

Die Mitglieder des SPD-Ortsvereins gingen am 14. Januar zu einer turnusmäßigen Hauptversammlung. „Die Organisation war völlig intakt“, schreibt Otto Rüdiger in seiner unveröffentlichten, akribischen Auflistung der Wolfenbütteler SPD-Geschichte.Und als ob es zu diesem Zeitpunkt nichts Wichtigeres gab, hob er die Kassenlage der Partei hervor: „Der Kassierer Ernst Kunkel konnte berichten, dass die Kassenverhältnisse in Ordnung waren, dagegen die Nazis Schulden hatten.“ Die Genossen bestätigten ihren bisherigen Vorstand, und dann „ging es weiter im Kampf, um die Freiheit zu verteidigen“. Am Tag darauf tagte in der Stadt die Kreiskonferenz der SPD mit Vertretern aus den Landgemeinden. „Während die Nazis Fackelzüge veranstalten“, kommentierte der Volksfreund, “wird die Kreiskonferenz unserer Partei in sachlicher Arbeit ihre Aufgaben erledigen zum Wohle der gesamten Arbeiterschaft für den Aufstieg und die Erringung des Sozialismus“.

Kreisvorsitzender Baier blickte in seinem „Geschäftsbericht“ auf die vergangenen 12 Monate zurück und stellte fest: „In unermüdlicher Hingabe und Opferbereitschaft hat die Arbeiterschaft ihren Mann gestanden trotz Terror, Arbeitslosigkeit und Hunger; galt es doch den Faschismus zu schlagen und für die Freiheit zu kämpfen. Und wir haben das Ziel erreicht: Hitler ist nicht zur Macht gekommen.“ Baier berichtete über die vergangenen Wahlkämpfe und die Stimmenzugewinne: Bei der letzten Reichstagswahl hätten sich die politischen Gegner an der SPD die Zähne ausgebissen. Niederlagen habe es auch gegeben: In Ahlum und Woltwiesche seien zwei Ortsvereine eingegangen. Zum Schluß appellierte er an seine Genossen: „Rüttelt die Säumigen auf, um den Endkampf mit dem Faschismus zum siegreichen Ende zu führen. Rüstet zu erneuter Offensive mit dem Kampfruf: Freiheit für den Sozialismus!“

Die Nazis holten zur gleichen Zeit die Feiern zum zehnjährige Bestehen ihrer Ortsgruppe nach, die am 22. November 1922 gegründet worden war. Die zweitägigen Feiern begannen am Samstagnachmittag mit einem gut besuchten Platzkonzert der Standartenkapelle auf dem Stadtmarkt. Um 19 Uhr marschierten die Mitglieder der Ortsgruppe hinaus nach Antoinettenruh, um sich arisch am „deutschen Abend“ zu amüsieren. Nach dem Einmarsch der SA eröffnete Wilhelm Gebhardt, Kreisleiter von 1925 bis 1927, die Feier und übergab das Wort an Landtagspräsident Zörner, Mitglied der NSDAP: Alle Hoffnungen, die man in die Gründung dieser Ortsgruppe gesetzt habe, seien in Erfüllung gegangen. Der Erfolg sei nur auf das Vertrauen zurückzuführen, das die Nationalsozialisten ihrem Führer entgegenbrächten. Stadtverordneter Heinrich Bode, Veteran und alter NSDAP-Kämpfer, gab einen Rückblick auf die Geschichte der von ihm mitgegründeten Nazi -Organisation. Kreisleiter und Landtagsabgeordneter Kurt Bertram überreichte der Ortsgruppe ein von Hitler gestiftetes Hitlerbild und hielt die Festrede.

Er begann mit einem prophetischen Satz: „Wenn einst die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung geschrieben wird, muß die Ortsgruppe Wolfenbüttel darin einen Ehrenplatz einnehmen. Ehe man sich anderswo mit der nationalen Bewegung befaßte, habe Wolfenbüttel bereits eine starke Ortsgruppe gehabt. Wir sind immer anderen Orten und Ländern vorausgewesen.“ Es folgten Aussagen über die eigene Entschlossenheit und darüber, dass nach der Machtübernahme der Bolschewismus ausgerottet werde, usw. Die Nationalsozialisten seien bereit, die „Verantwortung“ zu übernehmen: „So lange man ihr Programm nicht wolle, würden sie nicht in die Regierung gehen. Es werde aber noch der Tag kommen, an dem man die Nationalsozialisten bitten werde, die Verantwortung zu übernehmen.“ Nach „bitten werde“ hatte die über diese Veranstaltung berichtende Wolfenbütteler Zeitung (WZ) in Klammern ein Ausrufezeichen eingefügt; eine Kommentierung dieser Art von Nazi-Aussagen war auch in der Vergangenheit zu beobachten: Eine konkrete Kritik dieser Überheblichkeit wollte sich die Zeitung offenbar nicht mehr leisten, dafür tat sie es immerhin noch auf diese zurückhaltende, aber dennoch auffallende Weise.

Nach Ende der Jubelfeier in Antoinettenruh formierten sich die Teilnehmer zu einem Fackelzug zurück in die Stadt zum Schloßplatz, wo sie auf eine große Menschenmenge stießen, die trotz schneidender Kälte das Ausbrennen der zusammengeworfenen Fackeln beobachten wollten. Trotzdem es bereits auf Mitternacht zuging, mußte auch hier noch eine Rede gehalten werden. Regierungsrat Ramien, der hiermit offiziell ins Nazi-Rampenlicht trat, dankte der SA und der SS für die am deutschen Volk geleisteten Dienste.

„Der Sonntag wurde mit einem Kirchgang eingeleitet“, schrieb die Lokalzeitung. Direkt an-schließend marschierten die Nazi-Christen „unter Vorantritt der Standartenkapelle hinaus zum Ehrenfriedhof, um einer Dankespflicht gegenüber den gefallenen Helden des Weltkriegs zu genügen.“ Pastor Teichmann gedachte der Helden – allerdings nicht der jüdischen Soldaten -, „die ihre Treue mit dem Tode besiegelten“.

In der Zwischenzeit waren immer mehr Ortsgruppen aus der näheren und weiteren Umgebung auf dem Schloßplatz eingetroffen. 2000 Uniformierte mit 30 Fahnen marschierten zum Kornmarkt und paradierten vor dem greisen Nazi-Prominenten General Karl Litzmann, neben Generalfeldmarschall August von Mackensen einer jener „Weltkriegshelden“, mit denen die Nazis ihre Feierlichkeiten bereicherten. Litzmann war mehrmals Alterspräsident des Reichstages gewesen und erhielt für sein Steigbügelhalten im April 1940 eine besondere Ehre: Die polnische Stadt Lodz wurde nach ihm benannt: Litzmannstadt; die jüdische Einwohnerschaft der Stadt, die 1931 ein Drittel betrug, wurde ermordet, und die deutsche Bevölkerung 1945/46 vertrieben.

Der Dreiundachtzigjährige war auch Ehrengast einer weiteren Veranstaltung in Antoinetten-ruh, von der aus Kreisleiter Bertram zu Beginn ein Telegramm an Adolf Hitler schickte: „Ortsgruppe Wolfenbüttel gedenkt anläßlich des 10jährigen Bestehens ihres Führers und gelobt weiterhin unverbrüchliche Treue.“ Bevor Litzmann das Wort erhielt, blickte NSDAP-Innenminister Dietrich Klagges auf die Zeit bis zur Revolution 1919 zurück, erinnerte aus seiner Sicht an die damaligen sozialistischen Regierungsmitglieder Minna Faßhauer und Heinrich Merges und bezeichnete das frühe Entstehen der „nationalsozialistischen Freiheitsbewegung“ im Lande Braunschweig als die „Antwort auf den marxistischen Volksverrat und auf die Mißwirtschaft der marxistischen Gewalthaber“. Seine jetzige Regierung versuche, die „Unsauberkeit und Korruption der Sozialdemokratie“ auszumerzen; erste Erfolge bei der Konsilidierung der Landesfinanzen seien bereits zu verzeichnen. Litzmann schlug nationalere Töne an: Er begrüßte die im Saale anwesenden ehemaligen Frontsoldaten, für die sein Herz immer noch empfänglich sei. Vor ein paar Tagen habe er noch zum Hermannsdenkmal aufgeblickt, das „ein Symbol der Freiheitsbewegung sei, die den Marxismus zertreten“ würde: „Deutsche Einigkeit meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht“, diese Worte vom Schwert des Cheruskers hätten auch von Hitler gesprochen werden können.

Der uralte Militarist verteidigte seine Kritik am Reichspräsidenten Hindenburg. Von ihm habe er sich schon abgewandt, als er den General Erich Ludendorff entlassen hatte. Er kenne nur eine Disziplin, und die heiße Hitler, besonders seit dem sich Hindenburg vor sieben Jahren von den Nationalen abwandte, um sich „den Roten und Schwarzen zu ergeben“. Er bekenne sich eindeutig zu Hitler, treu bis zum letzten Atemzuge. Er sei „der größte und beste aller lebenden Deutschen, der unendliche Verdienste um das deutsche Volk“ habe. Er sei schon eine weltgeschichtliche Persönlichkeit geworden. Man solle Hitler nur an die Macht kommen lassen, dann werde er schon zeigen, was er könne. Die Geschichte werde Hitler als einen Mann bezeichnen, der größer sei als Bismarck, man könne ihn nur etwa mit Luther gleichstellen. Er werde nicht nur Deutschland erobern, sondern die Welt.

Die für den 21. Januar festgesetzte Stadtverordnetenversammlung, die erste seit eineinhalb Jahren, läutete der Volksfreund mit einer ungewöhnlichen Feststellung ein: „Die Wolfenbütteler Nazis wollen jetzt sachlich arbeiten.“ Die Zeitung berief sich auf die nationalsozialistische Stadtratsfraktion, die in Zukunft Anträge nur noch zulassen wolle, wenn sie gleichzeitig konkrete Vorschläge zur Finanzierung enthielten. Da der bisherige Vorsitzende Isensee, dem die Leitung immer etwas schwer gefallen war, von seinem Amt zurückgetreten war, mußte dieses Amt zunächst neu besetzt werden. Heinrich Bode erhielt den Posten mit der rechten Mehrheit. Die Abgeordneten beschlossen gegen die Stimmen der Linken das obige Nazi-Anliegen und befaßten sich mit mehreren kommunalen Angelegenheiten. Tatsächlich scheint diese Sitzung sehr ruhig verlaufen zu sein, denn der Volksfreund berichtete darüber ohne Aufregung.

Anders verhielt es sich im Landtag, in dem die SPD einen Frontalangriff gegen die NSDAP und Klagges einbrachte. Durch eine Große Anfrage, mit der sie Klagges aufforderten, die „politischen Verbrechen“ seiner eigenen Partei zu verfolgen, zogen sie erneut den Haß ihrer nationalsozialistischen Feinde aufsich: „Ruhe und Ordnung sind im Freistaat Braunschweig empfindlich gestört, seitdem Minister Klagges für die öffentliche Sicherheit verantwortlich ist. Durch Nationalsozialisten auf politisch Andersdenkende verübte Überfälle sind keine Seltenheit. Mordtaten häufen sich in erschreckender Weise, ohne dass auch in nur einem Falle ein Täter zur Verantwortung gezogen ist. (-) Wir fragen: Ist das Staatsministerium endlich bereit, Polizei und Staatsanwaltschaft zur energischen Verfolgung des politischen Verbrechertums anzuhalten?“

Die Wolfenbütteler Zeitung veröffentlichte die Anfrage im vollen Wortlaut und bezeichnete diese Initiative als eine auf die kommende Landtagswahl abzielende „Wahlagitation“ und sah im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung im Reichstag bereits eine frühzeitige Auflösung des Landtages. Doch soweit war es noch nicht, da in Berlin hinter dem Rücken des amtierenden Reichskanzlers Hitler und von Papen um die zukünftige Macht kungelten. Hitler hatte zudem noch andere Sorgen: Ihn drückten die Schulden seiner Partei, die nach Schätzungen zwischen 12 und 20 Millionen Reichsmark liegen sollten. Doch im Rahmen der Machtkungelei erhielt er mit Hilfe von Papens aus westdeutschen Industriekreisen genügende Überweisungen, sodass Goebbels in seinem Tagebuch eine frohe Botschaft notieren konnte: „Die Finanzen haben sich sehr plötzlich gebessert.“ Er konte sich wieder mit aller Kraft der Absicht widmen, mit Hilfe von Papens den amtierenden Reichskanzler von Schleicher zu stürzen

Um den Eindruck zu vermeiden, die Kraft der Nazis lasse nach, konzentrierte Hitler alle Kräfte auf die Landtagswahlen am 15. Januar in Schaumburg-Lippe. Der Wahltag brachte ihm ein berauschendes Wahlergebnis: 36,5 Prozent mit einem Zuwachs von 17 Prozent gegenüber der vorausgegangenen Wahl. Als am 21. Januar die Deutschnationalen endgültig mit von Schleicher brachen und zu Hitler überliefen, verhandelten NSDAP und DNVP über eine Koaltionsregierung. Um es kurz zu machen: Die Kungelei um die Macht, in der schließlich auch die Reichswehr grünes Licht für Hitler gab, endete am 30 Januar 1933 um 11 Uhr mit der Ernennung des Nazi-Führers zum Reichskanzler. Nach der kurzen Existenz von etwas mehr als zehn Jahren, 20 verschiedenen Kabinetten und 12 Reichskanzlern lag der erste Versuch einer demokratischen Republik in Deutschland am Boden. Der Rundfunk verbreitete in den Mittagsnachrichten die Meldung, dass „Adolf Hitler endgültig zum Kanzler und Führer des Deutschen Volkes ernannt worden ist“.

Jubel und Begeisterung kannten auch in Wolfenbüttel keine Grenzen. Die WZ stellte fest: „In unglaublich kurzer Zeit prangte unsere Stadt im Schmuck unzähliger Hakenkreuzfahnen. Freudig erregt reichten sich die alten Kampfgenossen, deren jahrelanges Abmühen und Plagen nicht für umsonst gewesen war, die Hände.“ Am nächsten Tag erschien die Zeitung mit der kurzen Schlagzeile: „Adolf Hitler Reichskanzler“. Darunter ein Paßfoto, die Namen der neuen Minister und die Mitteilung, er habe den Eid auf die Verfassung abgelegt. Das Kabinett habe bereits getagt und eine völlige Übereinstimmung der Ansichten festgestellt. Die Zentrumspartei überlege das Angebot der Tolerierung, da man einem neuen Kabinett, „das nicht mit Staatstreichplänen an die Arbeit geht, zunächst eine Chance geben müsse“. Die Zeitung kommentierte die Bildung der Hitler-Regierung mit der Ansicht, er habe das Ziel „Alle Macht den Nationalsozialisten“ nicht erreicht: „Sein Erfolg ist nur fünfzigprozentig.“ Der Nationalsozialismus habe nun die Chance, den Schritt von der Agitation zu Verantwortung zu machen. Die Bereinigung der politischen Atmosphäre in Deutschland fordere diesen Versuch: „Wenn es Millionen eingeprägt ist, in diesem Mann den neuen Messias zu sehen, so muß man diesem die Möglichkeit geben, auf der Basis wie anderen, dieses blinde Vertrauen mit der Tat zu rechtfertigen.“

Es sei im Augeblick sinnlos, Überlegungen darüber anzustellen, was nunmehr seitens des neuen Kabinetts geschehen könnte oder sollte. Die Ernennung Hitlers sei wie ein Rausch über Deutschland geflogen. Gegenüber den nüchternen Erfordernissen des Tages regiere das Gefühl einer historischen Stunde. Aber die Not der Zeit brenne auf den Fersen: „Herrn Hitler wird es als Reichskanzler nicht erspart bleiben, was er als Parteiführer vielfach vermeiden konnte: zu den Tagesfragen Stellung zu nehmen. Auch er wird um Kompromisse nicht herumkommen, da nun einmal nicht nur die Hakenkreuzfahne über Deutschland weht. Der Kanzler Hitler hat ein Spiel gewonnen. Die Würfel rollen weiter…“ Beim Betreten der Reichskanzlei kurz nach seiner Ernennung hatte Hitler schon klar gemacht, dass Kompromisse draußen bleiben würden: „Keine Macht der Welt wird mich jemals lebend hier wieder herausbringen.“

Das für viele Deutsche Unvorstellbare war also geschehen: Hunderttausende sich in Sicherheit wiegender Menschen erlebten von einem Tag zum anderen nicht nur Sorge um ihre Existenz, sondern auch die Angst um das eigene Leben und das von Angehörigen und Freunden. Auf der Suche nach den Ursachen für die demokratisch legalisierte Einführung einer faschistischen Diktatur wird der Leser nicht übersehen, dass demokratisch gewählte Politiker einen Mann in das wichtigste Reichsamt gehoben hatten, von dem bekannt war, dass er das parlamentarische System für Unfug hielt.

Offenbar hatte keiner der Politiker, die ihm die Macht in den Schoß legten, sein 800seitiges Programm „Mein Kampf“ gelesen. Seine Aussage – „Es gibt gar kein Prinzip, das objektiv betrachtet so unrichtig ist als das parlamentarische.“ – hatten sie somit als Grundlage der politischen Weiterentwicklung akzeptiert. Ihre Überlegungen waren unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie einen Rassenfanatiker an die Spitze des Staates stellten, der sich auf Geistesgrößen wie Mendelssohn, Beethoven, Schiller, Goethe, Lessing und die vielen anderen berief. Sie vereidigten einen Politiker, der Abgeordnete als „Parlamentswanzen“ bezeichnet hatte.

Am Tag nach der Amtseinführung beschrieb das Berliner Tageblatt in seiner Morgenausgabe die neue Regierung: „Ein Kabinett, in dem Leute sitzen, die seit Wochen und Monaten verkündet haben, alles Heil – gemeint war das ihrige – liege im Staatsstreich, im Verfassungsbruch, in der Beseitigung des Reichstags, in der Knebelung der Opposition, in der unbegrenzten diktatorischen Gewalt.“ Und tatsächlich hatte Hitler in einer Wahlrede am 15. Juli 1932 nicht das erste und letzte Mal seine Häme über das in viele Interessengruppen zersplitterte parlamentarische System vergossen und dessen Ende angekündigt: „Nur ein Wahnsinniger kann hoffen, dass die Kräfte, die erst den Verfall herbeiführten, nun die Widerauferstehung bringen können. Wenn die bisherigen Parteien Deutschland ernsthaft retten möchten, warum haben sie es bisher nicht getan?“ Nun sei endlich die Zeit ihrer eigenen Beseitigung gekommen: „Ob die heutigen parlamentarischen Parteien leben, ist nicht wichtig. Aber notwendig ist es, dass verhindert wird, dass die deutsche Nation vollkommen zugrunde geht. Die Überwindung dieser Parteien ist aber deshalb Pflicht.“

In Hitlers völkischem Zukunftsstaat sollte „die gesamte, besonders aber die oberste, also die politische Leitung restlos vom parlamentarischen Prinzip der Majoritäts-, also Massenbestimmung“ befreit werden, um „an Stelle dessen das Recht der Person einwandfrei sicherzustellen.“ Seine „beste Staatsverfassung“ war diejenige, „die mit natürlichster Sicherheit die besten Köpfe der Volksgemeinschaft zu führender Bedeutung und zu leitendem Einfluß bringt.“

Während der sozialdemokratische Vorwärts die Lage realistisch einschätzte: „Der Reichspräsident hat mit der Ernennung dieser Regierung die furchtbarste Verantwortung übernommen, die jemals ein Staatsoberhaupt übernommen hat.“, nahm sein Braunschweiger Ableger, der Volksfreund, die Situation noch nicht ganz ernst und bereitete seine Leser erneut auf die Niederlage der Nazis vor: „Eine tiefe Enttäuschung wird in den nächsten Wochen durch jene Teile des deutschen Volkes ziehen, die bisher Hitler ihre Stimme gaben. Ihre hochgespannten Erwartungen werden nicht erfüllt werden.“ Die Ortskampfleitung der Eisernen Front in Braunschweig rief alle Mitglieder zu einer Demonstration gegen die „hauchdünne Herrenschicht“ auf und schwelgte in Siegeszuversicht: „Laßt den Massenschritt der Arbeiterbataillone wieder einmal durch die Straßen dröhnen!“

Nachdem der Nationalsozialismus sein immer vom Volksfreund bezweifeltes und mit Hohn und Spott überzogenes Ziel erreicht hatte, fuhr er auch am Tag nach der von den Nationalsozialisten als Machtergreifung bezeichneten Ernennung Hitlers auf die gleiche Weise fort und machte sich über die Erwartungen der NSDAP-Wähler lustig: „Der Unternehmer erwartet, dass die Gehälter seiner Angestellten und Arbeiter gedrückt werden und dass er keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mehr zu bezahlen braucht. Der Nazi-Arbeiter aber hofft, dass sich sein Lohn verdoppelt.“ Die unabänderliche Tatsache kleidete der Volksfreund erst am 1. Februar in eine große Schlagseite und drehte den Text der WZ einfach um: „Reichskanzler Hitler!“ Und da drunter eher resignierend klingend: „Jetzt haben sie die Macht!“

Doch noch hatte die Sozialdemokratie nicht aufgegeben: Sie sei für alle Eventualitäten gerüstet, behauptete der Volksfreund einige Zeilen weiter unten und verbreitete einen unsäglichen Siegesoptimismus, der keinerlei Grundlage hatte und der Katastrophe auch zuträglich war: „Die Arbeiterschaft müsse stündlich bereit sein, den Abwehrkampf gegen alle reaktionäre Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu führen.“ Plötzlich richtete der SPD-Reichsvorstand auch seinen Blick auf die Kommunisten: „Auf die Frage, was die Sozialdemokratie darüber hinaus tue, welche Abkommen sie eingehen wolle und zu welchem Ziele sie führen sollen, habe der Aufruf des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion (die immerhin einen Mißtrauensantrag einbrachte.) bereits die Antwort gegeben. Die Sozialdemokratie lasse sich die Taktik nicht vom Gegner vorschreiben. Sie bestimme selbst, wann und wie sie ihre Kräfte einsetze. Alle hätten den Wunsch, in diesem Kampf in einem guten Verhältnis zu den kommunistischen Arbeitern zu stehen.“ Die Vertreter der Gewerkschaften, so der Volksfreund, hätten sich schon von vornherein mit allen geplanten Maßnahmen solidarisch erklärt und betont: „Wenn ihr ruft, sind wir da.!“ Wie wir wissen, hat die Sozialdemokratie nicht gerufen.

Zunächst rief die NSDAP: Ihre Wolfenbütteler Mitglieder feierten den „Sieg“ ihrer Bewegung mit einem Fackelzug. In einem Rundmarsch vom Schloßplatz und zurück zogen sie eineinhalb Stunden lang unter Voranmarsch der Standartenkapelle durch die Stadt – auch durch die hauptsächlich von Arbeitern besuchte Auguststadt und am Haus des jüdischen Arztes Dr. Kirchheimer vorbei. Dabei waren auch Nazis aus Braunschweig, so der SS-Führer und Landtagsabgeordnete Alpers. Sein Kollege, Kreisleiter Kurt Bertram, hielt die Ansprache. Hitler habe die Macht zwar nicht alleine, aber auch in einer Koalition ließe sich ersprießliche Arbeit leisten. Das Zentrum müsse sich nun entscheiden, ob es „mit einem nationalen Deutschland“ gehen wolle. Mit den Menschen, die nun zur NSDAP kommen werden, müsse man vorsichtig sein: „Wir wollen den ehrlichen Gegner achten, auch dieser ist ein Deutscher von einer deutschen Mutter geboren. Wir werden ihn nicht mundtot machen. Kritik bleibt erlaubt, und wenn wir Nationalsozialisten etwas falsch machen, dann soll es in die Welt geschrieen werden. Gemeinsam wollen wir die Arbeit für die Rettung des deutschen Vaterlandes im Sinne dieser Worte aufnehmen: Einigkeit macht stark. Eins aber darf es ab morgen nicht mehr geben, da auf der Straße noch „Heil Moskau!“ gerufen wird! Dann werden wir nicht lange fackeln und diese Leute sofort einsperren. Mit einer Partei, die Anweisungen aus dem Ausland erhält, kann es keine Gemeinschaft geben! Ihr bisheriges Tun war verbrecherisch. Darum muß diese Partei verboten werden.“ Mit einem dreifachen „Deutschland erwache!“ endete die Veranstaltung.

Otto Rüdiger, der in seiner Heimatstadt die Entwicklung der NSDAP von der Splitter- zur Mehrheitspartei hautnah miterlebt hatte und beruflich eines ihrer ersten Opfer geworden war, kommentierte die immer für unmöglich gehaltene Situation mit haßerfüllten Worten: „Die Arbeitsunlustigen, die Unfähigen, die Minderwertigen, die Vorbestraften brachten Hitler an die Macht. Das Untermenschentum wurde auf Gegensätzliche losgelassen.“ Die Wahrheit in diesen Worten paarte sich mit dem Haß auf das Unausweichliche, und die Enttäuschung über die Nazi -Wähler kleidete er in Begriffe, die eher der Sprache der Nazis zuzuordnen waren. Sie verdeutlichen aber auch die Selbstlüge der SPD, die immer geglaubt hatte – und im Hinblick auf zukünftige freie Wahlen auch fünf Minuten nach zwölf noch fest davon überzeugt war – die einzig wahre Massenpartei Deutschlands zu sein.

Drei Tage danach trafen sich die Kreisvorsitzenden der SPD mit dem Bezirkssekretär Paul Junke. Nach Rother sind von dieser Lagebesprechung nur noch die Anweisungen Junkes überliefert, die die Hilflosigkeit der SPD vor der drohenden Illegalität und ihre Angst vor Gegenaktionen zeigten: “Keine Sonderaktionen (Streiks, Vereinigungen mit Kommunisten), da sonst mit einem Verbot der Gewerkschaften zu rechnen ist; Umstellung unserer Organisation; da mit dem Verbot der Presse zu rechnen ist, Verbindung mit den Lesern halten und engste Kontakte zur Eisernen Front; die Verbindung mit Kommunisten (bei Wahlen) ist abzulehnen.“

Nachdem Thüringen als erstes Land „Aufzüge der kommunistischen Parteien“ verboten hatte, schlossen sich Preußen und Braunschweig sofort an. Die SPD war noch nicht konkret betroffen, hielt sich aber auch zurück.

Was dem Vorgänger Hitlers, dem General von Schleicher nicht gelungen war, erlaubte der Reichspräsident dem Nazipapst sofort: die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen am 5. März, nachdem sich das Zentrum noch zierte, mit Hitler zusammenzugehen. Die sogenannte nationale Regierung, die in den zwei Tagen ihres Bestehens ja noch gar nichts geleistet hatte, wollte nach den Worten Hindenburgs das Volk bitten, zu der „Neubildung der Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung“ zu nehmen.

Ihren Aufruf an das deutsche Volk, das den Nerv vieler Menschen traf, veröffentlichte die WZ auf der Titelseite: „Über 14 Jahre sind vergangen seit dem unseligen Tage, da von inneren und äußeren Versprechungen verblendet das deutsche Volk der höchsten Güter unserer Vergangenheit, des Reiches, seiner Ehre und seiner Freiheit vergaß und dabei alles verlor. Seit diesem Tage des Verrates hat der Allmächtige unserem Volke seinen Segen entzogen. Zwietracht und Haß hielten ihren Einzug. In tiefster Bekümmernis sehen Millionen von Menschen bester deutscher Männer und Frauen aus allen Lebensständen die Einheit der Nation dahinsinken und sich auflösen in ein Gewirr politisch egoistischer Meinungen, wirtschaftlicher Interessen und weltanschaulicher Gegensätze. Wie so oft in unserer Geschichte bietet Deutschland seit diesem Tage der Revolution das Bild einer herzzerbrechenden Zerrissenheit.“

Nach dieser mit Herz und Schmerz formulierten Zustandsbeschreibung, die in immer wieder-kehrender Eindringlichkeit auch in Wolfenbüttel hundertfach während des letzten Jahrzehnts den Menschen mit der Sehnsucht nach dem Retter emotional vorgetragen worden ist, lasen die nach Erlösung Lechzenden Zukunftsvisionen, die nicht auf Terror und Abschaffung der Freiheit hinwiesen, im Gegenteil: Ein Schuft, der Böses zwischen den folgenden Zeilen las: „Die nationale Regierung wird es als allerhöchste Aufgabe ansehen, die geistige und willensmäßige Einheit unseres Volkes wiederherzustellen. Sie wird das Christentum als Basis unserer gesamten Moral, die Familie als Keimzelle unseres Volkes und Staatskörpers in ihren festen Schutz nehmen. Sie wird über Stände und Klassen hinweg unser Volk wieder zum Bewußtsein seiner völkischen und politischen Einheit und der daraus entspringenden Prinzipien bringen. Sie wird an Stelle turbulenter Instinkte wieder die nationale Disziplin zum Regenten unseres Lebens erheben.“

In Berlin konnte Hitler keine parlamentarische Mehrheit zusammenbringen. Hindenburg löste daher den Reichstag auf und bestimmte als Wahltermin den 5. März 1933.

Anders als die sich zurückhaltenden Sozialdemokraten protestierten die Kommunisten sofort gegen die neuen Machtverhältnisse. Mit Sprechchören forderten sie die Wolfenbütteler Einwohner am Tag danach auf, um 19 Uhr an einer Gegendemonstration „gegen Hitler und Hugenberg“ teilzunehmen. Kreisdirektor Hinkel reagierte sehr schnell und verbot die Veranstaltung. In einem Schreiben an Klagges teilte er mit, die lokale KPD habe am 31. Januar ein Flugblatt verteilt, in dem es u.a. geheißen habe: „An die Arbeiterschaft Wolfenbüttels, Kollegen, Klassengenossen! Die politische Lage in Deutschland hat Formen angenommen, die Parole Abwarten oder kleineres Übel hat uns mit eindringlicher Wucht bewiesen, wohin wir gekommen sind. Kollegen, Genossen, Erwerbslose! Die Parole heißt heute nicht Abwarten, sondern Handeln. Generalstreik zum Sturz dieser Regierung muß unsere Antwort sein. Heute Abend sieben Uhr große Massenkundgebung auf dem Schloßplatz. Massen heraus! Es lebe die Einheitsfront aller Arbeiter. KPD, gez. Rönnicke, Wallstraße 1.“

Die Lokalzeitung berichtete am nächsten Tag, als die Kommunisten nach ihrer Werbung auf dem Schloplatz eintrafen, sei der bereits von Polizei besetzt gewesen: „Die Demonstration wurde nach der Auguststadt zu abgedrückt, während die übrigen auf die Aufforderung der Beamten hin ebenfalls den Platz verließen. Natürlich hatte die Ansage der Gegendemonstration auch sehr viele Neugierige auf die Beine gebracht und noch lange wimmelte es in der verhältnismäßig stillen Straße der Auguststadt wie in einem Ameisenhaufen. Überall standen Gruppen und diskutierten über das Verbot dieser Kundgebung. Der Aufforderung der Beamten, in Bewegung zu bleiben, wurde überall entsprochen, sodass es nirgends zu Ausschreitungen kam. Hier und da bildeten sich kleinere Sprechchöre, die ihr „Nieder mit Hitler“ hören ließen. Sie verstummten aber bald, wenn die Beamten nahten.“

Auch in Braunschweig versuchten die Kommunisten, die Arbeiterschaft für Gegenmaßnahmen zu gewinnen. Ihren Aufruf zum allgemeinen Streik bezeichnete die WZ als „Generalstreikhetze“. In die Unruhe des Auseinandertreibens der Kommunisten marschierte dann in Begleitung eines großen Polizeiaufgebots um 18 Uhr die Eiserne Front durch die Stadt. Die Polizei bezifferte die Zahl der Demonstranten auf 2500, Rother nennt dagegen 7000 Teilnehmer.

Den Vorwurf des Verrats (der sogenannten Novemberverbrecher) im im obigen Aufruf der Nazis griff der SPD-Vorstand in einem eigenen Appell an das Deutsche Volk auf, an Frauen und Männer: Wenn es ein Novemberverbrechen gäbe, dann nur jenes, das die Harzburger Parteien der Sozialdemokratie nie verzeihen würden: Das Davonjagen der unfähigen Dynastien und die Beseitigung der Vorrechte des Adels, das Abschaffen des „Geldsackwahlrechts in Preußen“ und die „Gesindeordnungen“ für die Landarbeiter auf den Gütern der Ostelbier. Um all dieses rückgängig machen zu können, suchten sie am 5. März die Mehrheit. Gegen diese Pläne müsse gekämpft werden; wie sie sich diesen Kampf vorstellten, sagten die Vorstandsgenossen ihren Ortsvereinsgenossen allerdings nicht. Sie überhäuften sie dafür mit noch mehr kämpferischer Prosa: „Freiheitsfront gegen Harzburger Front! Greift an!“ und baten dann etwas ausschweifend um deren Stimmen: „Gebt den Feinden eurer Freiheit am 5. März die Antwort, die sie verdienen, damit ihnen ein für allemal die Lust vergeht, sich an euren Rechten zu vergreifen.“

Der SPD-Landesverband veranstaltete eine Woche später noch einen großen Parteitag in Bad-Gandersheim, den der Volksfreund als „Eine machtvolle Kundgebung für den Sozialismus“ bezeichnete. Doch, und hier soll der SPD-Kenner Bernd Rother zitiert werden, es schien so, „dass der Parteitag mehr die Funktion hatte, sich selbst Mut zu machen, denn konkrete Strategien angesichts der neuen Situation zu diskutieren.“ Viele Parteiführer hatten innerlich schon kapituliert: „Ab Mitte Februar zog sich die SPD-Elite ins noch sichere Bayern zurück: Wels, Löbe, Vogel, Breitscheid, Scheidemann, Dittmann – jeder war bereit, sich spätestens am Wahltag nach Österreich abzusetzen.“

„Die Zusammenstöße häufen sich“, titelte die Lokalzeitung vor dem ersten Hitler-Wochenende, und berichtete über Zusammenstöße im ganzen Reich: „Die Liste der Todesopfer und Verletzten wächst.“ Die Wolfenbütteler Schauburg rief in einer großen Freitags-Anzeige die Tonfilmfreunde zum Besuch des neuen Films „Der Rebell“ mit Luis Trenker ins Kino: Die Anzeige enthält eine Zeichnung von kämpferisch dreinblickenden Männern, angeführt vom bekannten Berghelden, die eine mit dem Adler geschmückte Fahne errichten wollen und daran von einem Uniformierten gehindert werden sollen; eine Scene, die schon bald in Wolfenbüttel Wirklichkeit werden sollte.

Am folgenden Montag kündigte die Zeitung die „Beschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit“ an und sah darin „angesichts der bevorstehenden Wahlen und besonders bei der Kürze der Vorbereitungszeit einen besonders schweren Eingriff in die Rechte der Gesamtheit“. Die neue Verordnung, die tags darauf in voller Länge veröffentlicht wurde – und mit der Versammlungen und Aufzüge verboten werden konnten, „wenn in ihnen zum Ungehorsam gegen Gesetz oder rechtsgültige Verordnungen angereizt wird“, traf auch gleich die Wolfenbütteler Eiserne Front. Da „man Befürchtungen hegte, daß Ruhe und Ordnung gefährdet seien“, wurde der Aufmarsch der hiesigen Arbeiterbataillone aus SPD-Mitgliedern und Gewerkschaftern prompt verboten. Die Polizei durchsuchte die Wohnungen führender Kommunisten und beschlagnahmte eine Anzahl Schriften, „die aber nichts sonderlich Belastendes ergaben“.

Während im Reich die politischen Zusammenstöße immer neue Todesopfer forderten, in Braunschweig starben ein Kommunist und ein Sozialdemokrat, als SS und SA durch Braunschweiger Arbeiterviertel marschierten, empfing Hitler in Berlin leitende Redakteure der großen Zeitungen des Reiches. Die WZ titelte: „Presseempfang beim Kanzler – Hitler für Pressefreiheit.“ Der so zitierte erklärte den Pressevertretern anhand eines geschichtlichen Beispiels, was er von ihnen erwartete: „Die deutsche Presse habe gegenüber den Ereignissen der Jahre 1859 bis 1867 vielfach einen falschen Standpunkt eingenommen, indem sie die große historische Entwicklung, die damals angebahnt wurde, nicht verstanden habe. Dasselbe sei hinsichtlich der Person Richard Wagners geschehen. Daher spreche der Reichskanzler den Wunsch aus, dass die deutsche Presse gegenüber demjenigen Geschehen, das sich jetzt vollziehe, nicht in den gleichen Fehler verfalle.“ Diese bittend dargebrachte Forderung war jedoch eindeutig, zumal Hitler noch den „Glauben an seine Sendung“ erläuterte und das bevorstehende Wahlergebnis mit einer klaren Aussage relativierte: „Nichts werde ihn daran hindern, und selbst, wenn er ganz allein stehe und mit Steinen beworfen werde, er werde seine Aufgabe, die Erneuerung Deutschlands, durchführen und sich durch nichts, aber auch durch gar nichts darin erschüttern lassen.“ Trotz der Mahnungen Hitlers, die derzeitige Situation nicht mißzuverstehen, übte die Lokalzeitung Kritik an den schnellen Entschlüssen des neuen Reichskanzlers und an seinem geplanten Vierjahresplan: „Der Wiederaufstieg kann nur ganz langsam, Schritt für Schritt vor sich gehen. Und statt nach russischem Muster einen Vierjahresplan aufzustellen, der aus vielen brennenden Gründen nur Enttäuschungen bereiten kann, sollte man sich lieber an das Wort Bismarcks halten: Politik ist die Fähigkeit, in jedem besonderen Moment das Zweckmäßigste oder am wenigsten Schädliche zu tun.“

Zu den Gerüchten, dass die Reichsregierung die KPD verbieten und ihre Kandidatenlisten zwei Tage vor der Wahl für ungültig erklären werde, bezog die wahrlich nicht kommunistenfreundliche Lokalzeitung ebenfalls Position: Sie erläuterte ausführlich die rechtliche Situation und kam zu dem Schluß, dass die Reichsregierung „keine verfassungsrechtliche Möglichkeit zu einer Kassierung der kommunistischen Listen bzw. der Mandate“ habe. Ein solches Vorgehen hätte für die Regierung besonders gefährliche Konsequenzen: Die kommunistischen Stimmen kämen der Sozialdemokratie zugute, und die könnte dann gemeinsam mit anderen Parteien im Reichstag eine Mehrheit erringen, wodurch sich ganz neue Konstellationen ergeben würden: „Angesichts dieser Erwägungen wird man ohne weiteres annehmen können, dass das Kabinett Hitler Papen Hugenberg nicht an ein solches Spiel mit dem Feuer denkt.“

Dass Hitler nicht mit dem Feuer spielen werde, sondern einen konkreten Großbrand als Teil seiner Machtfestigung entfachen werde, konnte sich in diesen Tagen wohl kaum ein Mensch vorstellen. Die Lokalzeitung, die sich kritisch und zustimmend in sachlicher Formzur Lage äußerte, versuchte auch ganz persönliche Probleme des unverheirateten Reichskanzlers Hitler aufzugreifen: „Einen neuen Reichskanzler, ja – aber keine neue Frau Reichskanzler. Es wird keine Einladungen in dem heute üblichen Stil geben: „Der Herr Reichskanzler Adolf Hitler und Frau Hitler beehren sich…“

Ein Mann dieser zu erwartenden Größe konzentrierte seine Liebe nicht auf einen Menschen, das hätte die Zeitung wenigstens wissen sollen: Veröffentlichte sie doch Passagen seiner Rede aus dem Berliner Sportpalast, in dem er in seiner theatralischen Art vor die Nation trat und über alle deutschen Rundfunksender sein Liebesbekenntnis ablegte: „Deutsches Volk, gib uns vier Jahre Zeit – dann richte und urteile über uns. Ich kann mich nicht lossagen von der Überzeugung, dass diese Nation wieder einst auferstehen wird, kann mich nicht entfernen von der Liebe zu diesem meinem Volk und hege felsenfest die Überzeugung, daß einmal doch die Stunde kommt, in der die Millionen, die uns heute verfluchen, hinter uns stehen und mit uns begrüßen werden dann, das gemeinsam geschaffene, mühsam erkämpfte neue Deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Gerechtigkeit. Amen.“ Von Größe und Ehre träumen, das gefiel unzähligen Menschen, und Kraft und Gerechtigkeit, wie auch immer ausgeübt, sollte die treffen, die diese Träume störten. Goebbels notierte nach diesem Schäferstündchen mit dem Reich in seinem Tagebuch: „Die Massen im Sportpalast geraten in einen sinnlosen Taumel. Nun erst beginnt die deutsche Revolution auszubrechen.“

Die Revolution hatten bekanntermaßen auch die Kommunisten im Sinn, die sich von den Verboten und Drohungen nicht einschüchtern ließen und zum Widerstand nicht nur aufriefen, sondern ihn auch praktizierten. Trotz Versammlungsverbot trafen sich am 11. Februar am Grünen Platz dreiundzwanzig Wolfenbütteler Kommunisten, um mit einem „Hungermarsch“ gegen die Notlage der Erwerbslosen zu protestieren. Früh um 8 Uhr zogen sie schon los in Richtung Braunschweig, wo sie am Ortseingang ein Überfallkommando in „Schutzhaft“ nahm. Sie kamen noch gelinde davon: Ein Schnellrichter verurteilte sie zu drei Tagen Gefängnis, setzte sie dann aber frei und ließ sie über die Stadtgrenze abschieben. Die Braunschweiger Tageszeitung verbreitete die Lüge, die Polizei habe bei der Durchsuchung der Männer sechzehn Pistolen und Munition gefunden.

Quellen:
Volksfreund
Wolfenbütteler Zeitung (WZ)
Braunschweiger Tageszeitung (BTZ)
Bullock, Allen, „Hitler, Der Weg zur Macht“, Band 1, Frankfurt 1964
Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel
Artelt, Jork, „Das II Reich, 1933-1939“, Augsburg 1991
Hitler, Adolf, „Mein Kampf“
Rother, Bernd, „Die Sozialdemokratie im Land Braunschweig 1918 bis 1933, Bonn 1990“
Höhne, Heinz, „Warten auf Hitler“, SPIEGEL Nr 6/1983
Rüdiger, Otto, „Das Wirken vom sozialdemokratischen Ortsverein der Stadt Wolfenbüttel“, unveröffentlicht