Stahlhelm II


Fortsetzung Stahlhelm

Die WZ berichtete am nächsten Tag in großer Aufmachung über die „Entwaffnung des Stahlhelm in Braunschweig“ und veröffentlichte unter Verzicht eigener Berichterstattung die offizielle Darstellung des Innenministers Klagges, in die zum ersten Mal auch der nationale „Volkszorn“ eingewirkt war: „Die Stahlhelm-Ortsgruppe Braunschweig nahm seit Tagen ganze Scharen neuer Mitglieder aus den aufgelösten und niedergeschlagenen Organisationen auf. Am Montag nahm diese Eintrittsbewegung Massencharakter an. Hunderte ehemalige Reichsbannermitglieder, Sozialdemokraten und Kommunisten zogen zum Teil in geschlossenen Abteilungen und unter Bedeckung durch Stahlhelm-Hilfspolizei zum Wachtlokal des Stahlhelms in dem Gebäude der Ortskrankenkasse. Fortgesetzt wurde Freiheit, Frontheil und Rotfront gerufen. Vor dem Hause und in den anliegenden Straßen sammelte sich eine erregte Menge von Kommunisten und Sozialdemokraten, aus deren Mitte drohende Rufe gegen Adolf Hitler und gegen die NSDAP laut wurden. Unter Duldung des Stahlhelms nahm der rote Mob, der seit Wochen sich nicht mehr aus seinen Schlupfwinkeln herausgewagt hatte, eine drohende Haltung gegen Nationalsozialisten und Hitlerjungen an. Es kam sogar zu Mißhandlungen von Hitlerjungen durch Stahlhelmer. Infolge dieser unerhörten Haltung des Stahlhelms, durch die der Erfolg der nationalen Erhebung in Braunschweig auf das schwerste gefährdet wurde, bemächtigte sich der nationalen Bevölkerung der Stadt eine unbeschreibliche Aufregung.“

Mit Lügen rechtfertigten die Nazi-Führer ihre Maßnahmen, und mit weiteren Lügen informierten sie ihre „national“ gesinnte Bevölkerung über den Ablauf des Geschehens. Auch den Ablauf des gewaltsamen Überfalls auf ihre Bundesgenossen und halb überlaufenden ehemaligen Gegner, der in der weiteren Stellungnahme als „Überholung“ bezeichnet wird, beschrieben die wahrscheinlichen Autoren Klagges und Alpers in Lügen: Schutzpolizei sei unter Führung ihres Leiters eingesetzt worden, während SA und SS nur Plätze und Straßen der Umgebung abgesperrt und „gesäubert“ hätten. Die Stahlhelm-Hilfspolizei sei entwaffnet, Hunderte von Zivilisten namentlich festgestellt und ganze Pakete von Anmeldungen beschlagnahmt worden; von Gewalttaten kein Wort.

Vor dem Richter und in Gegenwart des dafür hauptverantwortlichen Klagges berichteten eine ganze Reihe von Männern über die erlittenen Folterungen: Franz Sch. mußte auf allen vieren kriechen und dabei wie ein Hund bellen. Dabei traten ihn zwei SS-Leute mit ihren Schaftstiefeln in die Seite, ins Gesicht und ins Gesäß. Dem Reichsbannermann J. schlugen Nazis mit Gummiknüppeln über den Kopf, sodaß er zusammenbrach. Oswal A. zerrten 2 SS-Männer in den Keller und schlugen ihn dort mit schweren Schlagwerkzeugen über den Kopf und ins Gesicht. Karl J. mußte sich mit anderen Männern in Reih und Glied aufstellen. Dann gingen SS-Leute an ihnen entlang und schlugen auf sie ein. Der Reichsbannerführer Louis H. mußte mit anderen Männern durch ein Spalier von SS-Männer Spießrutenlaufen. Als Nazis den bekannten Hundertschaftsführer Hermann B. erkannten, stürzten sie sich in großer Zahl auf ihn und schlugen mit verschiedenen Schlaginstrumenten auf ihn ein. Besonders harte Folterungen erlitt der ehemalige Tambourmajor Robert B. Alpers schleppte ihn persönlich in ein besonderes Zimmer: „Dort fielen mehrere SS-Männer über ihn her, rissen ihm die Kleider vom Leibe, warfen ihn über einen Tisch und schlugen, nachdem sie ihn auch mit Wasser begossen hatten, mit Schlaginstrumenten der verschiedensten Art, vornehmlich aber mit Stahlruten, etwa 10 bis 15 Minuten lang blindlings auf ihn ein.“ Zwei Sanitäter brachten ihn später in einen Krankenwagen, in dem bereits vier andere Verletzte lagen. Nach Ansicht des ihn behandelnden Arztes hat er die Tortur nur wegen seiner kräftigen Konstitution überlebt. Auch der Stahlhelm-Hilfspolizist Willi L. fiel Alpers in die Hände. Der zukünftige Justizminister nahm eine herumliegende Patrone von der Erde auf und stieß sie dem Zeugen ins Gesicht, wobei er ihn fragte, ob er wisse, was das sei. Als er die Frage verneinte, sagte Alpers: „Das ist ein Dumdum-Geschoß. Damit wolltet ihr auf uns schießen!“

Die BTZ berichtete, es habe „zahlreiche“ Verletzte gegeben, erwähnte natürlich nicht, dass hierfür SS-Männer verantwortlich waren: „Bei der Riesenzahl von Sozialdemokraten, Kommunisten und Stahlhelmern ist es, wie wir weiter erfahren, nicht ohne Zwischenfälle abgegangen. Bei der Besetzung des Hauses durch Schutzpolizei kam es zu Zusammenstößen zwischen den Beamten und den Insassen des Hauses, wobei es 21 Verletzte gab. Es sind auch einige Schüsse gefallen. 11 Verletzte konnten noch im Laufe der Nacht wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Einer der Verletzten hat einen Bauchschuß erhalten; er liegt in bedenklichem Zustande im Landeskrankenhaus.“

Nachdem während des Geschehens einige Männer entlassen worden waren, saßen am folgenden Morgen rund 200 Stahlhelmer und 1150 Marxisten in der AOK unter schwerer Bewachung fest. Rund 100 Männer waren noch in der Nacht in das Wolfenbütteler Gefängnis transportiert worden. Alle Festgehaltenen standen unter dem Verdacht der „Vorbereitung einer gegenrevolutionären Handlung“. Klagges bestimmte sofort, dem Stahlhelm das Recht zu nehmen, Hilfspolizisten zu stellen. Die bereits amtierenden Stahlhelm-Hilfspolizisten sollten entwaffnet und ihnen die Ausweise abgenommen werden. Zudem löste er mit einer gleich erlassenen Verfügung den „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten und seine Nebenorganisationen im Freistaat Braunschweig mit sofortiger Wirkung“ auf.

Während der vier Tage dauernden Festnahme der Braunschweiger Gefangenen trieben die Nazis die Männer mehrfach in kleinen Trupps vom AOK-Gebäude, an dem das Schild „Stahlhelm-Hilfspolizei-Kaserne“ durch ein großes Transparent mit der Aufschrift „Adolf-Hitler-Kaserne der Standarte 92“ ersetzt worden war, in die nahegelegene Humboldtkaserne zur Einnahme von Mahlzeiten: „Dieses geschah aber nicht immer auf dem schnellsten Wege, sondern in mehreren Fällen wurden Häftlinge auf einem großen Umweg durch die Stadt geführt, wobei sie die Hände über dem Kopf erhoben halten mußten.“Die BTZ berichtete, dass auch erwogen wurde, ein Konzentrationslager einzurichten. Die Vernehmungen der Reichsbannerleute habe ergeben, dass zunächst das Regierungsgebäude und das Volksfreundhaus habe besetzt werden sollen, um dann eine Aktion gegen die politischen Führer der NSDAP durchzuführen: Nur der Tatsache, dass der braunschweigische Innenminister persönlich sofort energische Maßnahmen eingeleitet habe, ist es zu verdanken, wenn die Nacht zum Dienstag äußerlich ruhig verlaufen ist und die ganze anscheinend gegenrevolutionäre Bewegung im Keime erstickt worden ist.“

Hinter der weiträumigen Absperrung des Gebäudes warteten viele Menschen, die etwas über das Schicksal ihrer Familienangehörigen erfahren wollten.
Diese „aufsehenerregenden Vorkommnisse“, so die WZ, führten in der blutigen Nacht auch zu Maßnahmen in Wolfenbüttel: „Oberlehrer Schrader wurde durch die Hilfspolizei gegen 1.30 Uhr in seiner Wohnung festgenommen und mit ihm die beiden sich dort aufhaltenden Bezirksführer Barnewitz und Marschgruppenführer Ehlers. Zugleich erfolgte eine Hausdurchsuchung“, bei der auch „belastendes Material“ gefunden worden sein soll. Die der Hilfspolizei zugeteilten Stahlhelmer, die am nächsten Morgen zum Dienst kamen, wurden entwaffnet und ebenfalls alle im Besitz der Stahlhelmer befindlichen Ausrüstungsgegenstände beschlagnahmt.

Am gleichen Tage rief Kreisdirektor Hinkel Amtsgerichtsrat Hans von Nordheim an und teilte ihm mit, er müsse damit rechnen, heute ebenfalls verhaftet zu werden. Von Nordheim gehörte zwar nicht der Stahlhelm-Führung an, wurde wohl aber wegen seiner beruflichen Qualifikation zu wichtigen Beratungen hinzugezogen. Hinkel gab ihm den freundschaftlichen Rat, sich der Verhaftung nicht zu widersetzen und einen öffentlichen Eklat zu vermeiden. Von Northeim erwiderte, dass es ja wohl seine (Hinkels) Aufgabe sei, diesen Übergriff zu verhindern; Hinkel antwortete, dazu sei er außerstande. Von Northeim rief daraufhin sofort Justizminister Küchenthal an und blieb auch hier erfolglos . Küchenthal meinte, er müsse selber wissen, ob er kompromittiert sei.

Von Northeim wies den Minister auf seine Pflichten hin: Es gehe jetzt darum, ob er sich vor den Richter stellen und ihn vor derartigen ungesetzlichen Übergriffen schützen wolle. Er forderte Küchenthal auf, sofort zu Klagges zu gehen und in zu veranlassen, seine Wolfenbütteler Parteigenossen zur Ordnung zu rufen und solcherlei Übergriffe zu unterlassen. Doch Küchenthal versagte sich dem Richter vollends und überließ es seiner Entscheidung, zu reagieren.; er riet ihm allerdings, keinen Widerstand zu leisten. Die Nazis verhafteten den Richter an diesem Tage noch nicht, durchsuchten aber abends sein Haus.

Theodor Duesterberg, der nach Einschätzung von Volker R. Berghahn in Hitler nicht den von „der Mehrheit der Stahlhelmer hoffnungsvoll und jahrelang geforderten und jetzt endlich erschienenen Diktator,“ sah, beschrieb das Verhalten seines Landesführers etwas anders. Schrader habe ihn am nächsten Morgen, als er nach Angabe der WZ bereits im Wolfenbütteler Gefängnis einsaß, angerufen und um Entscheidung gebeten. Seldte hatte er telefonisch nicht bekommen können – ob er sich denn alles gefallen lassen müsse. Abends traf Duesterberg Hitler auf einem Empfang gegenüber dem Reichspräsidentenpalais: „Hitler empfing ihn in einem schlechtsitzenden Frack, ein unglaubliches, komisches Bild. Ich redete ihn etwa mit den Worten an: „Herr Hitler! Klagges treibt die Sache in Braunschweig doch zu weit!“ Voller Haß zischte er mich an: „Sie haben erst ihrem Führer Schrader den Befehl zum Putsch erteilt. Sie tragen also die Schuld.“ Hitler sagte: „Das Gespräch ist mitgehört und mir so gemeldet“ Ich bestritt dieses energisch.“

Statt weiter auf die Braunschweiger Vorgänge einzugehen, beschreibt Duesterberg in seinem Buch „Der Stahlhelm und Hitler“, 1949 in Wolfenbüttel erschienen, seine eigene Rolle bei Gegenmaßnahmen mit ca. 30.000 Stahlhelmern in Berlin nach dem Aufkommen von Gerüchten, Hitler habe der SA nach der Reichstagswahl eine „Nacht der langen Messer“ zugesagt, „in der alle Staatsfeinde und Juden liquidiert werden sollten“. Sein Resumee: „Dieser Stahlhelm-Aufmarsch hat nach menschlichem Ermessen die beabsichtigten „spontanen“ SA-Exzesse im Stile der „Reichskristallwoche“ verhindert. Sein weiteres Schicksal: Nach der Röhm-Affäre vorübergehend im KZ Dachau inhaftiert, fand er später zum Widerstandskreis um Goerdeler, überstand aber die Verfolgungen nach dem gescheiterten Juli-Attentat 1944.

Die Braunschweiger Vorgänge, von den Nazis zum Putschversuch und Hochverrat hochgelogen, führten zu Reaktionen im ganzen Reich und zu hektischen Besprechungen in Berlin. Aus der Reichshauptstadt ließ der 1. Stahlhelm-Bundesführer und Arbeitsminister, Franz Seldte, zunächst noch seine Ahnungslosigkeit verlauten. Es habe in letzter Zeit allerdings einen außerordentlich großen Ansturm zu den nationalen Verbänden bemerkbar gemacht. Dieses sei auch die Folge eines von Hitler im Reichstag gemachten Ausspruches, er wolle alle Volksgenossen langsam für sich gewinnen. Die Auswahl der neuen Mitglieder erfordere einen gewissen Takt des zuständigen Führers, und er habe das Gefühl, dass der in Wolfenbüttel beheimatete Braunschweiger Stahlhelmführer mit den Vorfällen nichts zu tun habe: Er kenne ihn seit langer Zeit als zuverlässigen Mann.

Göring und Seldte verhandelten und schickten ihre und einen Beauftragten des Reichsinnenministeriums nach Braunschweig. Sie trafen per Flugzeug um 16.30 ein und trafen sich sofort mit Klagges, Alpers, Zörner, SS-Oberführer Sauckel, einigen Landtagsabgeordneten und Minister Küchenthal. Kurz vor 19 Uhr fuhren sie zum Flugplatz, um dort Stahlhelmführer Seldte zu einer weiteren Krisensitzung abzuholen. Um 22 Uhr übergab Minister Küchenthal der Presse eine Verlautbarung:
„Die Reichsregierung erkennt die vom braunschweigischen Innenminister Klagges gegenüber dem Stahlhelm, Gau Braunschweig-Stadt, ergriffenen energischen Maßnahmen als berechtigt an. Nachdem der Reicharbeitsminister Franz Seldte als erster Bundesführer des Stahlhelm die disziplinarische Erledigung der Angelegenheit zugesagt hat und die Gefahr einer illegalen Aktion marxistischer Organisationen unter falschem Decknamen beseitigt ist, wird Minister Klagges das für das Land Braunschweig ausgesprochene Verbot des Stahlhelm mit dem 1. April 1933 aufheben.“

Seldte flog in Braunschweig um 23.25. wieder ab. Um die folgende Mitteilung der WZ entspann sich dann eine weitere Auseinandersetzung mit dem Nazi-Blatt BTZ. Die WZ berichtete: „Als Reichsminister Seldte das Regierungsgebäude (in der Braunschweiger Innenstadt) verließ, bereitete ihm die wartende Menge eine spontane Kundgebung.“ Die BTZ behauptete das Gegenteil. Die WZ-Meldung entspräche nicht der Wahrheit, vielmehr sei Seldte mit Rufen wie „Nieder mit dem Stahlhelm!“ und “Pfui-Rufen“ sowie „Pfeifen“ von der „sehr erregten Menge empfangen worden“. Die Zeitung legte Wert darauf, ihren Lesern immer wieder mitzuteilen, dass die Bevölkerung hinter den Nazi-Aktionen stand: Als die Führer zum Empfang Seldtes zum Flugplatz gefahren seien, habe eine vor dem Regierungsgebäude wartende Beifall gespendet: „Sie brach in spontane Heil-Rufe aus und gab damit ihrer Meinung Ausdruck, dass Minister Klagges für sein rasches und dringendes Einschreiten der Dank des ganzen Landes gebührt.“ wußte die BTZ genau Bescheid. „Bei der Ankunft Seldtes brachte die Menge wiederum ein dreifaches, brausendes Sieg-Heil auf Adolf Hitler aus. Während der ganzen Dauer der Konferenz, die sich bis 10 Uhr abends hinzog, verharrte die Menge auf dem Platze und sang immer wieder nationalsozialistische Kampflieder.“

Auch die Führer der Braunschweiger DNVP beeilten im vorauseilenden Gehorsam, sich ihren Herren von der einstigen Splitterpartei zu unterwerfen. In einer Erklärung des Landesverbandes stellten sie sich hinter die Haltung Seldtes und betonten ihr besonderes Interesse an den Vorgängen, da sie den letzten Wahlkampf gemeinsam mit Stahlhelm und Schwarz-weiß-rot geführt hätten. Man habe die große Bedenken, Marxisten einzeln oder in Gruppen bereits jetzt aufzunehmen, da die Gefahr der „Überflügelung“ gegeben sei: „Nur die erprobt nationalen Kreise sind in den gegenwärtigen Tagen geeignet, die nationale Entwicklung zielbewußt, aber auch stetig und ruhig weiterzutreiben. Die DNVP kämpft gegenwärtig Schulter an Schulter mit der NSDAP, da die Gefahr des Bolschewismus noch keineswegs überwunden ist.“

Der Braunschweiger Stadtrat dankte Klagges eine Woche nach dem Vorfall ausdrücklich für die „Niederschlagung des gegenrevolutionären Anschlages“. Sein schnelles und energisches Eingreifen habe diesen „verbrecherischen Plan zuschanden gemacht und großes Unglück“ von der Stadt ferngehalten. Zwei westfälische Stahlhelmführer telegrafierten der Reichsregierung gar die Aufforderung zu einem Massaker: „Nationale Bevölkerung fordert sofortige standrechtliche Erschießung aller am Braunschweigischen Verbrechen mittelbar oder unmittelbar Beteiligten.“ Dass diese mörderische Forderung keine Eintagsfliege war, belegt ein Passus in der BTZ vom 2. April: „Deutsche, sogenannte nationale Männer, haben bewußt dem Marxismus die Hand gereicht, um den Nationalsozialismus zu stürzen. Dieses freche Bubenstück wäre allerdings zweckmäßig mit standrechtlicher Erschießung zu ahnden, wie es aus anständigen Stahlhelmkreisen gefordert wird.“ Doch dazu kam es in diesen März/Apriltagen noch nicht, als gleichzeitig der erste reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte stattfand; das geforderte Massaker an Andersdenkenden holten die Braunschweiger Nazis drei Monate später nach.

Während der weiteren Vernehmungen, der noch anhaltenden Verhandlungen über die Zukunft des Stahlhelm, machte die deutsche Polizei Jagd auf Professor Gustav Gaßner, Rektor der Technischen Hochschule, der als angeblich auch der Deutschen Volkspartei angehörender Deutschnationaler schon vor längerem den Nazis in den Weg geriet. Gaßner fuhr zu Düsterberg nach Berlin und dann, nachdem er vermeintlich die Grenze nicht mehr erreicht hatte, nach Bonn. Als er von dem gegen ihn erlassenen Haftbefehl erfuhr, kehrte er sofort freiwillig nach Braunschweig zurück. Die Polizei nahm ihn auf dem Braunschweiger Bahnhof fest und sperrte ihn ins Gefängnis. Ihm, seinem Sohn und seinem Chauffeur, dem Studenten Nußbaum, warf man vor, vorbereitend an einer „verräterischen Unternehmung“ mitgewirkt zu haben. Bei der Vernehmung nannte er den Aufenthaltsort seines Sohnes, der dann in einem Dorf bei Halberstadt festgenommen wurde. In einem Brief an Klagges, der am schwarzen Brette der Hochschule aushing, teilte er seinen Rücktritt mit.
Zur gleichen Zeit sandten etwa 50 Beamte des Postamtes Braunschweig, was hier auch vermerkt werden soll, dem Reichspostminister ein Telegramm und forderten die sofortige Entlassung dreier marxistischer Posthelfer.

Zur bevorstehenden Sitzung des Bundes-Stahlhelm, bei dem auch eine Entscheidung über den Führungswechsel in Braunschweig fallen sollte, machte sich die WZ-Redaktion eigene Gedanken: „Der enge Zusammenschluß der nationalen Kräfte ist auch jetzt, da der Sieg errungen ist, eine dringende Notwendigkeit, und gerade aus dieser Erkenntnis heraus ist auch die braunschweigische Regierung zur schnellen und friedlichen Beilegung der übel angelegten Sache bereit gewesen, nachdem Minister Seldte die für den Stahlhelm notwendigen Zusicherungen gegeben hatte. Es könnte nun alles gut sein, wenn nicht das nunmehr völlig veröffentlichte Schreiben des Landesführeres Schrader seine Gesinnung verriete, die auf nationalsozialistischer Seite nicht anders als zum mindesten peinlich empfunden werden kann. Ohne dem Verfahren vorgreifen zu wollen, muß man das belastende Scheiben beklagen, – einen Dienst hat der Verfasser mit dem reichlich phantastischen Inhalt seiner „Anregungen“ dem Stahlhelm sicherlich nicht erwiesen. Übrigens wird in der nichtbraunschweigischen Presse der verfängliche Brief an den zweiten Bundesführer minder tragisch genommen; man glaubt dort nicht so recht an Hochverrat und Putschabsichten, sondern erblickt in dem Plan, mit 1000 gut uniformierten Stahlhelmern vor das Ministerium zu ziehen, nur eine demonstrative Absicht.“

So beklagenswert die Vorfälle seien, hätten sie doch ein gutes Ergebnis gebracht: Dem Mitgliederzuwachs von Links würden die Stahlhelm-Verbände nun mit größerer Vorsicht begegnen. Die Frage, wie nun der „irregeleitete deutsche Arbeiter“ organisatorisch in die nationale Bewegung hineingenommen werden könne, bliebe vorläufig noch unbeantwortet: „Die Art, wie es beim Stahlhelm im Prinzip gemacht wird, dürfte richtig sein. Eine lange Prüfungszeit, zwei Bürgen und eine Untersuchung der allgemeinen Qualitäten des Aufzunehmenden dürften die wesentliche Gewähr dafür bieten, dass der in unseren nationalen Verbänden voherrschende Geist sich auf die Neueintretenden überträgt, und daß nicht umgekehrt durch diese Aufnahmen das marxistische Gift in die nationalen Verbände hineingetragen wird.“

Ausgerechnet in dieser Zeit, in der kritische Beobachter der noch anhaltenden und erst dem Höhepunkt zustrebenden nationalsozialistischen Machtergreifung erkennen müßten, dass es sich hierbei um die radikale Vernichtung jedweder Pluralität politischen, religiösen und gesellschaftlichen Lebens handelte, veröffentlichte die katholische Kirche eine Stellungnahme zum Nationalsozialismus. Die WZ veröffentlichte Auszüge der Erklärung am 29. März neben einem Bericht über die Vorgänge in der Braunschweiger AOK: Die Oberhirten der Diözesen Deutschlands hätten aus triftigen Gründen während der vergangenen Jahre gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung eine ablehnende Haltung durch Verbote (z.B. die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche und der NSDAP) und Warnungen eingenommen. Nun sei aber anzuerkennen, dass vom höchsten Vertreter der Reichsregierung, der zugleich der autoritäre Führer jener Bewegung sei, öffentliche und feierliche Erklärungen abgegeben worden seien, durch die die Unverletzlichkeit der katholischen Glaubenslehre Rechnung getragen werde. Ohne die früheren Verurteilungen aufzuheben, glaube der Episkopat, das Vertrauen hegen zu können, dass die bisherigen Warnungen und Verbote nicht mehr als notwendig erachtet würden: Für die katholischen Christen, denen die Stimme ihrer Kirche heilig ist, bedarf es auch im gegenwärtigen Zeitpunkt keiner besonderen Mahnung zur Treue gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zu gewissenhaften Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten unter grundsätzlicher Ablehnung alles rechtswidrigen oder umstürzlerischen Verhaltens.“

Die „rechtmäßige Obrigkeit“ Braunschweigs, willkürlich von der Ideologie und der Interessenlage der NSDAP von Klagges, Alpers und weiteren hart entschlossenen Männern geführt, entließ den von ihnen zum Umstürzler hochstilisierten Oberlehrer am Samstag dieser ereignisreichen Woche aus dem Gefängnis in Wolfenbüttel. Die Entlassung sei jedoch auf Anweisung der Reichsregierung erfolgt, so die WZ, und das Verfahren gegen ihn nehme seinen Fortgang. Ein paar Tage später erfuhren die Zeitungsleser, die Staatsanwaltschaft Braunschweig habe dem Justizministerium mitgeteilt, dass sie „in der Strafsache gegen Schrader und Genossen wegen Verdachtes eines hochverräterischen Unternehmens die Akten dem Oberreichsanwalt zuständigkeitshalber übersandt habe.“ In Haft blieben allerdings noch drei seiner Kameraden: Stahlhelm-Referent Krempel, Marschgruppenführer Ehlers und der Stahlhelmmann Oelker, der sich „beleidigend über den Reichskanzler geäußert“ haben soll.

Klagges‘ Innenministerium gab zudem bekannt, dass das Stahlhelm-Verbot mit sofortiger Wirkung aufgehoben sei: Aus Gründen der Staatsicherheit dürften nur noch Personen als Mitglieder von neuem aufgenommen werden, die bis zum 5. März aufgenommen waren. Die Aufnahme anderer Personen sei bis zum 31. März 1934 verboten. Andere Landesverbände hatten im vorauseilenden Gehorsam von sich aus bereits Aufnahmesperren angeordnet. Mit der Akzeptierung des Mitgliederstopps konnten die Stahlhelm-Organisationen wieder zusammentreten, um vorrangig die Frage der Führerschaft zu klären. So berichtete die WZ am 1. April, der hannoversche Landesführer, Generalleutnant Henning auf Schönhoff, habe den Kaufmann Wilhelm Uhlenhaut zu seinem Stellvertreter im Land Braunschweig ernannt. Außerdem wolle er beantragen, ihn als Mitglied des Bundesvorstandes zu berufen. Die Zeitung erinnerte an die Vergangenheit des provisorischen Führers: Seine Verdienste als Gründer und Organisator seien unvergleichlich. Bis 1926 sei er schon einmal Führer des Braunschweiger Landesverbandes gewesen und habe damals seitens der „marxistischen Machthaber“ persönliche „Verfolgungen“ erleiden müssen: Seine Rückkehr käme einer völligen Rechtfertigung dieses unerschrockenen, verläßlichen Stahlhelm-Vorkämpfers gleich.

Der Braunschweiger Landesverband galt zu seiner Zeit als vorbildliche Organisation, die von Seldte Ende 1925 noch kräftiges Lob erfahren hatte: „Wir alle haben …auf Braunschweig gesehen, in dem ohne die Arbeit des Stahlhelms die rote Welle niemals verebbt wäre, und wir wissen, dass ohne den Stahlhelm niemals aus dem roten Braunschweig ein schwarz-weiß-rotes Braunschweig geworden wäre.“ Danach kam es jedoch zu einer Auseinandersetzung zwischen DVP-gesinnten Stahlhelmern und Uhlenhaut, die zu einer Rebellion gegen ihn führte. Die Rebellen wollten nicht das vom Bundesvorstand angeordnete Führerprinzip anerkennen. Uhlenhaut wurde schließlich abgesetzt und nach einer langen Führungskrise durch Werner Schrader ersetzt.

Am 3. April traf sich von Henning im Braunschweiger Park-Hotel mit 24 Bezirksführern des Braunschweiger Landesverbandes. Sie beschlossen einstimmig die Wiedereinsetzung Schraders als Landesführer. Der provisorischen Führung durch Uhlenhaut, der an dieser Sitzung nicht teilnahm, stimmten jedoch nur 19 Männer zu. Uhlenhaut zog die Konsequenz und legte sein Amt sofort nieder. Generalleutnant Henning veröffentlichte daraufhin zwei Tage später zur Neuordnung des Braunschweiger Stahlhelms eine ausführliche Erklärung. Um den Konflikt nicht anzuheizen, habe man bisher auf öffentliche Erklärungen verzichtet. Da jedoch die Braunschweiger Landeszeitung den Konflikt innerhalb des Stahlhelms falsch dargestellt habe, sei dieser Schritt nun unumgänglich geworden, zumal die Braunschweiger Bevökerung ein Recht darauf habe, richtig unterrichtet zu werden.

Das Ausland warte ja nur auf eine Spaltung der nationalen Bewegung und hoffe auf einen Bürgerkrieg, den Kommunisten und Marxisten „mit Sicherheit“ anstrebten und wünsche sich, „dass in diesem Augenblick dann Stahlhelm und SA uneinig sind, um dann einen Grund zu haben, in Deutschland einzumarschieren.“ Diese absurde Analyse des Generalleutnants von der militärischen Bedrohung durch das Ausland erschien ein paar Tage nach dem ersten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April, der offiziell mit der als „Deutschenhetze“ bezeichneten Kritik vieler Länder an dem Nazi-Terror begründet worden war.

Henning betonte, der wahre Stahlhelmmann würde nie daran denken, mit Hilfe ausländischer Taktik einen inneren Umsturz zu beflügeln: „Der in seiner Gefolgschaft fest disziplinierte und geschlossen hinter seiner Führung stehende Stahlhelm steht in unbedingter Treue aus vollem Herzen hinter der von dem von uns so hochverehrten Reichspräsidenten berufenen Regierung Hitler – Seldte.“ Es sei ein absurder Gedanke, dem Stahlhelm, „dessen 1. Bundesführer in der Reichsregierung Hitler Minister ist, staats – oder landesfeindliche Bestrebungen zuzumuten. Auch die frühere Führung des Stahlhelms in Braunschweig hat selbstverständlich diesen Gedanken nicht gehabt.“ Das Vorgehen Schraders wiegelte er als eine „nicht ganz geschickte Handlung“ ab und den schnellen Rücktritt Uhlenhauts begründete er mit dessen Enttäuschung, nicht die Zusage erhalten zu haben, der endgültige Landesführer und Nachfolger Schraders werden zu können.

Nunmehr habe er aus dem Berliner Stahlhelm einen Mann angefordert, um das vom Reichskanzler und Reichsarbeitsminister gewünschte „kameradschaftliche Hand-in-Hand-Arbeiten der braunen und der grauen Regimenter zum Wohle des Vaterlandes“ zu gewährleisten. Während dieser pseudoidyllischen Innigkeit liefen sowohl im Land Braunschweig als auch im ganzen Reich die Verfolgungen gegen die Andersdenkenden weiter, die sich auch nicht hatten einigen können und die nun umso leichter zu vernichten waren. Die WZ berichtete gleich unter der Stellungnahme des grauen Generals von der Jagd auf Kommunisten, die gleichsam alle „auf der Flucht“ erschossen worden waren: In Düsseldorf habe sich der Kommunistenführer Baeßler einer Leibesvisitation wiedersetzt und sei in einem „unbewachten Augenblick“ geflüchtet. Trotz Warnrufen sei er nicht stehen geblieben und somit erschossen worden. In Bonn sei der Kommunist Renois in seiner Wohnung verhaftet worden. Als er auf dem Weg zur Wache einen Fluchtversuch unternahm, sei er auch erschossen worden. In Limbach bei Chemnitz habe das gleiche Schicksal einen weiteren Kommunisten ereilt: Eine auffällige Häufung von Fluchtversuchen festgenommener Menschen, merkt der Autor an. Eine weitere Mitteilung erhielten die Leser an diesem Tag: Die Reichspressestelle des Stahlhelms verkündete einen Befehl Seldtes:
„1. Der Landesverbandsführer von Braunschweig, Schrader, ist beurlaubt. Zur Klärung der gegen ihn erhobenen schweren Vorwürfe hat er auch selbst ein Disziplinarverfahren gegen sich beantragt. Er bestreitet die Vorwürfe durchaus.

  1. Kommissarischer Landesführer von Braunschweig bleibt General von Henning auf Schön-hoff. Er stellt seinen Stab Braunschweig selbst zusammen.
  2. Der 1. Bundesführer bestellt einen besonderen Bevollmächtigten für den Verkehr mit den Braunschweiger Behörden, der mit den Absichten der Reichsregierung durchaus vertraut ist.“
    General Henning reagierte sofort: Er ernannte den Gauführer Hildesheim, Freiherr von Ham-merstein, zu seinem Braunschweiger Stellvertreter.

Eine für die Konfliktlage recht freimütige Stellungnahme verschickte der Stahlhelmführer Notar Dr. Elsmann an die Braunschweiger Presse:
„1. Über die Anschuldigungen, welche in der Presse des 28. März 1933 gegen die mit mir verhafteten Stahlhelmkameraden, Gauführer Nowak, Seidel, Ahlers, Seegmüller, Meinecke, Stöcklein, von Campe und Dr. Spillner gemacht wurden, haben wir, als wir sie zuerst zu Gesicht bekamen, herzlich gelacht! Wir konnten uns nicht denken, daß es irgend jemand in Braunschweig gibt, der es wagt, uns ernsthaft solche schändlichen Absichten zu unterstellen.“ Im weiteren Verlauf widerspricht Elsmann den erhobenen Vorwürfen über die Zahl der vom Stahlhelm erwünschten Neuaufnahmen, dass vor der AOK „Rot-Front“ gerufen worden war und dass auf dem Dach keine bewaffneten Stahlhelmer postiert worden waren. Die Führer zweifelten nicht an der Unschuld Schraders: „Wer Schrader, diesen ehrlichen Nationalisten, kennt, weiß, dass dieser Mann mit ganzer Seele die nationalistische Revolution durchkämpfte, die nationalistische Regierung in Braunschweig und im Reich mit allen Fasern seines Herzens erstrebte und schützte und niemals daran dachte, die nationalistische Revolution zu verraten.“ Der Notar fuhr fort: „Ich zweifele nicht daran, dass alle diejenigen Anhänger einer nationalistischen Revolution, welche etwa den Führern des Stahlhelm, Landesverband Braunschweig, oder, einigen von ihnen, derart schändliche Pläne und Taten zugetraut haben, wie sie in der Braunschweiger Tagespresse teilweise veröffentlicht wurden, sich einst dieses schändlichen Verdachts schämen werden.“

In der gerade erschienenden Bundeszeitung „Der Stahlhelm“ rügte Seldte die Braunschweiger Führung, die sich gegen die klaren Befehle der Bundesleitung gestellt hätten und bezeichnete ihre Haltung als schlecht und bedenklich: „Zwar hätten sie keine konterrevolutionäre oder hochverräterische Absichten gehabt, aber sie hätten sich zuviel zugetraut, wenn sie geglaubt hätten, den marxistischen Riesenkloß ohne Beschwerden verdauen zu können.“ Und an die Nazis und Klagges gerichtet: „Mit derselben Offenheit müsse aber davon ausgegangen werden, daß das Verbot des Landesverbandes nach der ganzen Sachlage nicht als gerechtfertigt habe erscheinen können.“ Seldte betonte, „dass er mit seinem Kameraden und Minister Göring einmütig der Auffassung ist, dass durch den lokalen Zwischenfall die Zusammenarbeit zwischen Stahlhelm, SA und SS nicht berührt werden darf, vielmehr gefestigt und verbreitert werden muß.“

So wie die Zusammenarbeit zwischen Feldgrau und braun im Reichkabinett klappe, müsse sie auch in alle Führerschichten und in die gesamte Gefolgschaft umgesetzt werden. Die Aufnahme geschlossener Verbände sei jedoch grundsätzlich untersagt. Die Neuaufnahme deutscher Volksgenossen, die ehrlich und guten Willens seien, sei nicht nur erlaubt sondern sogar Pflicht. Das deutsche Schicksal habe die grauen Kolonnen des Stahlhelm und die braunen Kolonnen Adolf Hitlers in eine Kampffront für Deutschland zusammengeführt. Sie müsse gehalten werden auf dem Grundsatz gleichberechtigter und gleichwertiger kameradschaftlicher Zusammenarbeit. Darüber seien er, Seldte und Hitler sich einig. Es sei eine alte Erfahrung, dass der Weg von Ideen und Wünschen aus dem Kopf der Führung bis in die Gefolgschaft immer einige Zeit dauere. Dieses Ziel könne nur mit der Tugend des Soldaten erreicht werden: Disziplin.

Während sich im Reich und auch im Freistaat Braunschweig der Konflikt zwischen braun und grau legte, schwelte der Konflikt in Wolfenbüttel trotz Treuegelöbnisse gegenüber dem braunen Reichskanzler weiter. Seinen ersten Geburtstag als Reichsretter, über dessen Wolfenbütteler Feiern noch berichtet werden wird, beging am 20. April auch der Stahlhelm. Der Landesverband veröffentlichte in der Stahlhelm-Zeitung einen Glückwunsch:
„Kameraden! Wir feiern in diesem Jahre zum ersten Male den Geburtstag unseres Reichskanzlers Hitler. Wir feiern ihn zugleich als den Mann, der in Kameradschaft mit dem Stahlhelm den Kampf gegen die undeutschen Kräfte geführt hat. Wenn es ihm gelungen ist, dem nationalen Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen, so geloben wir, dass wir hinter ihm und der heutigen Reichsregierung stehen und nach Kräften die Riesenaufgabe des Wiederaufbaues unterstützen werden. In diesem Sinne rufen wir unserem Reichskanzler nach Stahlhelmart ein dreifaches „Frontheil!“ zu.“ Die Wolfenbütteler Ortsgruppe traf sich am Geburtstag unter großer Beteiligung von nahezu 200 Kameraden, um einen neuen Stab zu wählen. Einstimmig wählten sie Ewald Lochte zum neuen Führer. Nach weiteren organisatorischen Entscheidungen schloß sich an die Versammlung eine „Hitler-Geburtstagsfeier“ an. Amtsgerichtsrat Hans von Nordheim hielt einen „fesselnden Vortrag über den Lebenslauf des Reichskanzlers, würdigte eingehend die Verdienste desselben um die nationale Erhebung und betonte, „dass der Stahlhelm immer Seite an Seite mit Hitler gekämpft und mit ihm gesiegt habe“. Trotz der zurückliegenden „bitteren Erfahrungen“ sollte sich der Stahlhelm die „Freude am neuen Reiche und die berechtigte Verehrung des Reichskanzlers“ nicht trüben lassen. Er schloß seine Lobeshymne mit einem dreifachen „Frontheil!“ auf das Geburtstagskind und die Reichsregierung.“

Doch die Braunschweiger Nazis trauten dieser von überschwenglichen Ergebenheitsadressen erneuerten Kameraderie nicht. Im Gegensatz zum Reichsinnenminister war für sie das Verhalten des Stahlhelm immer noch eine als Putschversuch bezeichnete Vorbereitung zum Hochverrat gewesen. Angeblich soll Klagges jedoch, „um den Aufbau einer Volksgemeinschaft nicht zu hindern“, von vornherein die Absicht gehabt haben, es nicht zu einem Strafverfahren kommen zu lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte zwar beim Sondergericht gegen Schrader und elf weitere Stahlhelmer Anklage erhoben, das Verfahren wurde jedoch durch ein Amnestiegesetz vom 12. Juni 1933, von Alpers erlassen, eingestellt. Das Gesetz bestimmte u.a.: „Zu dem Zwecke, die Herstellung der Volksgemeinschaft weiter zu fördern, wird Straffreiheit gewährt hinsichtlich solcher Straftaten, die anläßlich der Vorgänge in der Ortskrankenkasse Braunschweig vom 27.3.1933 begangen sind.“ Das Gesetz amnestierte auch weitere politische Straftaten, allerdings im wesentlichen nur durch Nationalsozialisten begangene Verbrechen.

Am 13. Juni kündigte die WZ eine Großveranstaltung des Stahlhelm für den 25. Juni an. Das Programm sah die Inspektion der Wehrsportabteilung des Stahlhelm in Braunschweig durch den Generalinspekteur des Bundes, von Löbbecke, vor und einen anschließenden Appell aller Braunschweiger Wehrsportformationen gemeinsam mit einigen Abteilungen benachbarter Verbände auf dem Kleinen Exerzierplatz der Landeshauptstadt. Hier sollte Bundesführer und Reichsarbeitsminister Seldte eine Ansprache halten und den Vorbeimarsch der grauen Männer abnehmen. Diesen Aufmarsch der nicht nur konkurrierenden, sondern auch größtenteils rivalisierenden, paramilitärischen Verbände nur einige Wochen nach dem „Putschversuch“, konnte die Braunschweiger Naziführung, wollte sie nicht für schwach gehalten werden, nicht zulassen. So produzierte sie der Öffentlichkeit einen Brief des Stahlhelm-Landesverbandes vom 27.4.33 an seine Bezirks- und Ortsgruppen und konstruierte mit neuen Vorwürfen einen Vorwand, um gegen die Stärke-Demonstration vorzugehen. Der Text konnte aus der Sicht der Nazis, die den Stahlhelm keinesfalls weiterbestehen lassen wollten, mit Leichtigkeit unmißverständlich ausgelegt werden: „Über die Art der Einordnung des Stahlhelms in den neuen Staat schweben gegenwärtig Verhandlungen in Berlin, deren Ergebnis abgewartet werden muß. Dieses Abwarten darf aber nicht im Nichtstun bestehen. Abwarten heißt hier, die Kameraden und die ganze Organisation so in Zucht zu bringen, dass der Augenblick, in dem die Entscheidungen fallen, eine intakte und sofort leistungsfähige Gefolgschaft vorzufinden ist.“ Die folgenden Sätze lassen zwei Vermutungen zu: Die Braunschweiger Stahlhelmführung hatte den den totalen Machtanspruch ihrer braunen Bündnispartner noch nicht erkannt und glaubte immer noch, mit ihren grauen Frontidealen die Zukunft des Dritten Reiches beeinflussen zu können. Oder: Sie schätzten die Lage richtig ein und hegten die Hoffnung, mit ihrem Veteranenheer die Nazis noch zum Einlenken bewegen zu können: „Mit dem Wegfall des Aufnahmeverbotes binnen kurzem ist zu rechnen. Aufnahmegesuche dürfen selbstverständlich auch jetzt entgegen genommen werden. Die Zeit bis zur Aufhebung des Aufnahmeverbotes ist zur sorgfältigen Prüfung und Sichtung des überall in großer Zahl vorliegenden Materials auszunutzen.“

Rechtzeitig schlugen die Nazis wieder zu: Anfang Juni beschlagnahmten sie Mitgliederlisten und behaupteten, dass trotz Verbots neue Mitglieder aufgenommen worden waren. Die Staatsregierung verbot die Ortsgruppen Helmstedt, Königslutter, Schöningen und Wolfenbüttel und begründete diese erneute Eindämmung mit der Aussage, dort seien im Stahlhelm und Nebenorganisationen offen und in verschleierter Form Männer aufgenommen worden, die „früher rein marxistisch, zum Teil sogar kommunistisch eingestellt waren“. In Wolfenbüttel seien 29 Personen, u.a. getarnt als „Gäste“, aufgenommen worden. Gleichzeitig verbot sie die für den 25. geplante Stahlhelmkundgebung und lud damit auch Seldte aus, der Werner Schrader auch noch gebeten hatte, den Landesverband Braunschweig wieder zu übernehmen. Um mögliche Gegenmaßnahmen der Stahlhelmer von vornherein auszuschließen, verwehrte sie bis auf weiteres am 22. Juni alle öffentlichen Kundgebungen des Stahlhelm und seiner Nebenorganisationen im Lande Braunschweig und schob eine Begründung vor, die bisher immer nur gegen linke Organisationen angewendet worden war und die staatstreuen Stahlhelmer noch mehr in Rage versetzen mußte: „..wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.“

Die WZ informierte ihre Leser auf der ersten Seite über diesen „Neuen Stahlhelmkonflikt“ und veröffentlichte – war es ein Zufall? – direkt daneben den Wortlaut eine Rede Hitlers, die er auf dem „mitteldeutschen SA- und SS-Treffen“ gehalten hatte. Die Rede strotzte vor Selbstlob und hob die angeblich einmaligen Leistungen der NSDAP hervor: „Wir haben Hunderte und Tausende herausgeholt aus allen Lebensschichten, alle die, die sich früher nur mit Haß begegneten und haben ihnen ein Kleid gegeben, sie einer Farbe unterworfen, einer Disziplin unterstellt und in eine gewaltige Organisation gefügt. Und wir haben begonnen, sie zueinander zu gewöhnen, so wie man sie vorher auseinandergewöhnt hatte. Und wir wissen genau, das ist noch lange nicht vollendet. Allein sie sollen nicht zweifeln, unsere Gegner, was wir begonnen haben, wir wollen es vollenden.“ Hitler betonte, die Jugend solle zu dem erzogen werden, „was wir später an ihr sehen wollen“. Den Menschen aber, die sich nicht umstellen wollten, drohte er offen, ihnen ihre Kinder wegzunehmen und sie „zu dem zu erziehen, was für das deutsche Volk notwendig ist“. Solange er lebe, werde ihn nur ein Gedanke beseelen: „Aus Arbeitern, aus Bürgern, aus Proletarieren, aus Republikanern und Monarchisten, aus Katholiken und Protestanten, aus Angestellten und Beamten, Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein deutsches Volk zu einer unzerreißbaren Einheit zusammenzufügen.“ Danach würden alle Nazis in Ruhe die Augen schließen können in dem Bewußtsein: „..wir haben das Unsere getan, und wir haben selbst gekämpft und die neue deutsche Jugend erzeugt und wir können damit von uns mit Recht sagen, wir verdienen nunmehr keine Anklage mehr in der deutschen Geschichte, sondern verdienen, daß man uns einst auf unsere Grabsteine schreibt: Sie sind oft rauh gewesen, sie sind hart gewesen, sie waren rücksichtslos, aber sie sind gewesen: Gute Deutsche.“

Seine sich auch in Wolfenbüttel allein als gute Deutsche fühlenden SA- und SS-Männer machten sich bestimmt auch mit diesen Worten im Hinterkopf und in ihren Fäusten auf den Weg, erneut den Stahlhelm in die Schranken zu weisen. Die SS besetzte das Stahlhelmheim an der Wallstraße, das später die Hitlerjugend übernahm, beschlagnahmte Akten und hißte dort die Hakenkreuzfahne.

Am 20. Juni nahmen einige SA-Männer den gerade vom Kommando zurückgetretenen Delius fest, den sie gegen 21 Uhr auf der Straße trafen. In der Kreisleitung führten sie ihm dem Kreisleiter Herbert Lehmann vor, der ihn mit Faustschlägen traktierte. Delius bestritt alle Vorwürfe der verbotenen Mitgliederaufnahme, erhielt auch noch von SA-Männern Prügel und durfte nachts um halbvier wieder nach Hause gehen. Während der Vernehmung wurde er Zeuge eines Telefongesprächs, das Lehmann führte. Anschließend befahl der zur Zeit mächtigste Nazi im Ort, im Auftrag des Innenministers, den Amtsgerichtsrat von Nordheim „tot oder lebendig“ herbeizuschaffen.

Die Empörung der Nazis drückte Staatsrat Bertram in einer Ortsgruppenversammlung im Braunschweiger Vorort Gliesmarode aus: „Er erinnerte daran, dass Schrader und die anderen Führer sich eigentlich vor dem Sondergericht hätten verantworten müssen und dass eine empfindliche Strafe ihnen sicher gewesen sei. Der Amnestieerlaß des Ministerpräsidenten Klagges habe die Führung vor diesen Strafen bewahrt, aber nun müsse man feststellen, dass man in maßgebenden Stahlhelmkreisen den Sinn dieser Amnestie nicht habe verstehen wollen. Es sei ganz unhaltbar, dass dieser Herr Schrader mit einem, wenn auch nur ganz kleinen Posten im Landesverband betraut werde. Diese Zusage sei nicht gehalten worden und Schrader sei ohne Wissen des Ministers ernannt worden. Dagegen müsse die NSDAP aufs schärfste protestieren, denn es werde damit ein Unfriede im Lande erzeugt, für die dem Stahlhelm allein die Verantwortung zufalle.

Und die bürdeten sie in Wolfenbüttel einem Mann auf, der zwar gerade noch den Geburtstagskind-Führer in höchsten Tönen gelobt hatte, dennoch aber als verfassungstreuer Beamter an konservativen Rechtsgrundsätzen festhalten wollte. War der terroristische Krug der Schutzhaft kürzlich noch an Hans von Nordheim vorbeigegangen, so holte ihn nun die rachegesinnte Nazi-Meute ein: Als der Richter spät abends mit der Straßenbahn aus Braunschweig zurückkam, fand er sein Haus umstellt von mit Karabinern und Pistolen bewaffneten SS-Männern vor. Drinnen erklärte ihm der SS-Führer Wöckner, er sei verhaftet. Der Truppführer telefonierte, wahrscheinlich rief er Lehmann an, und bestätigte seinen Auftrag: Wir bringen den Amtsgerichtsrat, tot oder lebendig. Zu Fuß begleitete der Trupp den Richter durch die Stadt und hielt kurz vor dem Cafe Lambrecht in der Langen Herzogstraße an. Wöckner ging hinein und sprach mit Lehmann, der sich dort aufhielt. Seinen Befehl, den er dem Amtsrichter eröffnete, lautete: Einsperren in der Kreisleitung in der Mühlenstraße und Warten auf die Vernehmung durch Lehmann. Wöckner schloß den Gefangenen in ein Zimmer im ersten Stock ein, dessen Fenster auf die Oker hinausgehen, einem der idyllischsten Orte Wolfenbüttels, bekannt als Klein Venedig.

Von Nordheim beschrieb seine Verhaftung später anläßlich einer Vernehmung im Prozeß gegen Wolfenbütteler Nazi-Folterknechte: „Nach einiger Zeit wurde mir der Stuhl weggenommen und das Licht ausgeschaltet, ich glaube auch, die Birne herausgenommen. Ein paar Mal kam Wöckner herein und äußerte irgendwelche Beschimpfungen. Ich habe dann ungefähr eine Stunde im Dunkeln gesessen. Wöckner brüllte mich an: Es wäre das einzig richtige, mich gleich am Fenster über der Oker aufzuhängen, weil eine anständige Kugel zu schade für mich wäre. Dann wurde die Tür wieder aufgeschlossen und ich zum Verhör gerufen. Ich mußte zuerst durch ein hell beleuchtetes Zimmer, dann eine dunkle Treppe hinuntergehen. Auf diesem Wege bekam ich von der Seite und von hinten Fußtritte und Faustschläge auf den Kopf und in den Nacken. Zuletzt wurde ich mit einem heftigen Tritt in ein sehr hell beleuchtetes Zimmer hineingestoßen, in dem der Kreisleiter Lehmann hinter einem großen Tisch saß. Ich glaube mich zu erinnern, dass Lehmann mich mit einer höhnischen Bemerkung empfing, so in dem Sinne: „Da haben wir ja den vornehmen Herrn endlich.“ Ich sagte ihm, ich wäre soeben von seinen Leuten getreten und geschlagen worden und protestierte gegen dieses unerhörte Benehmen. Darauf brüllte er mich an, ich solle gefälligst meine Knochen zusammen nehmen, ich sei ein adliges Schwein und er bedaure nur, dass er mich nicht in Helmstedt habe, wo er mich erst einmal richtig fertig machen lassen würde.“

Nach der Vernehmung, die auch noch von allerdings geringen Gewalttätigkeiten begleitet war, lieferten Lehmanns Schergen von Nordheim im Wolfenbütteler Gefängnis ab, dem Ort, in den er während der vergangene Jahre selber verurteilte Kommunisten hatte einsperren lassen. Am folgenden Morgen ließ Lehmann den Richter wieder vorführen. Als sich er sich die fortwährenden Beleidigungen verbat, brüllte ihn Lehmann an: „Sie wollen hier frech werden! Du Schwein! Ein Schwein sind Sie!“ Von Nordheim erhielt erneut Prügel. Zwei SS-Männer führten ihn dann zu Fuß durch die Innenstadt ins Gefängnis zurück. Er stellte sofort Strafantrag gegen Lehmann und Wöckner.

Die Verhaftung des Richters als Stahlhelmer muß als vordergründige Maßnahme angesehen werden. Sie ist eher als eine Maßnahme der Braunschweiger Nazi-Leitung gegen Angehörige der Landesjustiz zu werten, die ebenfalls gleichgeschaltet werden sollte. Von Nordheim gelang es aus dem Gefängnis heraus, in dem er nach eigenen Angaben korrekt behandelt worden war, eine Beschwerde an den Oberstaatsanwalt zu richten.
Oberlandesgerichtspräsident Heusinger, der von dem Schicksal seines Richters erfahren hatte, protestierte sofort beim beim Justizminister, der seit Mitte Mai bereits Friedrich Alpers hieß, und forderte ultimativ die Freilassung des Amtsrichters bis zum 23.6. um 12 Uhr. Würde seine Entlassung nicht erfolgen, sehe er sich genötigt, persönlich die Inhaftierung zu beenden; gegen 16 Uhr erfolgte seine Freilassung. Er durfte zunächst sein Wolfenbütteler Amt behalten, erhielt einige Jahre später jedoch eine neue Aufgabe: Am 29. Januar 1937 informierte die WZ ihre Leser, der langjährige Richter sei vom Reichsminister der Justiz „zum 1. Februar an das Amtsgericht Berlin versetzt“.

Werner Schrader schätzte die Situation offenbar realistisch ein und verzichtete darauf, in sein altes Amt zurückzukehren Über sein weiteres Schicksal der folgenden Jahre liegen nur oberflächliche Informationen vor. Nach Roloff begann er nun den „offenen Kampf gegen Hitlers Terrorstaat“ und die Historikerin Christina Wötzel berichtet, die Nazis, besonders Klagges, hätten versucht, sein Wolfenbütteler Dasein in mehrfacher, vor allem familiärer Hinsicht, zu erschweren. In der unkritisch, dafür lobhudelnden, Festschrift seiner ehemaligen Schule weitere Einzelheiten: Im Bewußtsein der Lebensgefahr sei er „bei Nacht und Nebel“ aus Wolfenbüttel geflüchtet und habe bis 1935 bei Reichsarbeitsminister Seldte gearbeitet. Erst zu Weihnachten 1933 habe er sich wieder nach Wolfenbüttel gewagt: „Aufs tiefste ergriffen wohnte er dem Gottesdienst in der Marienkirche bei, dem er so manches Jahr als Helfer im Kindergottesdienst gedient hatte. Beim Hinausgehen aus der Kirche drückten ihm viele Menschen die Hand.“
1935 sei er für ein Jahr wieder in den Schuldienst Wolfenbüttels zurückgekehrt, diesmal an die Anna-Vorwerk-Schule: „Ruhe fand er nicht, denn die Gestapo-Leitstelle in Braunschweig verfolgte ihn weiter. Um sich zu schützen, nahm er Verbindung zu Admiral Canaris auf. Das Schicksal wollte es dann, dass ein Haftbefehl nicht mehr zur Vollstreckung kam, da am gleichen Tage Canaris die Übernahme Werner Schraders als Hauptmann in die Abwehr verfügte.“

Die folgenden Hinweise zum weiteren Werdegangs Schrader entstammen einem Text der „Ausstellung Deutscher Widerstand“ in der Berliner Bendlerstraße. Weitere Lebenszeichen des sich zum klaren Widerständler mausernden Oberlehrers findet der interessierte Leser in Heinz Höhnes Canaris-Biografie (Patriot im Zwielicht).
„Durch seine Reaktivierung für die Wehrmacht bei einer Abwehrstelle in Minden 1936 kommt Schrader in Kontakt mit Rudolf Graf von Morogna-Redwitz und weiteren Verschwörern in der Abwehr. Nach dem Überfall auf Polen wird er in das Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres versetzt. Hier legt er ein geheimes Archiv mit Meldungen und Fotografien zu Grueletaten der SS im besetzten Polen an.“ Neben Freiherr von Freitagh-Loringhoven, dem Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi und dessen Schwager Dietrich Bonhoeffer habe Schrader zum engsten Mitarbeiterkreis um Oster gehört und sei später dessen Verbindungsmann zum Oberkommando der Wehrmacht geworden: „Zahlreiche Sonderaufgaben der Abwehr, mit denen Schrader betraut wurde, z.B. die Untersuchung der Massengräber von Katyn, in denen die polnische Offizierselite verschwunden war, und die Aufstellung der russischen Verbände des Generals von Wlassow, brachten es mit sich, dass er an höchsten Stellen Vortrag halten mußte – im Falle Katyn bei Hitler selbst – und häufig dienstlichen Kontakt zu Keitel, Jodl und Brauchitsch unterhielt.
Schrader beteiligte sich aktiv an der Planung und Durchführung des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Im November erhielt er als Zuständiger ein Paket mit erbeutetem britischen Sprengstoff und verwahrte es auf. Ende Juni 1944 erhielt Stauffenberg das Paket, das zur Bombe konstruiert den Diktator umbringen sollte. Es ist bekannt, dass das Attentat mißlang. Im Laufe der Ermittlungen gegen die Widerständler näherten sich die Ermittler auch Schrader. Bevor sie ihn verhaften konnten, nahm er sich am 28. Juli 1944 im Alter von 59 Jahren in Zossen das Leben.“

Unter der Überschrift „Das Heer stößt die Verräter aus“ veröffentlichte der Völkische Beobachter am 5. August eine Verfügung Hitlers zur Bildung eines „Ehrenhofes von Feldmarschällen und Generalen“, der die Abtrünnigen benennen sollte. Dem Ehrenhof gehörte der ehemalige Wolfenbütteler und nun Feldmarschall Wilhelm Keitel an. Er und die anderen prominenten Soldaten benannten eine Liste der Männer, die das Nazi-Organ bekannt gab: „Die Verräter, die sich durch Selbstmord selbst schuldig bekannt haben: Generaloberst a.d. Beck, General der Artillerie Wagner, Oberst i.G. von Freytag-Loringhoven, Oberstleutnant Schrader.“

Das Resumee seines Lebens, in dem die kritischen Seiten seines Lebens leider unbeachtet blieben, formulierte ein namentlich nicht genannter Wolfenbütteler Autor in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Theodor-Heuß-Gymnasiums im Stil einer unberechtigten Verheldung: „Ehrlicher Charakter, aufrechte Haltung, christliche Gesinnung zeichneten Werner Schrader aus. Stets bemühte er sich, Menschen zu helfen, die in Not waren. Er besaß die Kraft und den Mut, gegen das Böse anzukämpfen, durch das der Name des Vaterlandes beschmutzt und humane Gesinnung mit Füßen getreten worden war. Für diesen Kampf ging Werner Schrader in den Tod.“

Die jüngeren Jahrgänge des Stahlhelm-Bundes wurden seit 1933 in die SA eingegliedert, die restlichen dagegen unter der Bezeichnung „Nationalsozialistischer Deutscher Frontkämpferbund“ bis 1935 weitergeführt.

Am 6. Juli 1933 veröffentlichte die WZ den Wortlaut einer Rede des Stahlhelmführers Seldte, der trotz der Eliminierung seiner Organisation weiterhin treu zu Hitler stand. Im Rundfunk sprach er über die Eingliederung des Stahlhelms in die nationale Bewegung und dankte besonders „dem Kanzler Adolf Hitler, dem Führer, für seine Großzügigkeit, mit der er uns die Hand reichte. Der Bund der Bünde ist geschlossen, der ewige Bund, wie es der Volkskanzler will.“ Er sei glücklich, dass es nicht zum Bruderkampf unter den soldatischen Männern Deutschlands gekommen sei und freue sich mit „ehrlichem Herzen, der ehrlichsten Anerkennung dem Reichskanzler Adolf Hitler die Palme des Sieges reichen zu können“. Dank seiner Großzügigkeit stehe der Stahlhelm nun in seiner Bewegung: „Der Führer ist gekommen. Er heißt Adolf Hitler. Adolf Hitler hat mit seiner Bewegung, mit seinen treuen Kämpfern, mit seinen Idealen den Sieg errungen. Und heute sehen wir, da wir gleichen Ideen im Stahlhelm nachgestrebt haben. Heute wissen wir, dass es immer die Idee des Nationalsozialismus – wir Stahlhelmer haben es oft Frontsozialismus genannt – gewesen ist, der wir uns auf Gedeih und Verderb verpflichtet hatten.“ Und um dieses auch immer wieder ausdrücken zu können, erhob er das von den „marxistischen Regierungen“ verbotene alte Kampflied erneut zum Bundeslied. Die WZ, immer bemüht, ihre Leser gut zu informieren, veröffentlichte den Text, der von Begriffen wie „Schindluderei, Verrat und Volk und Vaterland“ strotzte. Dem Leser soll hier nur die letzte Strophe zugemutet werden: „Reicht Euch zum Schwur die Hände als deutsche Brüder gleich, –
„Frontheil“ bis an das Ende,
„Sieg heil“ dem neuen Reich.
Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band,
Bund der Frontsoldaten werden wir genannt.“

Den Wolfenbütteler Reststahlhelm führte bis zum 31.10.1935 der Frontkämpfer Lochte. Es fanden auch noch verschiedene Mitgliederversammlungen statt, in denen z.B. im September 1934 auch Frauen erschienen. Diese Tatsache kann genutzt werden, um noch auf eine andere nationale Organisation hinzuweisen, die auch in Wolfenbüttel eine Gruppe hatte, hier aber nur am Rande in Erscheinung trat. Es handelt sich um den Königin-Luise-Bund, benannt nach der volkstümlichen Preußenkönigin, der Dichter wie Kleist, Brentano und Arnim huldvolle Lyriken widmeten; die Nazis benannten nach ihr zwei Kriegsschiffe. Diese im linken Volksmund als „Lieschen-Bund“ verspottete Frauenorganisation wirkte unter dem Motto „ich dien“ und verstand sich als „Schwester-Organisation des Stahlhelm“ und vertrat die gleichen Ziele: Der Bund kämpfte seit Mitte der zwanziger Jahre für die Einigung und Freiheit des Volkes mit „bewußter Selbstzucht und Gehorsam“: „Unser Kampfplatz ist die Familie, unsere Waffen sind Zähigkeit, Geduld, Ausdauer, Liebe, gemäß den Gaben, die Gott uns verliehen hat, in denen unsere Stärke liegt. Wir sind bereit zu opfern „vom Finger unsere Ringe, vom Busen unsere Knaben“, denn was wir sind und was wir haben, danken wir dem Vaterland.“
Als Mitglieder durften schon ab 1924 nur „christliche deutsche Frauen und Mädchen vom 17. Lebensjahre“ an werden.

Auch die Frauen der Grauen stellten sich hinter Adolf Hitler, als sie im Mai 1933 in Potsdam in Anwesenheit ihrer Schirmherrin, Kronprinzessin Cecilie, und „25.000 Bundeskameradinnen aus allen deutschen Landen“ den 10. Jahrestag ihrer Gründung begingen. So wie Cecilie es als Pflicht hervorhob, Adolf Hitler zu danken, bekannte sich auch die Bundesführerin, Freifrau von Hadeln, zum Führer und stellte sich unter seinen Schutz.

In Wolfenbüttel standen die letzten grauen Veteranen auch weiterhin unter Beobachtung der Wolfenbütteler Außenstelle der Gestapo, hier besonders des einstigen Klempners und SS-Führers Josef Keppels. Der verbot den Stahlhelmern anläßlich des NSDAP-Kreistages 1935 gemeinsam mit den Nazi-Formationen durch die Stadt zu marschieren. Als er Lochte nachts mit drei uniformierten Kameraden im Wiener Kaffee antraf, befahl er ihnen, da sie nach 24 Uhr nicht mehr in Uniform auftreten durften, das Lokal zu verlassen. Lochte, in Zivil, ging mit Keppels nach draußen, um ihn umzustimmen. Hier kam es dann zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Lochte von Keppels Prügel bezog. Lochte: „Ich erhielt einen derben Schlag in die Schläfengegend, sodaß ich zu Boden fiel. Ich wußte in diesem Augenblick nicht, wo ich war und erhielt wiederum einige Schläge ins Gesicht. Ich fiel zu Boden.“ Die ihm zu Hilfe eilenden Kameraden fanden ihn auf dem Kornmarkt blutend auf der Erde liegen. Keppels behauptete, von Lochte angegriffen worden zu sein und drohte weiter: „Der hat noch gar nicht genug gekriegt. Ich werde euch den Schraderschen Geist schon austreiben.“

Mit kritischer Empfehlung:
Roloff, Ernst-August, “Aufstand des Gewissens“ oder Rebellion der Enttäuschten?, Motive des national-konservativen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus am Beispiel des Wolfenbüttelers Oberlehrers Werner Schrader, in: Wissenschaftliche Zeitschrift des Braunschweigischen Landesmusuems, 4/1997, Seite 121 – 152

Quellen:
100 Jahre Theodor-Heuss-Gymnasium, Festschrift aus dem Juni 1984
Wötzel, Christina, Die Geschichte der Stadt Wolfenbüttel 1914 bis 1933, Stadt Wolfenbüttel 1995
Fürst, Reinmar und Kelsch, Wolfgang, Bürger einer fürstlichen Residenz, Wolfenbüttel 1983
Niedersachsenbuch ’96 Wolfenbüttel, Hrsg. Niedersächsisches Innenministerium
Wolfenbütteler Zeitung (WZ)
Schwurgericht Braunschweig, Begründung des Urteils gegen Dietrich Klagges, April 1950
Braunschweigische Tageszeitung (BTZ)
Berghahn, Volker R., Das Ende des Stahlhelm, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 1965
Duesterberg, Theodor, Der Stahlhelm und Hitler, Wolfenbüttel 1949
Zentner/Bedürftig, Das große Lexikon des Dritten Reiches, München 1985
Roloff, Ernst-August, Braunschweig und der Staat von Weimar, Braunschweig 1964
Stahlhelm-Zeitung „Die junge Nation“ vom 20. April 1933
Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel
Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Justiz im Wandel der Zeit, Braunschweig 1989
Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, 1995
Höhne, Heinz, Canaris – Patriot im Zwielicht, München 1976
Aufstand des Gewissens, Katalog zur Wanderausstellung „Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime“, Herford 1994
Volkslexikon Drittes Reich, Tübingen 1994
Der Stahlhelm vom 13. März 1924