4. Prozesstag


„6. Januar 1947.
Pierre Verhaegen antwortet auf Fragen der Rechtsanwälte Grünkorn und Schmidt, die sie zu Einzelheiten seiner vorausgegangenen Aussage stellen: Alle Mitglieder meiner Familie arbeiteten entweder im belgischen Widerstand oder halfen in irgendeiner Weise den Alliierten. Meine Mutter hat deswegen ein Jahr lang im Gefängnis gesessen, mein jüngerer Bruder war für sechs Monate im Lager Merxplas eingesperrt.
Als Jurastudent weiß ich, dass ich wegen der Unterstützung des alliierten Spionagedienstes vor ein deutsches Militärgericht hätte gestellt werden können. Keinesfalls stimme ich der Ansicht zu, dass es großmütig war, mich stattdessen zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu verschleppen.
Im Lager wurde viel über den Krieg und über unsere schlechten Lebensbedingungen gesprochen. Weil mancher Klatsch oft sehr übertrieben war, habe ich mich in meiner Aussage auf die Dinge zu beschränken versucht, die ich selber erlebt habe. In den Baracken hingen schwarze Bretter, auf denen der Name des Blockältesten, die Zahl der Betten und deren Belegung verzeichnet waren. Schriftliche Anordnungen habe ich nie gesehen. Die wurden ja auch mündlich von den Kapos erteilt. Ungefähr zwei Drittel meines Aufenthaltes in Schandelah habe ich im Lazarett verbracht. Die meisten Kranken konnten entweder kaum gehen, oder mußten ständig liegen, wie ich auch. Die längste Zeit konnte ich gerade mal für eine Stunde aufstehen. Im Lazarett arbeitete ein Sanitäter, ein Ungar, der vom Horthy-Regime aus Ungarn wegen seiner französischen Abstammung ausgewiesen worden war. Neben französisch sprach er fließend deutsch und ungarisch, ein wenig polnisch und russisch.
Napp war ein guter Mann und bemühte sich wirklich ernsthaft darum, den Kranken zu helfen. Die Medizin war seine große Leidenschaft. Zwischen ihm und den Gefangenen bestand zwar kein Vertrauensverhältnis, aber Angst brauchte man vor ihm nicht zu haben. Alle Aufnahmen im Lazarett wurden in einem Buch notiert. Napp bestimmte immer, welche Krankheit angegeben werden sollte. Neben den Entlassungen mußten auch die Todesfälle eingetragen werden. Ich habe das Buch ungefähr zwei Wochen lang geführt. Obwohl ich kein Fachmann bin, glaube ich, dass die Eintragungen über die Art der Krankheiten durchaus korrekt waren. Nein, zu Napps Assistenten gehörte ich nicht. Neben der gerade erwähnten Buchführung habe ich auch andere kleine Aufgaben erfüllt. So gehörte es im März zu meinen Aufgaben, z.B. den kleinsten Raum des Lazarett sauber zu halten. Napp war ein außergewöhnlicher Mensch, wenn man bedenkt, dass er nur Mauerer war. Er hat Hunderte von Operationen durchgeführt, kleine und große. Einige von ihnen habe ich miterlebt.
Für mich ist jeder kleine Schnitt am Körper eine Art Operation. Das Öffnen einer Wunde zum Herausdrücken von Eiter rechne ich aber nicht dazu. Napps Behandlung eines Ödems an meinem geschwollenen Bein halte ich für angemessen. Ich habe nicht erlebt, dass Napp für verbrauchte Arzneien und Verbandsmaterialien Ersatz bestellt hat. Ich erinnere mich aber, dass er sehr wütend wurde, wenn jemand ein Thermometer zerbrach. Er sagte immer, er könne dafür keinen Ersatz bekommen. Zeitweilig hatte er bis zu drei Assistenten. Die Gefangenen halfen sich sehr wenig untereinander. Jeder hatte genug damit zu tun, für sich selber zu sorgen. Wir waren brutal und scheußlich zueinander – wie mein Vater sagte: Wolf unter Wölfen.
Ich habe nie gesehen, daß Dr. Zschirpe Patienten untersucht hat und habe auch nicht miterlebt, daß er sich nach den Bedingungen des Lazaretts erkundigt hat. Wenn er gefragt hätte, wäre ihm bestimmt bedeutet worden, sich um seine eigenen Dinge zu kümmern. Er hat immer nur die Leichen untersucht. Die lagen anfangs nackt hinter der Latrine, und es war verboten, sie abzudecken. Später wurden sie in Holzkästen gelegt, die aber keine Särge waren. Die Kisten blieben meistens offen. Passanten, die auf der Straße am Lager vorbeigingen, konnten die hinter der Latrine liegenden Leichen nicht sehen.
Mir war bisher nicht bekannt, daß in der Deutschen Wehrmacht wie im Schandelaher Lazarett auch nur Papierbinden benutzt wurden und die medizinische Versorgung ebenfalls schlecht war.
Grosse war ein Mann mit brutaler Veranlagung. Ich denke schon, daß manche seiner Schläge ab und zu durchaus notwendig waren, womit ich sein Verhalten keinesfalls rechtfertigen möchte. Er schlug jedoch immer viel zu hart zu. Seine Schläge standen nie in irgendeinem Verhältnis zu der Verfehlung, die er bestrafen wollte. Der Gummiknüppel bestand nur aus Gummi., war ungefähr 40 bis 50 Zentimeter lang und so dick wie mein Daumen. Die hohlen Knüppel waren aus einem anderen flexiblen Material. Das Stück Seife, das sie mir zeigen, sieht genau so aus wie das Stück, das ich in der SS-Baracke gestohlen habe. Das war mir nur gelungen, weil ich dort von der Tischlerei aus arbeiten mußte. Nicht alle Gefangenen haben Seife erhalten. In den Blocks 1, 2 und 3 soll einmal Seife verteilt worden sein, jedoch nicht genug für alle. Weil ich nicht selber dabei war, kann ich Ihnen nicht sagen, wieviel Prozent der Gefangenen leer ausgegangen sind. In der Nähe der Öfen soll es einen Tank mit heißem Wasser gegeben haben. Ich kann mir entgegen ihrer Ansicht nicht vorstellen, daß es dort für Gefangene möglich gewesen sein soll, während der Arbeit die Kleidung auszuziehen, sie zu waschen und zu trocknen und weiterzuarbeiten .
Zwischen den Aufenthaltsbedingungen in Neuengamme und Schandelah kann ich klar unterscheiden. Kleidung, Essen und Prügel unterschieden sich nicht. Weil wir in Schandelah fast nur draußen arbeiten mußten, war hier die Todesrate wegen der Kälte höher. Andererseits hatten wir in Schandelah nicht die in Neuengamme üblichen Erhängungen zu fürchten. Weil wir die Deutschen natürlich nicht unterstützen wollten, arbeiteten wir absichtlich langsam und ungenau. Außerdem waren wir für die schwere Arbeit viel zu geschwächt.
Wir hätten es nie gewagt, uns über unsere Lebensbedingungen zu beschweren. Einzelne Dinge konnte man zwar gegenüber den Kapos erwähnen, was allerdings kaum zum Erfolg führte, da sie meistens gar nicht zuhörten. Wir Gefangenen durften nicht mit den Zivilisten sprechen, denen das ihrerseits auch nicht erlaubt war. Sie hatten aber keine disziplinarische Gewalt über uns. Der Zivilist, der mir meine Zigarettenkarte wegnahm, sagte nur: Gib sie her.
Ja, ich habe gesagt, daß ich bei meiner Ankunft in Schandelah gefroren habe. Darum habe ich mir ja am nächsten Tag Säcke besorgt, mit denen ich mich warm halten wollte. Ich bleibe bei dieser Aussage auch, wenn sie belegen, daß es damals in Deutschland sehr warm war.
Wie ich schon sagte, wurde die Kleiderkammer von einem Russen geleitet. Er trug auf seiner Kleidung ein R. Ich habe gesehen, daß dort Ersatzkleidung lagerte, glaube aber nicht, daß der Lagerbestand ausreichte, die Gefangenen mit Ersatzkleidung zu versorgen. Man mußte sich dem Russen in Deutsch verständlich machen, weil Deutsch die offizielle Lagersprache war. Gewöhnlich wurde man aber schon rausgeworfen, bevor man sagen konnte, was man wollte. Ich habe gesehen, wie Kleidung angeliefert wurde, darunter auch Gummistiefel, die nur an die Mitglieder der Mafia ausgegeben wurden.
Die Mafia bestand aus ungefähr 50 Gefangenen. Sie trugen meistens Gummistiefel. Es waren immer die gleichen Männer, nämlich die, die genügend Essen bekamen, die gut gekleidet waren und die immer ausreichende Mengen Zigaretten besaßen. Sie brauchten, wenn überhaupt, nur leichte Arbeiten ausführen und sollten auf andere Gefangene aufpassen, wenn es für erforderlich gehalten wurde, mußten sie Prügel verteilen.
Ja, die Schienentrasse nach Schandelah war schmaler als die der normalen Eisenbahn. Die Schwellen, die wir allein tragen mußten, waren aus Holz. Sie wogen zwischen 20 und 25 Kilo. Für einen gesunden Mann war das nicht zu schwer. Für die jedoch, die sich kaum auf ihren Beinen halten konnten, waren sie nicht zu bewältigen. Im Lager gab es ein aus 10 Gefangenen bestehendes Arbeitskommando. Diese Männer mußten z.B. die Latrine leeren und sie säubern. Die Namen der am elektrischen Zaun umgekommenen Männer kenne ich nicht. Ich habe Wasser aus dem Kessel der Lokomotive getrunken, weil ich nicht zum Wassertank bei den Öfen gehen durfte. Die Öfen lagen zu weit entfernt. Wäre ich einfach hingegangen, hätte ich bestimmt teuer dafür bezahlen müssen.
Wir erhielten morgens ungefähr ein Zehntel eines Brotlaibes, abends ungefähr ein Fünftel. Wenn das Brot wirklich 1500 Gramm gewogen hat, müssen das pro Tag ungefähr 450 Gramm gewesen sein. Ich vermute jedoch, daß es eher weniger war. Die extra Suppe, die wir mittwochs erhielten, schmeckte zwar nie schlecht, aber nicht nach Milch. Die Kapos bekamen mehr Essen als wir. Sie konnten sich fast jeden Tag Bratkartoffeln machen. Während meines Aufenthaltes im Lager Schandelah war mir nicht bekannt, daß die Ernährungssituation in ganz Deutschland schlecht war. Die Waggons, mit denen wir evakuiert wurden, waren geschlossen und hatten an den Seiten Schiebetüren. Die Lüftungslöcher im Dach waren vergittert. Ich weiß nicht, aus wieviel Waggons der Zug bestand. Im Lager ging das Gerücht um, Ebsen sei gegen die Evakuierung gewesen.“

Prozessakten, Public Record Office, London (Übersetzung der englischen Originale durch J.K.)