Machtübergabe


Hitlers kompromißlose “Machtübernahme“

Auf der Suche nach einem auffälligen Kampfzeichen für seine Partei hatte sich Hitler für das Hakenkreuz entschieden, das unter der Bezeichnung Swastika als eines der ältesten Symbole der Kulturgeschichte gilt und in der ganzen Welt zu finden ist. Die Lokalzeitung, die sich nicht nur als Berichterstatterin politischer und gesellschaftlicher Ereignisse verstand, informierte ihre Leser immer wieder auch über deren Hintergründe, so auch über den Ursprung des Hakenkreuzes. „Woher stammt das Hakenkreuz?“ fragte sie und lieferte ausführliche Hinweise: „Nach neuesten wissenschaftlichen Forschungen der Archäologie hat das Hakenkreuz, das Zeichen der aufgehenden Sonne, seinen Ursprung im unteren Donaugebiet, in Siebenbürgen, im Randgebiet der Nord- und Südindogermanen, 3000 Jahre v. Chr. Geburt. Nach Dr. Joerg Lechler, dem diese Forschungsergebnisse zu verdanken sind, tritt es dann in Troja auf. Etwas später lassen sich ein östlicher und westlicher Verbreitungsstrom verfolgen. Der eine führt über China, Tibet, Japan nach Amerika, der andere in westlicher und nördlicher Richtung bis Island. Erstaunlich ist die Verbundenheit und Verflechtung aller Sonnensymbole wie der Sonnenräder, Hakenkreuze, Labyrinthe und Trojaburgen. Man sah Sonnensymbole bei den Römern, Griechen Indern und vorkolumbianischen Indianern. Im Osten, in Indien sowohl wie in Japan, gilt das Hakenkreuz als Glückszeichen.“ Diese mehrere Tausend Jahre alte Bedeutung verlor das Swastika, als ein verkrachter Grafiker oder Maler und als von der Vorsehung bestimmter Veteran des Ersten Weltkrieges das oft nur als germanisches Symbol betrachtete Hakenkreuz auswählte, um es seiner Bewegung voranzutragen, die mindestens 1000 Jahre in Deutschland herrschen wollte. Schon lange bevor die Nazis das Hitlersche Hakenkreuz in die Lessingstadt brachten, existierte es hier bereits: Laut einer Liste der Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Wolfenbüttel befindet sich in der Hauptkirche ein Hakenkreuz als Steinmetzzeichen, teilte die WZ der Öffentlichkeit im Dezember 1933 als Antwort auf eine Rätselfrage mit. Das Hakenkreuz sei nur eins von vielen Steinmetzzeichen, abgebildet in einer Tafel, veröffentlicht in „Kunstdenkmale der Stadt Wolfenbüttel“.

Ein ehemaliger Wolfenbütteler Oberschüler und Lehrer (und späterer erfolgloser Kandidat für das Amts des Stadtheimatpflegers), 1995 als heftig kritisierter Herausgeber des Prophyläen-Geschichtsbandes Deutschland 1933-1945 bekannt geworden, Karlheinz Weißmann heißt er, veröffentlichte 1989 im rechtsrechten MUT-Verlag ein Werk über die „Zeichen des Reiches“ und teilte mit, dass nicht Hitler der Erschaffer der Hakenkreuzfahne war, sondern der völkische Schwärmer Jörg Lanz, der sie bereits 1907 in Wien gehißt haben soll. (In der ZEIT (Nr. 12, 13.3.08, Seite 80) berichtete Joachim Riedel über die Ursprünge der NSDAP in Österreich.) Als ich im Sommer 1990 durch Yorkshire wanderte, stieß ich oberhalb des kleinen Städtchens Ilkley auf den „Swastika-Stone“, der sogar in einigen Landkarten als archäologische Sehenswürdigkeit verzeichnet ist.

Das Aussehen der NSDAP-Flagge beschäftigte Hitler und seine wenigen Kumpanen damals sehr, vermerkte er in “Mein Kampf“. Die neue Fahne „mußte ebenso sehr ein Symbol unseres eigenen Kampfes sein, wie sie andererseits auch von großer plakatmäßiger Wirkung sein sollte.“ Die rote Grundfarbe wählte er, weil er damit die Linke reizen und zur Empörung bringen wollte: „Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken der Bewegung, im Weiß den nationalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.“

Diesem Gedanken kam auch Adolph Meuer1933 in der Literaturbeilage der WZ nahe, als er auf die Bedeutung des Hakenkreuzes als Sonnensymbol hinwies und es als altgermanisches Sonnenrad wiederfand: „Das Kreuz im Kreise, das Sonnenrad, ist das Sinnbild des Lichts und der Sonne. Man darf hier nicht vergessen, dass die Sonne und das Licht bei den nordischen Völkern von viel größerer Bedeutung gewesen ist als bei den jüdischen.“ Die Sonne sei das heilige Licht und der anbetungswürdige Lebensspender, und darum sei das Hakenkreuz „das Symbol der lebenspendenden Kraft.“

Doch zurück von der kurzen Theorie zur Praxis:
Am 28. Februar tagte der Wolfenbütteler Rat, den jetzt noch Bürgermeister Eyferth und die Stadträte Hämerling und Knochenhauer von der NSDAP und der Sozialdemokrat Garbe bildeten. In der Sitzung stellte Hämerling den Antrag, bis zum Abend der Reichstagswahl sämtliche Gebäude mit der alten Reichsflagge, den Landesfarben und der Hakenkreuzfahne zu beflaggen. Nach einer heftigen Auseinandersetzung erbrachte die Abstimmung ein Patt, weil Eyferth und Garbe den Antrag ablehnten. Diese Niederlage um das von Hitler selber gestaltete Symbol, von einem aus der Sicht der Nazis bürgerlichen Reaktionärs und einem Sozialdemokraten kurz vor dem ersten Endsieg bereitet, vergaßen die Nazis nicht und ließ sie ihre Rache vorbereiten.

Ein paar Tage vor der Reichstagswahl am 5. März, für die ein Wahlkampf im traditionellen Sinn nicht mehr stattfand, versuchte Heinrich Wessel, Besitzer der WZ und bürgerlicher Landtagsabgeordneter der DVP, in seiner Lokalzeitung den Nazis einige Stimmen abzujagen. Versteckt in einem ausführlichen Kommentar auf der Titelseite ließ er den DVP-Reichstagsabgeordneten Albrecht Morath Wahlkampf für die gemäßigten Bürgerlichen machen. Der Abgeordnete pries das deutsche Beamtentum, das nicht einmal durch die Revolution von 1918 hatte erobert werden können und betonte die Reichsverfassung: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ Doch mit den Nazis an der Macht sah er eine Gefahr für das Jahrhunderte alte Berufsbeamtentum, da der Faschismus sich mit dem Staat gleichsetze: „Das italienische Volk hat sein Wahlrecht nicht eingebüßt; aber es kann sich bei einer Wahl nur entscheiden, ob es die faschistische Liste wählen oder abwählen will. Wer ein Feind des Faschismus ist, ist auch ein Staatsfeind. Und – Staatsfeinde können selbstverständlich nicht Beamte sein.“ „Um dieses Beamtenrecht zu kämpfen“, schloß der Abgeordnete seine Nazi-kritische Betrachtung, „sondern um die ganze Nation vor einer Änderung des Beamtenrechts zu schützen, die für Deutschland ein Unglück wäre, auch darum kämpft die Deutsche Volkspartei.“

„Ab heute Fahnen heraus!“ befahl die BTZ ihren Lesern und kündigte in Wolfenbüttel eine Wahlveranstaltung der NSDAP an, auf der auch Prinz August Wilhelm, vierter von sechs Söhnen Kaiser Wilhelms II sprechen sollte. Auf der Veranstaltung in Antoinettenruh erzählte zunächst der Arbeiter August Sonderhoff, wie aus ihm, einem früheren linken Gewerkschafter, ein Nationalsozialist geworden sei: Krassester Egoismus der Gewerkschaftsbonzen habe ihn schließlich veranlaßt, der Gewerkschaft den Rücken zu kehren. Leicht sei es auch ihm nicht geworden, sich der NSDAP anzuschließen. Aber nachdem er den Geist in dieser Bewegung kennen gelernt habe, sei er eingetreten und begeisterter Mitarbeiter in der NSDAP geworden. An die sicher nicht anwesenden linken Arbeiter richtete er versöhnliche Worte nationalsozialistisch geprägt: „Gern werden wir dem ehrlichen Arbeiter die Bruderhand drücken, zeigen sie aber die Faust, werden sie erkennen müssen, dass der Nationalsozialist der stärkere sei.“

Kreisleiter Bertram kündigte an, dass ab Sonntag der Marxismus in Deutschland nichts mehr zu melden habe. Kommunistische Arbeiter in den städtischen Betrieben sollten sofort entlassen werden. Die Sozialdemokratie sitze bereits auf der Anklagebank und das Volk werde sie richten. Der 5. März sei ohnehin nur ein Nachhutgefecht: Denn die Entscheidung sei bereits gefallen. Wie die Wahl auch ausfalle, die Regierung werde bleiben. Folgerichtig kündigte die Nazi-Zeitung einige Tage vor der Wahl die große Siegesfeier am Sonntagabend an, die in Leistes Festsälen stattfinden sollte.

Nach der Rede des Kreisleiters traf der Prinz im Saal ein. Ihm streckten sich tausend Hände zum Gruß entgegen, begeisterte Heilrufe ebbten erst ab, als er mit seiner Rede begann. Um die Zuhörer einzustimmen, bezeichnete er die Marxisten erst einmal als „Untermenschen“, um dann die Bedeutung der Wahl zu erläutern: “Und für alle gilt am Sonntag die Entscheidung, ob die Brandfackel, die in Berlin angezündet worden ist, in das ganze Land geschleudert und auch die letzte Hütte und Wohnung ergreifen soll, oder ob wir bereit sind, gegen diese Pest zu kämpfen mit dem Wunsche auf den Lippen: Herr mach uns frei.“ Der „Auwi“, wie der Prinz mit Spitznamen bezeichnet wurde, lobte emphatisch „seinen Führer“ und konnte der Wolfenbütteler Nazischaft auf dem Hintergrund seiner Abstammung leicht vermitteln, dass Hitler trotz seiner kurzen Reichskanzlerschaft bereits mit Friedrich dem Großen gleichzustellen sei: „Wir wollen Gott danken, dass er uns diesen Mann in schwerster Zeit geschenkt hat. Könnte Hitler selbst die Blutopfer der Seinen annehmen, wenn er sich nicht als das Werkzeug einer höheren Macht empfinde?“ Er, der Sohn eines Kaisers, fordere nur die eine Gnade: dass er sich opfern dürfe für diese Idee. Mit Hitler habe sich die Neugeburt des Volkes vollzogen. „Nicht enden wollender Beifall“, so die WZ, folgte den Ausführungen, bis die Kapelle das Deutschlandlied intonierte, in das die Versammlung begeistert einstimmte.

Kleine Reminiszenz am Rande: Die Betreiber der Gaststätte Antoinettenruh, die Familie Kahl, hatte den Prinzen zum Willkommensgruß in die Privatwohnung eingeladen. Dabei entdeckte er ein Glas, das die Familie als Kleinod aufbewahrte. Es stellte sich heraus, dass daraus einst sein Vater, Kaiser Wilhelm II, als die Kahls 1905 in Lüneburg noch den Ratsweinkeller betrieben, einen „Erfrischungstrunk“ genommen hatte.

Unter „Letzte Meldungen“ berichtete die WZ, wie sich die „Neugeburt des Volkes“ allmählich vollzog: „In Ausführung des Verbots der Linkspresse wurde gestern das „Volksfreund-Haus“ in Braunschweig polizeilich durchsucht und rd. vierzig Zentner Druckschriften wurden beschlagnahmt. Das Gebäude selbst bleibt einstweilen geschlossen.“ Aus Berlin trafen bei der Landespolizeistelle erneute Anweisungen ein: Das Vermögen der kommunistischen Organisationen, das bisher staatsfeindlichen Zwecken gedient habe, sollte beschlagnahmt werden, um damit wenigstens ein Teil des Schadens am Reichstagsgebäude auszugleichen. Kreisdirektor Hinkel erhielt die Anordnung, sofort sämtliche Kraftwagen der KPD und ihrer Nebenorganisationen zu beschlagnahmen. Er antwortete dem Innenminister, die KPD besitze hier keine Kraftwagen.

Eine Wahlkampfveranstaltung besonderer Art fand am 2. März im Kaffeehaus neben dem Lessingtheater statt. Hier trafen sich die Mitglieder des Kreishandwerkerbundes und des Innungsausschusses. Nach kurzer Erörterung einiger interner Probleme behandelte die Versammlung den wichtigsten Punkt der Tagesordnung, die bevorstehende Reichstagswahl. Zuerst sprach Bäckermeister Wilhelm Appuhn: „Unser Reichspräsident von Hindenburg hat schon manche ehrenvolle Tat – besonders im Kriege – getan, die ehrenvollste aber am 30. Januar, als er den Führer der Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte. Das Handwerk bringt diesem Kanzler das vollste Vertrauen entgegen. Schon jetzt ist unter seiner Regierung für das Handwerk Gutes hervorgegangen.“
Das Handwerk fordere, so der Bäckermeister, die Aufhebung der Gewerbefreiheit „als Schädling schlimmster Art für das Handwerk“, die Aufhebung der Gewerbesteuer, die als ungerechteste der Steuern erkannt ist, und dass die Hauszinssteuer dem Grundbesitz restlos zur Verfügung gestellt werde. „Pflicht eines jeden Handwerkers sei es, den Kanzler und seine Regierung zu unterstützen. Anders als die bisherigen Parteien gebe die NSDAP keinerlei Versprechungen, betätige sich aber als handwerkerfreundlich.“
Malerobermeister Friedrich Heinemann anerkannte zwar, dass Hitler durch sein energisches Eingreifen das Volk vom Abgrund zurückgerissen habe, riet den Teilnehmern aber, sich bei der Wahl für Schwarz-Weiß-Rot zu entscheiden: „Der Handwerker kann zu Hugenberg das vollste Vertrauen haben. Er tritt für die unbedingte Erhaltung der Privatwirtschaft ein und ist gegen die Verstaatlichung.“

Einige andere Handwerksmeister nahmen das Wort und bekannten sich zur NSDAP: „Das größte Entgegenkommen finde der Handwerker in der NSDAP und nur eine große Organisation könne sich durchsetzen.“ Bäckermeister Appuhn erklärte am Schluß, dass sich die Freiheitsbewegung nicht aufhalten lasse, zeige, dass am Freitag um 14 Uhr auf dem Rathause die Hakenkreuzfahne gehißt werden solle.

Dieser Wusch erfüllte sich nicht, da diesmal Heinrich Bode seine eigenen Leute davon abhielt, die Fahne auf dem Rathaus zu hissen. Die SA zog nach einer Ansprache des Stadtverordneten das Tuch auf dem Platz davor an einem Mast hoch. Einige Männer befestigten außerdem zwei kleine Hakenkreuzfahnen an der Rathausfassade, wo die Polizei ihre Diensträume hatte. Dann sangen sie das Horst-Wessel-Lied und zogen weiter durch die Stadt. Als Bürgermeister Eyferth am Samstagmorgen das Rathaus betrat und die Hakenkreuzfahnen sah, befahl er dem Hausmeister, die Nazi-Symbole zu entfernen. Eine in der Nacht am Schornstein des städtischen Schlachthauses befestigte Nazi-Fahne ließ er ebenfalls unverzüglich herunterholen.

Einen „letzten Appell“ zur Wahl veranstalteten die Nazis am Sonnabend um 20 Uhr auf dem Schloßplatz, zu dem sie alle Militärvereine, nationalen Gruppen und “deutschdenkenden Kreise Wolfenbüttels“ gebeten hatten: Am Kriegerdenkmal von 1870 war ein „Riesenlautsprecher“ angebracht worden, durch den die letzte Rede Adolf Hitlers direkt aus Königsberg der gewaltigen Menge übertragen wurde. “Im Scheine von Buntfeuer hatten SA, SS, Schulen und Militärvereine sowie das Wolfenbütteler Technikum mit ihren Fahnen Aufstellung genommen.“ Anschließend zogen alle mit Fackeln „zu Ehren des Tages der erwachenden Nation“ durch die Stadt.

Der Stahlhelm, der die DNVP unterstützte, hatte sich hier offenbar nicht beteiligt, da dessen Mitglieder, wie die Lokalzeitung ankündigte, wegen „schon vor längerer Zeit festgesetzter Dienstbereitschaft“ verhindert sei. Sie standen noch hinter der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“, die sich am Samstag mit einer großen Anzeige an „Stahlhelmer und alle nationalen Männer und Frauen“ wandte – womit „deutschnationale Arbeiter“ gemeint waren, „Bauern, Angestellte, Beamte und Handwerker“ – und verhieß ihren Wählern die Rückkehr in die monarchistische Vergangenheit: „Diese Farben leuchteten über Deutschland in den Zeiten des Glückes!“

Die WZ ihrerseits rief „in der zuversichtlichen Erwartung, daß morgen auf lange Zeit die letzten Reichstagswahlen stattfinden, und dann endlich an die Arbeit gegangen wird“, jeden national gesinnten Deutschen auf, seiner Wahlpflicht zu genügen. Es sollte selbstverständlich sein, „dass er sich auf die Seite der Regierungsparteien stellt und seine Stimme einer dieser Parteien gibt. Wer zu den Regierungsparteien zählt, kann keinem zweifelhaft sein. Von den Nationalsozialisten an rechnen alle dazu, die hinter der Regierung Hindenburgs stehen – Deutschnationale (schwarz-weiß-rote Front), Deutsche Volkspartei u.a. Sie alle wollen morgen das Fundament legen, das den Bau des kommenden Deutschlands tragen soll.“

Von den Andersdenkenden, deren Wählerstimmen ohnehin unerwünscht waren, ließ die Wolfenbütteler Polizei rechtzeitig etliche verhaften: Einige der führenden Kommunisten nahm sie in Schutzhaft und verkündete, dass bei Hausdurchsuchungen ein Karabiner „entdeckt und beschlagnahmt“ worden sei.

Der Berliner Polizeifunk schickte allen Landespolizeistellen am 3. März ein Telegramm und teilte mit, „dem Vernehmen nach wird die SPD Wahlsabotage betreiben. Durch Nichtteilnahme am Wahlvorstand oder Beseitigung der Wählerverzeichnisse“. Daher sollten die Wahlleiter rechtzeitig genügend Ersatzleute bereithalten. Wahlverzeichnisse, soweit sie sozialdemokratischen Wahlvorstehern bereits ausgehändigt worden waren, sollten in „polizeiliche Verwahrung genommen und den Wahlvorstehern erst kurz vor Beginn der Stimmabgabe ausgehändigt“ werden.

Die 9. Kompanie des Stahlhelms, die am Wahlsonntag in Bereitschaft lag, um gegebenenfalls Wolfenbütteler Wahlräume zu schützen, gedachte anläßlich dieses für die Zukunft des Landes so bedeutsamen Tages der Gefallenen. Am Artilleriebrunnen auf dem Kaiserplatz hißten die Veteranen die alte Reichsfahne. Bezirksgruppenführer Barnewitz hielt eine kurze Ansprache, in der er in Erinnerung rief, dass die „ruhmreiche schwarz-weiß-rote Fahne 1918 von den Masten gerissen“ worden war, an denen sie seit der Reichsgründung 1971 über einem freien Vaterlande geflattert habe. Dann habe man sie “durch den Kot geschleift, die Flagge, unter der zwei Millionen deutscher Brüder ihre Treue zur Heimat mit ihrem Herzblut“ besiegelt hätten. Heute, an dem Tag der Erhebung der Nation solle die Flagge nun auch auf öffentlichen Plätzen wehen. Barnewitz schloß seine Rede mit nationaler Lyrik: „So wehe denn im Winde, stolzes Panier, einer glücklichen Zukunft entgegen.“ Die gleiche Zeremonie wiederholte die Veteranen-Einheit am Kriegerdenkmal auf dem Schloßplatz. Vor dem Gedenkstein für die Toten, die die Gründung des vereinigten Reiches ermöglicht hatten, beschwörte er eine Zukunft, die, wie wir wissen, wieder in der Katastraophe endete: „Wenn uns diese Toten fragen, Kamerad, wo stehst DU?, dann können wir ihnen sagen, daß wir arbeiten und opfern in ihrem Sinn, und zwar dadurch, daß wir das Werk, das sie schufen, mit allen Mitteln erhalten werden, ja, daß wir bereit sind, wenn es noch einmal nötig sein sollte, auch unser Blut für den Bestand des Reiches einzusetzen. Papen, Hugenberg und unser Führer Franz Seldte, unter Führung Adolf Hitlers, haben unser Vertrauen, nur unter einer solchen Regierung wird das Morgenrot der deutschen Freiheit anbrechen.“

Nach Ansicht der BTZ verlief der Wahltag in der Lessingstadt ruhig. Entstehende Zwischenfälle seien durch die Hilfspolizei im Keime erstickt worden. Die Wahlbeteiligung habe bei 92 % gelegen. Die Nationalsozialisten steigerten sich von 45,9 % auf nun 52 %, die nationale Rechte erreichte 62,1 % aller Wählerstimmen; die Sozialdemokraten verloren knapp 2 % und lagen hier jetzt bei 21,1 Prozent, die Kommunisten büßten 4,2 % ein und lagen nur noch bei 12,8 Prozent; das Zentrum landete weit abgeschlagen bei 2,8 %. Im Land Braunschweig steigerten die Nazis ihren Stimmenanteil von 43,9 auf 49 % und errangen mit Schwarz-Weiß-Rot und Volkspartei zusammen 58 %. Im Reichstag verfügten die Rechtsparteien nun über die erwartete Mehrheit von 54 %. Das Land Braunschweig vertraten jetzt drei Nationalsozialisten (Klagges, Jeckeln und Willikens) und der Sozialdemokrat Otto Grotewohl. Die WZ verkündete am Montag den „eindeutigen Sieg der nationalen Rechten“ und bezeichnete den Nationalsozialismus als den eigentlichen Wahlsieger. Nun sei der Weg frei, um „ganze Arbeit leisten zu können“.

Die Braunschweiger Tageszeitung teilte am Dienstag mit, der Rat der Stadt Wolfenbüttel habe die Beflaggung des Rathauses beschlossen. Dem widersprach die WZ und teilte der Bürgerschaft mit, er habe vielmehr nur beschlossen, sich an die Beflaggunsgrundsätze Preußens zu halten. Demzufolge seien richtigerweise nur die Landes- und Stadtfarben zu hissen. Flaggen besaßen in diesen – und wie man weiß – auch in den folgenden Jahren große demonstrative Bedeutung. Um zu vermeiden, dass doch noch linke Fahnen an öffentlichen Gebäuden gezeigt werden, erließ die Staatsregierung schnell eine vorsorgliche Verordnung: „Dienstwohnungsinhaber in staatlichen Gebäuden dürfen an ihren Wohnungen weder kommunistische noch marxistische Flagge zeigen. Hingegen ist das Zeigen von Fahnen der hinter der Regierung stehenden nationalen Verbände gestattet.“

Sie, Leserin und Leser, haben bisher viel über die Ereignisse in Stadt, Land und Reich erfahren; aber wie sah es auf dem platten Lande aus, in den Dörfern um die Lessingstadt? Sieht man sich in den vielen Dorfchroniken um, die besonders im Landkreis Wolfenbüttel seit Anfang der achtziger Jahre in großer Zahl erschienen sind, erfährt man nur sehr, sehr wenig über die Veränderungen – oder gar nichts – in den Landgemeinden um die Lessingstadt. Zum Beispiel Halchter, eine der frühen ländlichen Hochburgen der Nationalsozialisten. Wann wurde dort die Hakenkreuzflagge über dem Gemeindebüro gehißt, wie feierte das Dorf die Ernennung Hitlers? Darüber erfährt man in der Orts-Chronik, von der Stadt Wolfenbüttel 1988 herausgegeben, nichts. Immerhin findet man die Wahlergebnisse der Reichstagswahlen bis 1932; damals errangen die Nazis bereits 53,7 %. Aus eigenen Unterlagen kann ich beisteuern, dass die Halchteraner am 5. März 1933 mit 70% die Hitler-Regierung gewählt haben. Also muß es dort auch ganz schön nationalsozialistisch zugegangen sein. Aber die Chronik berichtet gerade noch von der Ablösung des Gemeindevorstehers, der dann plötzlich Bürgermeister hieß. Meine seinerzeitige Kritik an dieser mangelhaften Geschichtsschreibung beantwortete Ortsbürgermeister Heinz Scheliga kurz und bündig: „Es ist nicht Aufgabe der Ortschronik Halchter, sich mit der nationalsozialistischen Zeit umfassender zu beschäftigen, als es geschehen ist.“

Nun gut, werfen wir nur einen kurzen Blick: Der Leser weiß, dass Wolfenbüttel eine Keimzelle des Nationalsozialismus war. Daran, dass die Nazis so gut keimten, wuchsen und gediehen, leistete der gut gedüngte Wurzelstrang Halchter einen erheblichen Beitrag. Darum konnte die NSDAP-Ortsgruppe bereits 1935 ihr zehnjähriges Bestehen feiern. Aber auch die anderen Rechten, die sich noch mit der Farbe schwarz-weiß-rot schmückten, hatten zahlreiche Unterstützer und feierten am 20. April 1933 den Geburtstag Adolf Hitlers. Als Redner trat auf der Geburtstagsfeier Oberstudienrat Naumann aus Wolfenbüttel auf, der den 100 Mitgliedern und Freunden mit packenden Einzelbildern noch einmal die trübe Vergangenheit in Erinnerung rief und dann die opferreiche Aufbauarbeit der vaterländischen Parteien, Gruppen und Verbände würdigte. Die dreifarbige Kampffront stehe hinter der Regierung Hitler-Hugenberg-Seldte mit „uneingeschränktem, restlosen Vertrauen“: „Sie weiß die Führung bei Hitler in den besten, reinsten Händen und gelobt an seinem Ehrentage aufs neue treue Mitarbeit.“

In Atzum, von Wolfenbüttel einen Steinwurf entfernt, gründeten “alte Antisemiten und Anhänger völkischer Kampforganisationen“ bereits Ende 1923/Anfang 1924 eine NSDAP-Ortsgruppe. In dem Dorf mit 150 Einwohnern wohnten allein 8 Träger des goldenen Ehrenzeichens der NSDAP. Eine gute Darstellung der NS-Entwicklung bietet die „Geschichte des Dorfes Atzum“ von Damar Wagner. (Seite 180ff) Werfen wir noch einen kurzen Blick in das kleine Dörfchen Evessen, bekannt durch eine imposante Eiche, die auf einem sagenumwobenen Tumulus wächst. Dorthin war die Kapelle (SA-Standartenkapelle) Heinrich Pinkernelle am Samstag vor der Wahl gefahren, um die 600 bis 700 Teilnehmer eines Deutschen Abends im Saal der Gaststätte Kurland zu unterhalten. Ortsgruppenleiter Deeke kam nach der Begrüßung gleich auf den Kern der aktuellen Entwicklungen und rief die Anwesenden auf, die noch nicht voll hinter Hitler standen, „endlich mit dem bisherigen System zu brechen“. Volkstümlich ermahnte er sie: „Wem der Brägen (braunschweigisch für Hirn/Kopf) noch immer zugefroren ist, dass er die jetzt bahnbrechende Zeit nicht erkannt hat, dem wird wohl in seinem ganzen Leben nicht mehr zu helfen sein.“ Viele Dörfler beteiligten sich an der weiteren Gestaltung des Abends, nachdem gemeinsam der Königsberger Rede Hitlers gelauscht worden war: Frau G. trug einen Prolog „Unser Führer“ vor, Lehrer B. ließ kleine Schulmädchen einen Reigen tanzen, und die Frauengruppe führte einige kleinere Theaterstücke auf. Wegen der Wahl, so der Chronist dieser Veranstaltung, gingen alle recht früh nach Hause. Das Ergebnis der Abstimmung am nächsten Tag: Von 230 abgegeben Stimmen entfielen allein 193 (84%) auf die NSDAP, 21 erhielten die Sozialdemokraten, 1 Stimme die KPD, 11 die Dreifarbigen und 4 Stimmen durfte sich die DVP noch gutschreiben; 90 % der Brägen hatten sich also für die Regierung entschieden. Ob die Evessener Nazis herausbekommen haben, wer die einzige Stimme für die KPD abgegeben hat, ist unbekannt. War er ohnehin schon bekannt, konnte er sich in der Zahl der SPD-Stimmen verdeckt halten. Was ist aus ihm geworden?

Es ist bekannt, dass die Kommunisten unter den parteipolitisch Verfolgten des Dritten Reiches den wohl höchsten Blutzoll leisteten. So scheint es auch im Lande Braunschweig gewesen zu sein, in dem die Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten nach dem Wahltag planmäßig anlief. Zunächst geschah das noch ohne fatales Blutvergießen, das ein paar Wochen später jedoch umso heftiger begann. Die Verhaftungsktionen waren begleitet von der sogenannten „Mandatsverzichtswelle“, die nichts weiter war als ein mit Gewaltandrohung durchgesetzter Rücktritt von Abgeordneten des Landtages und der Stadt- und Gemeinderäte. Zum Verzicht gezwungen wurden nicht nur die Mandatsinhaber, sondern ebenso die Listennachfolger. Der SPD-Landtagsabgeordnete Julius Schulz unterzeichnete unter Druck diesen ihm vorgegeben Text: „Ich lege hiermit freiwillig mein Mandat nieder, da ich nicht mehr gewillt bin, für eine verlorene Sache zu kämpfen. Ich hoffe, da ich niemals auch nur in irgendeiner Form gegen den Nationalsozialismus aufgetreten bin, dass ich vor dem Zorn des Volkes bewahrt bleibe.“

Das zunächst auf 14 Tage beschränkte Verbot der SPD- und KPD Presse bestätigte das Staatsministerium und beschloß, es bis auf weiteres bestehen zu lassen. Die WZ berichtete am 9. März: „Starker Andrang in der Landesstrafanstalt.“ und erläuterte diesen Zugang im Wolfenbütteler Gefängnis mit „allein 27 in Holzminden verhafteten Kommunisten und 1 Gesinnungsgenossen aus Bad Gandersheim“. Unter den Verhafteten habe sich auch der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Wolter aus Oker befunden. Er kam bald wieder frei und konnte später emigrieren.

In Schutzhaft seien schließlich noch mehrere Kommunisten aus Wolfenbüttel, die Zahl verschwieg das Blatt. Aus Börßum, dem Landkreis-Dorf und Gründungsort der ersten Hitlerjugend-Gruppe im Gau Hannover-Braunschweig, war der Schweizer Willi Dudel junior, vom Oberlandjäger und einem Hilfspolizisten verhaftet und hinter Gitter gebracht worden: Er habe geäußert, „dass man dem Reichskanzler Adolf Hitler eine Kugel in den Kopf schießen müsse.“ Der junge Mann, der seit Jahren für „internationale Interessen hetzerisch eintrete“, sei staatenlos.

Während der folgenden Wochen überzogen die Nazis die Linken in Stadt und Landkreis mit ständigen Hausdurchsuchungen, Vernehmungen, Drohungen, Einschüchterungen und weiteren Festnahmen; regelrecht überfallen wurden einige Dörfer: Remlingen, Wittmar, Groß Denkte, Kissenbrück, Linden, Wendessen, Salder, Thiede, Geitelde und Schöppenstedt.

Am 23. März 1933 leitete Regierungsrat Walter Seeliger, damals Polizeireferent bei der Kreisverwaltung Wolfenbüttel, den per Telefon vom Staatsministerium empfangenen Auftrag, in Schöppenstedt eine „Aktion gegen politische Gegner durchzuführen“, an SA-Führer und Kreisangestellten Wilhelm Hannibal weiter. Der teilte ein Kommando von ca. 20 SA-Leuten ein, die sich für den Einsatz eine weiße Armbinde über den Arm streifen mußten, die einen Stempel der Kreisdirektion enthielten und sie somit als Hilfspolizisten auswies; eine Ernennung von Amtsträgern, die an Western-Filme erinnert, in denen der Sheriff seinen zufällig ausgewählten Revolverträgern die Blechsterne zuwirft. Die Horde ritt zwar nicht in das kleine Nachbarstädtchen, sondern bestieg einen LKW und traf am folgenden Tag gegen neun Uhr am Stadtkeller ein, dem Verkehrslokal der lokalen Nazis. Hier trafen sie auf weitere SA-Männer und Stadtbeamte, die vorzeitig über die Aktion informiert worden waren. Aufgrund einer Liste, die der NSDAP-Ortsgruppenleiter A. wahrscheinlich nach Angaben eines ehemaligen Reichsbanner-Mitglieds zusammengestellt hatte, ließ Hannibal schließlich 40 – 50 Personen von seinen Hilfskräften zusammenholen. Während der Verhaftungen und Hausdurchsuchungen wurden einzelne Straßen abgesperrt. Die zusammengetriebenen Männer und Frauen mußten dann in der Waschküche des Lokals auf die Vernehmung warten. Alles, was zu politischer Betätigung benutzt worden war, hatte Hannibal beschlagnahmen lassen: Uniformen, Fahnen und Musikinstrumente. Beim „Jugendführer“ Mühe, so die WZ, sei ein „Verzeichnis der unbeliebten Einwohner“ gefunden worden, die „an die Wand gestellt“ werden sollten.

In der Kneipe war im ersten Stock ein Vernehmungszimmer hergerichtet worden, in das die Festgenommenen einzeln hingeführt wurden. Auf dem Hof, im Hausflur und auf der Treppe standen mit Pistolen, Gummiknüppeln und Gewehren ausgerüstete SA-Männer. Das Kommando über diese Männer hatte Hannibal an Karl D. delegiert. Die Eingesperrten mußten von der Waschküche durch das Spalier der Schlägerkolonne eine steile Treppe hinauf zum Vernehmungszimmer gehen, und wieder zurück. Hannibal befragte sie nach ihrer politischen Vergangenheit und ob sie Waffen besäßen.

Reinhold M., Musikzugführer des Reichsbanners, gehörte zu den ersten Vernehmungsopfern: Von den SA-Männern war er mit den Worten in Empfang genommen worden: „Der Hund lacht ja noch, der muß auf Knien kriechen.“ Im Hausflur schlugen ihn SA-Männer heftig ins Gesicht, sodaß seine Nase blutete. Hannibal fragte ihn scheinheilig nach dem Grund der Verletzung. M. antwortete, er sei auf der Treppe gefallen. Nach der Vernehmung kam er nicht zurück in die Waschküche, sondern in den daneben liegenden Schweinestall, in dem der Wirt zwei Schweine hielt. Nach einiger Zeit bekam er Besuch von zwei SA-Männern, die ihn mit Holzknüppeln verprügelten. Nach drei Stunden vernahm ihn Hannibal erneut, entließ ihn dann aber mit der Ermahnung, er solle sich einen besseren Umgang suchen.

Ähnlich erging es Kurt Monden, der keiner Partei angehörte. Er erlitt erhebliche Beinverletzungen durch Schläge mit einem Knüppel, die ihn vier Wochen arbeitsunfähig machten. Auf dem Weg zur Vernehmung mißhandelten ihn die SA-Männer durch Faustschläge, die Wunden am Ohr und an der Stirn hinterließen. Auf der Treppe versuchte ein SA-Mann, ihn die Treppe wieder hinunter zu ziehen. Mit einem Schuh in der Hand kam er in das Vernehmungszimmer. Hannibal fragte nach dem Grund seines Ausssehens und untersagte anschließend seinen Schlägern weitere Mißhandlungen.

Herr H., Mitglied des Arbeiter-Sportvereins, 25 Jahre alt, wurde erst gegen 16 Uhr zur Ver-nehmung geholt. Auf der Treppe schlugen ihn SA-Männer mit Gummiknüppeln und Reitpeit-sche. Nach dem Verhör trat ihn ein SA-Mann, sodaß er die Treppe hinunterstürzte. Weil Hannibal ihn ins Gefängnis nach Wolfenbüttel verfrachten wollte, kam er zunächst in den Schweinestall. Fast die gleiche Prozedur erlitten weitere Männer, auch der 17jährige D., der nach dem Verhör mit S. und H. unter Gewehrkolbenschlägen auf den LKW verfrachtet wurde. Hannibal schaute aus dem Fenster und befahl: Dass den Gefangenen unterwegs nichts passiert!

Das Braunschweiger Schwurgericht verurteilte Hannibal Ende November 1949 zu drei Jahren Gefängnis; sein Untergebener Karl Dempewolf, der von 1942 bis 1945 als Bürgermeister in Hann.-Münden amtierte, kam mit einem Jahr Haft davon; die anderen Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen 3 und 32 Monaten; den Angeklagten M. sprach das Gericht wegen Unzurechnungsfähigkeit frei; die Zeit der Internierung gleich nach der Befreiung mußte auf die Strafen angerechnet werden. Keiner der Angeklagten, so die Braunschweiger Zeitung, zeigte Reue.

Im Gerichtsurteil wird deutlich hervorgehoben, dass sich Hannibal nach eindeutiger Aussage der mißhandelten Zeugen an den Gewalttätigkeiten nicht beteiligt hat. Er sei damals „bei seinen politischen Gegnern nicht als Schläger bekannt“ gewesen. Die Beweisaufnahme habe kein Indiz dafür ergeben, dass Hannibal die Mißhandlung der „zwangsgestellten Personen“ befohlen hatte. Soweit ihm die Anklage vorwarf, die Mißhandlungen bewußt geduldet zu haben, reichte das Ergebnis der Hauptverhandlung „trotz eines gewissen in dieser Richtung bestehenden Verdachts zu einer Überprüfung nicht aus. Die Tatsache, dass von den 40 – 50 festgenommenen Personen mindestens acht zum Teil ganz erheblich mißhandelt worden sind, legt allerdings den Schluß nahe, daß Hannibal bewußt die Augen verschlossen und über die Mißhandlungen hinweggesehen hat. Es sprechen aber auch gewichtige Gründe gegen eine solche Annahme.“ Die Suche nach Unschuldsbeweisen für den hauptamtlichen Chef der Wolfenbütteler Nazi-Schläger entwickelte sich im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung zu juristisch formulierten Verdrehungen, die mit dem Sinn nach Gerechtigkeit schwer zu ertragen sind. Hannibal war zwar der Chef der Schlägertruppe, da er aber nur schlagen ließ und die schmutzige Arbeit delegierte, konnte er im Sinne des Rechts unbelastet dastehen: „Es ist durchaus möglich, dass Hannibal von den Vorgängen nichts bemerkt hat. Er hat den ganzen Tag über das Vernehmungszimmer nicht verlassen, und seine Aufmerksamkeit war durch die Vernehmungen voll in Anspruch genommen, sodaß ihm auch das Poltern auf der Treppe, das insbesondere bei H., D. und H. nach den ersten Vernehmungen durch das Hinunterstoßen und Fallen entstanden sein muß, entgangen sein kann, zumal in dem Vernehmungszimmer auch mit der Schreibmaschine geschrieben wurde. Er brauchte von seinem Standpunkt aus etwaigen Geräuschen keine besondere Bedeutung zumessen, da er dem Angelagten D. und G. die Aufsicht über die im Hause verteilten SA-Leute übertragen hatte und daher annehmen konnte, da die beiden SA-Führer, insbesondere G., der sich die ganze Zeit über im Vernehmungszimmer aufhielt, im Falle von Mißhandlungen einschreiten würden.“

Bei diesen „Zwangsgestellungen“, die sich im Laufe eines einzigen Tages stets in gleichbleibender Form abgespielt haben, handelte es sich nach Ansicht des Gerichts „um einen natürlichen Vorgang“ und bei „natürlicher Betrachtungsweise“ um „eine Handlungseinheit“: „Hannibal wollte nicht von vornherein bestimmte Einzelpersonen ihrer Freiheit berauben. Sein Vorsatz ging vielmehr dahin, eine zunächst unbestimmte später durch die vorliegende Liste begrenzte Anzahl politischer Gegner, also nur gattungsmäßig umrissener Menschen, festzunehmen und zu verhören, wobei es ihm lediglich auf den politischen Gegner, nicht aber auf eine individuelle Persönlichkeit ankam. Insoweit ist er daher nur einer Freiheitsberaubung im Amt schuldig.“

Doch nicht nur die Schöppenstedter Vorgänge standen in dieser Verhandlung an, sondern auch die Festnahme und Mißhandlung von vier Sozialdemokraten aus dem zwischen Wolfenbüttel und Schöppenstedt gelegenem Dorf Dettum.

Mitte Juli, als die Verfolgung politisch Andersdenkender ihren mörderischen Höhepunkt erreicht hatte, beauftragte Hannibal seinen Mitangeklagten G., einer Anzeige aus dem Dorf nachzugehen, demzufolge sich die Brüder A., 1. und 2. Vorsitzende der SPD, und zwei weitere Männer auf dem Feuerwehrfest geweigert hätten, beim Absingen des Deutschland- und Horst-Wessel-Liedes mit dem Hitler-Gruß zu grüßen; zudem träfen sie sich regelmäßig in einer Bahnwärterbude, um dort ihre politische Tätigkeit illegal fortzusetzen.

Am 20. Juli fuhr der SA-Mann G. in Begleitung von fünf weiteren Männern mit 2 PKW gegen 20 Uhr los und nahm zunächst die Brüder und B. fest. Anschließend fuhren sie zur Bahnwärterbude und holten auch H. ab. Gegen 22 Uhr brachten sie die 4 Männer in Wolfenbütel in die bekannte SA-Kaserne in der Seifenfabrik. In einem großen Raum im 1. Stock, der auch als Exerzierhalle diente, wurden sie von anderen SA-Männern bewacht. G. ließ sich die Festgenommenen einzeln in einen anderen Raum bringen. Als erster kam Erich A. Als er leugnete, in der Bahnwärterbude gewesen zu sein, schlug G. ihm mehrere Male heftig mit der Faust ins Gesicht. Als er auch weitere Fragen verneinte, schlug ihm G. zweimal mit einer Reitpeitsche ins Gesicht., während andere SA-Männer ihn mit Faustschlägen und Fußtritten mißhandelten. Während der Prügelei brüllte G. mehrfach: „Du Schwein, warum kannst Du die Hand nicht hochheben?“ Ein anderer SA-Mann meinte: „Du Esel, sag doch ja, dann kriegst du keine Schläge mehr.“ Als sein Bruder in den Raum gebracht wurde, ließen sie von ihm ab und brachten ihn zurück in den Saal. Fritz A. erlitt ähnliche Torturen, die langfristige Gesundheitsschäden nach sich zogen. Er verlor vier Schneidezähne, und bis auf die Eckzähne saßen danach alle anderen Zähne locker; er mußte sie alle ein Jahr später herausnehmen und durch ein Gebiß ersetzen lassen. Auf dem Weg zurück in den Exerzierraum erhielt er einen heftigen Tritt in die Nierengegend. Im Originaltext heißt es weiter: „Im Jahre 1938 oder 1939 mußte der Zeuge wegen heftiger Nierenkoliken in das Krankenhaus WF eingeliefert werden, wo er noch 12 Wochen lang lag. Ob die damalige Erkrankung, der bis zum Jahre 1945 gelegentliche Nierenanfälle folgten, auf die Mißhandlung am 20. Juli 1933 zurückzuführen ist, läßt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen.“

Die anderen beiden Männer malträtierte G. mit seinen Kumpanen in ähnlicher Weise. Danach gab er sie in die Gewalt von 12 bis 15 SA-Männern im Exerzierraum und ließ sie „sogenannte Exerzierübungen“ machen: Hinlegen, Aufstehen, Kniebeugen, Laufschritt, Grüßen, usw. Auch hierbei wurden sie geschlagen und getreten, bis sie sich an einer Wand aufstellen mußten und die SA-Männer ihnen mit Erschießung drohten. Sie ließen die Verletzten einige Zeit stehen und entsicherten hörbar ihre Waffen. Die Quälereien dauerten bis Mitternacht.
Etwas später erschien Hannibal und vernahm die Männer auf seine sanftere Weise. Seinen Untergebenen G. soll er angesichts der Verletzten erregt zur Rede gestellt und ihn verwarnt haben.

Der SA-Chef entließ den noch glimpflich davongekommenen H. nachts um zwei Uhr mit der Verpflichtung, niemanden etwas über die Erlebnisse zu erzählen. Die drei anderen Männer nahm er in Schutzhaft und brachte sie ins Gefängnis. Erst nach etwa sieben Wochen wurden sie entlassen. Zu der Gefangennahme stellte das Gericht fest: „Die Festnahme der 4 Zeugen durch den Angeklagten G, um sie dem Hannibal zur Vernehmung vorzuführen, kann nicht als rechtswidrig angesehen werden, da damals auf Grund des Gesetzes vom 14. Juli 1933 bereits das Verbot der politischen Parteien bestand und gegen die Zeugen eine Anzeige vorlag, wonach ihnen die Fortsetzung des organisatorischen Zusammenhalts zwischen ehemaligen Mitgliedern der SPD vorgeworfen wurde.“

Das Gericht befaßte sich auch mit der Anwendung der Schutzhaft. Bevor darüber berichtet wird, einige grundlegende Hinweise: Die Schutzhaft, in dieser Zeit ein absolutes Terrorinstrument, war keine Idee Hitlers oder seiner Juristen, sondern, so informierte die WZ im April 1933 ihre Leser, „beruht auf einem während des Krieges am 4. Dezember 1916 erlassenen und noch heute geltenden Reichsgesetz betreffend Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes durch die vollziehende Gewalt“. Nach einem preußischen Gesetz vom Juli 1931 konnten Personen in polizeiliche Verwahrung genommen werden, „wenn das zu ihrem Schutz oder zur Beseitigung einer bereits aufgetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden polizeilichen Gefahr erforderlich und die Beseitigung der Störung und die Abwehr der Gefahr auf andere Weise nicht möglich war. Allerdings mußten die Häftlinge dann spätestens im Laufe des folgenden Tages entlassen werden (Ausnahme: gemeingefährliche Geisteskranke).“. Die Nazis erweiterten die Maßnahme mit der Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes vom 4.2.1933 und gaben der Polizei die Befugnis einer längeren Inhaftierung ohne richterlichen Haftbefehl mit einer Begrenzung auf höchstens drei Monate. Nach dem Reichstagsbrand war die Inhaftierung zeitlich unbegrenzt möglich, und dem Gefangenen standen keinerlei Rechtsbehelfe mehr zur Verfügung.

Die Zeitung erläuterte etwas nebulös, worum es bei der Schutzhaft ging: „Sie soll nicht etwa zum Schutz eines Verhafteten dienen, sondern ist dann zulässig, wenn sie zur Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit, also für den Schutz des Reiches, der Regierung und der Bevölkerung erforderlich erscheint. Es kann sonach jeder in Schutzhaft genommen werden, von dem anzunehmen ist, dass er, wenn in Freiheit befindlich, entsprechend seinem bisherigen Gebaren die öffentliche Schrift, aber auch, wenn zu befürchten ist, dass er verbrecherische Taten zu verdunkeln, unerlaubte Handlungen fortzusetzen, Beweisstücke zu beseitigen suchen wird, usw.“

Im Sinne der Reichstagsbrandverordnung war die Schutzhaft eine reine Willkürmaßnahme. Menschen, die nach Einschätzung irgendeines SA-Mannes eine dem Reich oder der NSDAP schädigende Aussage gemacht hatten, konnten ohne zeitliche Beschränkung festgeommen werden. Besonders in der ersten Hälfte des Jahres 1933 mißbrauchten die Nazis die Schutzhaft, um auch persönliche Rache an politisch missliebigen Menschen zu nehmen. Rechtshilfe konnte keines der Oper beanspruchen. Alle Menschen waren vogelfrei. Jeder, von denen Denunzianten annehmen wollten, er sei ein Hitlergegner, konnte unbefristet eingesperrt werden.

Im April 1934 wuren die Bestimmungen der Schutzhat novelliert. Danach durfte sie nur berenzt auf drei Monate angewendet und in nur “amtlich zugelassenen Konzentrationslagern“ ausgeführt werden. Da bei Menschen, die länger weggesperrt werden sollten, immer Gründe gefunden werden konnten, diese Bestimmungen zu entgehen, war sie nur Makulatur. Das wird auch deutlich aus dem Zusatz, in dem davor gewarnt wird, nach der Entlassung “staatsfeindliche Tätigkeiten“ fortzusetzen. Dann müsse derjenige damit rechnen, nach einer erneuten „Inhaftnahme so leicht nicht wieder entlassen zu werden“. Ende Dezember 1934 veröffentlichte die WZ den Kommentar eines juristischen Fachmannes, der darauf hinwies, dass wegen einer Schutzhaft ordentliche Gerichte nicht angerufen werden konnten. Da im nationalsozialistischen Staat Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz nicht gegeneinander stünden, werde die Justiz politische Handlungen des Staates nicht verneinen. Schutzhäftline konnen zudem von ihren Arbeitgeben ohne Einspruchmöglichkeit fristlos entlassen werden.

Zehntausende von Menschen sind im Verlauf des Jahres 1933 der Schutzhaft mit den verschiedensten Auswirkngen für ihr Leben oder sogar durch Tod zum Opfer gefallen. Anfangs wurden sie in Polizeigefängnissen oder Strafanstalten untergebracht. Als die völlg überfüllt waren und andere Einrichtunge nicht mehr auseichten, wurden mehr und mehr Konzentrationslager errichtet. Diese Konzentrationslager waren nicht mit den Lagern zu vergleichen, in denen Menschen später fabrikmäßig gemordet oder durch harte Arbeit bei minimalen Lebensbedingungen umgebracht wurden. Die Konzentrationslager waren jedoch dazu da, die den Nazis unerwünschten Menschen schlechthin auszurotten.

Die Einweisungsgründe, mit denen Männer und Frauen einer Strafbehandlung durch Prügel, Schikane usw. ausgesetzt wurden, waren vielfältig. Sie reichten von „Arbeitsbummelei“, „Krankfeiern“, dem Wechsel des Arbeitsplatzes ohne Genehmigung des Abeitsamtes, der Verweigerung des Hitlergrußes, Abhören ausländischer Sender („Feindsender“), Witzen über das Dritte Reich, mitmenschlicher Kontakte zu Ausländern und Andersdenkenden oder Juden.

Hitlers Meinung über Konzentrationslager wird aus einem von Rauschning (Danziger Senatspräsident) überlieferten Zitat spürbar: „Ich will nicht, daß man aus Konzentrationslagern Pensionsanstalten macht. Der Terror ist das wirksamste politische Mittel. Grausamkeit imponiert, Grausamkeit und rohe Gewalt. Es wird sich schon jemand überlegen, etwas gegen uns zu tun, wenn er erfährt, was ihm im Lager bevorsteht.“ Hitler betonte, er benötige Leute, die fest zupacken und sich nicht erst besinnen, wenn sie jemanden niederschlagen sollen. Jede Tat sei sinnvoll, selbst das Verbrechen.

Von der Existenz der Konzentrationslager erfuhren die Wolfenbütteler auch aus der Lokalzeitung. Der erste Hinweis auf diese Folterstätten ist in der WZ im Mai 1933 zu finden, als sie auf einen in der „Deutschen Illustrierten“ veröffentlichten „aufschlussreichen Artikel“ hinwies. Im September folgte ein ganzseitiger Bericht über einen „Besuch im Konzentrationslager“, weil es immer noch „unwahre Behauptungen“ – „Greuelmärchen“ – der Auslandspresse gäbe. Die Leser wurden aufgefordert, die Richtigstellungen weiterzugeben und „Hetzmeldungen“ entgegen zu treten. Der Aufenthalt der Gefangenen in dem von der Schriftleitung der „Deutschen Postzeitung“ besuchten Konzentrationslagers Oranienburg wurde wie die Verhältnisse in einem Gefängnis beschrieben, das auf rechtsstaatlicher Grundlage betrieben wird.

Die Leitung des KZ habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Gefangenen „umzuformen“ und zwar insbesondere durch politische Vorträge und korrekte Behandlung. So dürften die Gefangenen, die nicht zur Arbeit eingeteilt wurden, sich zu einem „Freiplatz begeben“, auf dem sie sich „sonnen oder sonst wie beschäftigen“ konnten. Wer sich dort „anständig führt und seine Pflicht tut, erfährt auch dementsprechende Behandlung“.

Der die wahren und unmenschlichen Verhältnisse verschleiernde Artikel war nur einer von vielen, der die Menschen von den „charakterbildenden“ Verhältnissen in KZ-Lagern überzeugen sollten. Die Artikelreihe war erschienen, weil einem Gefangenen des KZ Oranienburg die Flucht in de CSSR gelungen war. Durch ihn verbreitete die Weltpresse die Wahrheit über das Lager.

Am 19. Dezember 1934 berichtete die Zeitung erneut über das Lager, das schließlich im März 1935 geschlossen wure. Als Folge des „Gnadenerlasses“ Görings seien erneut Gefangene entlassen worden. Auf Grund ihrer „Führung“ könne davon ausgegangen werden, daß sie voraussichtlich in Zukunft sich “politisch einwandfrei bewegen werden“.

Als autoritär geführtes Sanatorium beschrieb die WZ im Januar 1934 eines der berüchtigsten Konzentrationslager, das erste überhaupt: Dachau. Die „Belegschaft“ bestünde hauptsächlich aus „politisch verstockten früheren kommunistischen Funktionären“. Die Gefangenen hätten im Lager „volle Bewegungsfreiheit“, arbeiteten in Betrieben unter „nur geringer Bewachung duch die SS“ und könnten sich in der Kantine sogar selbst verpflegen. Es gäbe reichlich Bücher, einen Sportplatz und sogar ein Schwimmbecken. Für die „Krankenpflege“ seien „hervorragende Einrichtungen“ vorhanden.

Diese unwahen Behauptungen über die Zustände in Konzentrationslagern wurden unterlaufen durch Erzählungen entlassener Gefangener. Die Angst vieler Menschen, die trotz der Gleichschaltung auf allen gesellschaftlichen Ebenen innerlich auch weiterhin gegen die Nationalsozialisten eingstellt waren, wurde nicht nur von den Machthabern ausgenützt. Im April musste sich eine Wolfenbüttelerin vor Gericht verantworten, weil sie die Inhaberin eines Juweliergeschäftes betrogen hatte. Sie hatte ihr erklärt, sie stünde auf einer Liste derjenigen, die demnächst in ein Konzentrationslager gebracht werden sollten. Davon könne sie sich freikaufen, wenn sie regelmäßig 50 Mark für das Winterhilfswerk spenden würde. Die ängstliche Frau ließ sich auf diesen Handel ein und erfuhr später, dass sie einer Betrügerin zum Opfer gefallen war.

Immerhin machten sich Behörden um die Versorgung der Angehörigen von Schutzhäftlingen Sorgen, die aufgrund dieser Maßnahme fristlos entlassen werden konnten: Der deutsche Landkreistag bat Ende Juli 1933 den Reichsfinanzminister um die Übernahme der Kosten der „Unterstützung von Familienangehörigen von verhafteten Personen“. Er begründete diese Bitte mit der finanziellen Belastung der Fürsorgeverbände. Der Finanzminister lehnte das Begehren ab, erklärte sich jedoch bereit, den Ländern aus Reichsmitteln einen Zuschuß zu geben. Anfang 1934 berichtete die Zeitung über einen Abänderungserlaß, der aufgrund der „Stabilisierung der Verhältnisse“ erlassen worden sei: „Nach drei Monaten haben amtlicherseits Haftprüfungen stattzufinden, und endlich darf die Schutzhaft nur in staatlichen Anstalten und Konzentrationslagern durchgeführt werden“ Aufgrund dieser Bestimmungen seien bereits Entlassungen aus allen Lagern in großer Zahl erfolgt. Klar sei aber auch, dass die Entlassenen bei erneuter Inhaftierung damit rechnen müßten, so leicht nicht wieder freigelassen zu werden. Einige Monate später zitierte die Zeitung aus einem Aufsatz in der Zeitschrift „Deutsche Justiz“, in dem sich ein Dr. Werner Spohr mit der Schutzhaft auseinandersetzte: „Das ordentliche Gericht könne nicht angerufen werden, weil die Verhängung der Schutzhaft eine rein polizeiliche Maßnahme sei. (…) Als Maßnahme der politischen Polizei könne die Verhängung der Schutzhaft aber auch nicht vom Verwaltungsrichter nachgeprüft werden. Von maßgebender Stelle sei dargelegt, daß im nationalsozialistischen Staat Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz nicht gegeneinander ständen, so dass also die Justiz nicht politische Handlungen des Staates vom Grundgedanken einer anderen Betrachtungsweise aus verneinen könne.“

Das Gerichtsurteil befaßt sich mit der Frage, wer die Dauer der Schutzhaft festlegte. Hannibal sagte aus, darauf habe er keinen Einfluß gehabt. Er habe seinen Bericht gemacht, z.B. über die vier Sozialdemokraten, und ihn der Kreisverwaltung zugeleitet. Damit sei die Sache für ihn erledigt gewesen. Wie in vielen NS-Prozessen, konnte auch hier eine ansich eindeutige Sache nicht genau geklärt werden, da die Verantwortlichen sich nicht als verantwortlich bezeichneten: „Der Zeuge Seeliger“, Nachfolger des Kreisdirektors Hinkel, „bekundet, daß Schutzhaftbefehle auf Anregung oder auf Antrag des politischen Beauftragten bei der Kreisdirektion vom Kreisdirektor Hinkel verfügt worden seien und dass er selbst auf Grund der Aktenverfügung des Kreisdirektors solche Schutzhaftbefehle entworfen habe, die dann vom Kreisdirektor unterschrieben worden seien. Der Zeuge Hinkel dagegen behauptet, er habe sich mit dem Erlaß von Schutzhaftbefehlen nicht befaßt. Nach seiner Erinnerung habe Seeliger die Schutzhaftbefehle selbständig erlassen. Er, Hinkel, habe nur ganz ausnahmsweise einmal Schutzhaftbefehle in Abwesenheit von Seeliger unterschrieben. Er habe sich dann stets bei der Stenotypistin von Seeliger erkundigt, ob der Schutzhaftbefehl formell in Ordnung sei. Bei der Ausfertigung der Schutzhaftbefehle habe es sich überhaupt nur um eine formelle Angelegenheit gehandelt. Denn es habe eine Anweisung des Ministeriums vorgelegen, dass alle Schutzhaftsachen, die die Kreisdirektion von dem politischen Beauftragten bei der Kreisdirektion oder von der SA-Hilfspolizei vorgelegt würden, zu bestätigen seien. Auch die Dauer der Schutzhaft sei von dem politischen Beauftragten beziehungsweise der SA-Hilfspolizei selbständig bestimmt worden.“ Angesichts dieser Widersprüche stellte das Gericht dann fest: „Da die beiden Zeugen aus begreiflichen Gründen ein erhebliches Interesse daran haben, eine etwaige Verantwortung für diese Dinge von sich auf andere abzuwälzen, bestehen gegen ihre Glaubwürdigkeit so erhebliche Bedenken, dass Hannibal in den hier zur Rede stehenden Fällen die Dauer der Schutzhaft angeordnet hat.“ Anmerkung: Als Hinkel die obige Aussage machte, war er gerade mal, trotz seiner Nazi-Vergangenheit, wieder mal (FDP) Landrat des Landkeises Wolfenbüttel: vom 17.12.1948 bis zum 3.12.1952. In der von Werner Sohn 2003 veröffentlichten Studie „Im Spiegel der Nachkriegsprozesse: Die Errichtung der NS-Herrschaft im Freistaat Braunschweig“ fand ich diesen Hinweis (Seite 24): “Auch der Wolfenbütteler Kreisdirektor Hinkel engagierte sich für das neue Regime. So teilte er in einem Schreiben vom 12. Mai 1933 Klagges mit, er habe die Absicht, eine Reihe in “Schutzhaft“ befindlicher Personen “auf möglichst lange Zeit unschädlich zu machen“. Er würde es deshalb begrüßen, wenn für “derartig gefährliche Persönlichkeiten Unterbringung in einem Konzentrationslager erfolgen“ könne. (61 Nds Fb 1, Nr. 2/1, Bl. 93)

Vom Wolfenbütteler Amtsgericht erhielt der kommunistische Stadtverordnete Adalbert Kwijas im März eine Haftstrafe von 14 Wochen aufgebrummt, weil er trotz Verbots „periodische Druckschriften“ verkauft hatte. Das Gericht begründete sein Urteil mit dem klaren Hinweis, mit dem „Vertreiben klassenhetzerischer Druckschriften sei es nun vorbei.“ Bei weiteren Hausdurchsuchungen fand die Polizei in der Wohnung eines Kommunisten endlich mal keine rote Fahne, sondern einige in den Stadt- und Landesfarben und sogar eine schwarz-weiß-rote; auch sie wurden beschlagnahmt, da angenommen wurde, sie seien „auf unrechtmäßige Weise in seine Hände gekommen“.