Bücher brennen


Nazis, Bücher und Scheiterhaufen

Obwohl das Verhalten der Wolfenbütteler Nazis stark von der Wunsch geprägt war, mit ihrer nun fast zehn Jahre alten Ortsgruppe zur Avantgarde der NSDAP zu gehören, haben sie bei einem der Höhepunkte der Nazi-Revolution glücklicherweise nicht versucht, die ersten und die besten zu sein: Am 10. Mai verbrannten in deutschen Universitätsstädten Bücher von Schriftstellern, die im nationalsozialistischen Staat nicht mehr gelesen werden durften. Die „undeutschen“ Bestände der Herzog August Bibliothek hätten zweifellos genug Brennmaterial für einen Scheiterhaufen hergegeben, mit dem die braunen Machtmißbraucher den bücherlesenden Wolfenbüttelern ihre völkisch orientierte Schriftstellerei ins rechte Licht hätten setzten können. Nein, nicht einmal eine Ausgabe von Nathan dem Weisen haben sie vergewaltigt. Der seinerzeitige Bibliotheksdirektor Wilhelm Herse, im Amt von 1927 bis 1947, hat zwar in seiner zurückhaltenden Art einen Rückgang der Erwerbungsmittel und die starke Abkehr der Bibliothek von der Öffentlichkeit zu verantworten, sein Verdienst sei jedoch laut Ruppelt, „dass er trotz politischer Umbrüche, trotz Kriegszeit und Auslagerung nach dem Krieg eine in ihrem Bestand unversehrte Bibliothek vorweisen konnte“. Der wahre Grund des nicht errichteten Scheiterhaufens, auf dem in Wolfenbüttel die Nazis zweifellos auch Lessing hätten verbrennen wollen, lag wohl in der Tatsache, dass die Bücherverbrennungen in der Hauptsache Studenten durchführten und die Bücher deshalb vorwiegend in Universitätsstädten brannten.

Möglicherweise hatten die Nazis ja auch keine Zeit, kurz nach den pompösen Feiern zu Hitlers Geburtstag und zum 1. Mai schon wieder einen großen Anlaß zu organisieren, vielleicht überwog die ihnen bekannte Tatsache, dass die Bücherstadt Wolfenbüttel auch der Erscheinungsort literarischer Werke war, die jetzt so richtig in die Zeit zu passen begannen: Über Rudolf Huch wurde bereits berichtet. Der hier seit 1916 im Besitz von Georg Kallmeyer (1875 bis 1945) befindliche „G. Kallmeyer-Verlag“ begann gerade „stark unter den Einfluß des Kulturamts der Reichsjugendführung und der Komponisten und Musikerzieher der HJ“ zu geraten. Diese entnazifizierende Beschreibung entstammt dem 1996 erschienenen „Braunschweigischem Biographischen Lexikon“. Man wundert sich, wie immer noch, auch an anderer Stelle des ansich empfehlenswerten Werkes, Deutsche unter den „Einfluß“ der Nazis gerieten. Ja, haben sie denn selbst nichts dazu getan? Ist der Kallmeyer-Verlag auch unter den Einfluß eines der bekannten Dichter des Dritten Reiches geraten, dem Lyrik und weitere NS-Literatur produzierenden Wolfram Brockmeier, den Kallmeyer auch verlegte? Auch die Darstellung des Verlages durch Frank Beier in seiner unsäglichen Schrift „Die Geschichte der Stadt Wolfenbüttel 1933 bis 1945“ (Wolfenbüttel 2003) entspricht nicht den Tatsachen, ist z.T. sogar schlichtweg falsch.

Um diese Frage nach dem „Einfluß“ zu beantworten, mag Georg Kallmeyer doch selber etwas beitragen. Das folgende Zitat ist seiner eigenen Schrift „25 Jahre Deutscher Verlags-Buchhändler, Wolfenbüttel 1938“ entnommen: „Die stürmische, alle Widerstände niederreißende Kraft der nationalsozialistischen Bewegung brachte die Erlösung. Als dann der Führer aus tiefer intuitiver Kenntnis der völkischen und staatlichen Notwendigkeiten das ganze deutsche Volk neu gestaltete und dem Musikleben den ihm zukommenden Platz im staatlichen Aufbau zuwies, war es natürlich, daß die Hitler-Jugend, der nun selbstverständlich die Musikarbeit innerhalb der deutschen Jugend anvertraut wurde, der bisherigen Arbeit der Jugendmusik, die von anderen Grundsätzen ausging, anfangs mißtraurisch und ablehnend gegenüberstand. Es brach sich aber bei den Führenden sehr bald die Erkenntnis Bahn, daß hier in gewissem Sinne volkliche Pionierarbeit geleistet war, die als Grundlage für die neue Aufbauarbeit eingesetzt werden konnte. Diese Erkenntnis brachte mich schon im Jahr 1934 mit dem Hauptreferenten für Musik der Hitler-Jugend, Bannführer Wolfgang Stumme, zusammen und späterhin mit Obergebietsführer Karl Cerff, dem Chef des Kulturamtes der Reichsjugendführung, und darüber hinaus mit den jungen Komponisten und Musikerziehern der Hitler-Jugend.“

Der Verlag veröffentlichte z.B., sicher zur großen Freude der lokalen Nazis, im Oktober 33 das „neue Marschlied der Hitlerjugend“ in Postkartenform: Der Sütterlin-Text und die dazugehörigen Noten sind eingerahmt von einem kraftstrotzendem Hitlerjungen mit wehendem Hakenkreuzwimpel, mit Sturmmütze auf dem Kopf und Dolch am Gürtel. Kallmeyer, dessen NS-Wirken noch nicht genügend erforscht worden ist, sah sich also keinesfalls als überrumpelter Deutscher, sondern eher als früher Wegbereiter der Musikkultur, die jetzt hauptsächlich – und nicht nur durch Wolfenbütteler – Straßen aggressiv marschiert wurde.

Auf einen anderen Wolfenbütteler Literaten ist schon hingewiesen worden: Ernst Kahl, Wirt in Antoinettenruhe, den man auch als dichtenden Gastwirt bezeichnete, hatte 1930 ein Buch über seine Rückkehr an die Front des 1. Weltkrieges herausgegeben; der Völkische Beobachter rezensierte beglückt: „Schlicht und einfach schildert Kahl die Eindrücke, die 12 Jahre später an der ehemaligen Front auf ihn wirken. Aus allem klingt das Empfinden des deutschen Mannes heraus, eines Mannes, der an der Front wieder Frontsoldat wird. (…) Daraus spricht deutsches Gemüt, deutsches Herz und deutsche Seele.“

Kahl hatte aber nicht nur die Front besucht, sondern sich auch in das in ihm Ekel erzeugende Pariser Nachtleben gestürzt: „Ich sehe das Tanzgewoge. Alles ist international. Neger klam-mern sich an weiße Frauen. Triumph liegt in ihren Blicken. Weiße Frauen verlieren sich an Schwarze. Japaner, Chinesen, Inder, Australier, Südamerikaner, Russen, Neger – alles tanzt – alles fiebert in sexueller Begierde.“ Eine deutsche Frau stellte er sich anders vor: „Ich brauche eine Frau, die mir Kamerad, Freund, Weib und Geliebte sein kann. Ich brauche einen Menschen mit unbestechlicher Treue und ehrlichem Schaffenswillen. Ich brauche einen Menschen, der in allen Lebenslagen rückhaltlos zu mir steht – einen Menschen, der weiß, wie teuer selbstverdientes Geld ist und wie es gewertet werden muß, ich will und kann glücklich machen; aber ich brauche auch Liebe – viel Liebe – restlose seelische und körperliche Hingabe – aus „Du und Du“ muß ein Wir werden.“ Der Gastwirt der Wolfenbütteler Nazi-Waldkneipe Antoinettenruh hatte Ende der zwanziger Jahre schon verstanden, wie die deutsche reinrassische Ehezukunft aussehen sollte: „Mit einer Frau muß ich die Gesundheitsatteste austauschen können, eher gehe ich keine Ehe ein – nie.“ Warum er bisher nicht geheiratet hatte, konnte der damalige Leser an einer anderen Stelle vermuten: „Wie uns die Heimat empfing, ist ein Kapitel für sich. Ehrenvoll ist es nicht. (…) Die Heimat war uns entfremdet. Unfähige und Unmündige hielten unsere Plätze besetzt. Überall stießen wir an. Wir waren geächtet. — Minderwertige Kreaturen schacherten um Schiebergewinne. Minderwertige Kreaturen hatten von hochwertigen Frauen Besitz genommen. Die Not war stärker als der menschliche Widerstand. Und wir hatten nicht die Kraft, diesem Gesindel den Schädel einzuschlagen.“ Wäre Hitler eine Frau gewesen, hätte er in ihm/ihr vielleicht die Erfüllung seiner sexuell-seelischen Träume gesehen. Über den schrieb er das folgende Gedicht „Adolf Hitler“:

“Stahlharten Willen bei hellem Blick,
meisterst du weitschauend deutsches Geschick.
Mutig bekennend, furchtlos in Tat,
förderst nie rastend du friedliche Saat.
Glauben erfüllend großdeutsches Land,
schaffst du für alle mit sorgender Hand.
Klarer Gedanken ehernes Recht
bewahrt dir sicher ein freies Geschlecht.
urdeutsch die Seele, volktreu dein Herz,
bist du der Mittler in Freuden, in Schmerz.
Führer des Volkes, nie Herrscher allein:
so stehst du für uns! Wir stehen mit ein.“

Kahl, der erst am 1. April 1936 in die NSDAP eingetreten war, stand aber schon sehr früh zu Hitler. In einem Lebenslauf von 1937 vergaß er nicht zu erwähnen, mit der urdeutschen Seele Hitler bereits 1930 (und 1935) eine „persönliche Fühlungnahme“ gehabt zu haben. Er entstammte einer Familie, die Gaststätten bewirtschaftete. Geboren 1896 in Lüneburg, aufgewachsen in Hannover-Linden, wechselte er wegen der beruflichen Flexibilität häufig die Schulen; welchen Schulabschluß er errang, war dem Lebenslauf nicht zu entnehmen. Von 1910 bis 1913 lernte er Kolonial- und Feinkosthändler in Bad Harzburg, arbeitete in seiner Gehilfenzeit im Einzel-, Groß – und Außenhandel und meldete sich gleich im August 1914 freiwillig zur Armee: Die nahm ihn, den wehrhaften 18jährigen nicht an: „zurückgestellt wegen Überzahl“, aber seine beiden Brüder, vergaß er nicht zu erwähnen, waren „bereits dabei“.

Während die Erläuterung seiner beruflichen Entwicklung über nur ein paar Zeilen geschah, holte er tüchtig aus, als er seine nur zweijährige Militärzeit darstellte: Was er vom August 1914 bis zu seiner Einziehung zum Kriegsdienst im März 1916 getan hat, ließ er offen: Eingezogen als Kanonier zum Fuß-Artillerie-Regiment 18 nach Metz; Schießschule in Wahn bei Köln; Ab 11.11.1916 im Westen an der Front bis 11.11.1918; Gasvergiftung 1917 – wie sein Führer – in Flandern; im Dezember 1918 Entlassung in Kassel und sofortige Meldung und Annahme bei der „Eisernen Batterie“. Kriegserfolg: Vizefeldwebel mit „guter Führung“, EK II, Verwundeten-Abzeichen und Frontkämpfer-Kreuz. Ab 1920 arbeitete Kahl dann im väterlichen Betrieb Antoinettenruh und arbeitete sich vom „Hausdiener zum Geschäftsführer“ hoch. Unerwähnt läßt er nicht, dass der Familienbetrieb bis 1933 von den Wolfenbütteler Linken „boykottiert“ wurde: „und dennoch durchgehalten.“ Der Veteran trat dem Stahlhelm bei und heiratete schließlich im November 1936, mit Attest der Ehefrau und rassischer Reinheit, anzunehmend.

Im Dezember 1933 beantragte er die Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller, bestätigte seine „arische Abstammung“ und erklärte sich bereit, „jederzeit für das deutsche Schrifttum im Sinne der nationalen Regierung einzutreten und den Anordnungen des Reichsführers des R.D.S in allen den R.D.S. betreffenden Angelegenheiten Folge zu leisten.“ Viel „deutsches Schrifttum“ konnte er zu jener Zeit noch nicht angeben, immerhin aber zwei Bürgen aus Wolfenbüttel, darunter den bereits bekannten Oberstudiendirektor Dr. phil. Ferdinand Naumann, NSDAP-Mitglied (Nr. 3.167.083) seit dem 1. Mai 1933. 1937 beantwortete Kahl einen Fragen der Reichsschrifttumskammer, gab zu, 1931 „ganz kurz“ Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller gewesen zu sein; „nach Erkenntnis“, behauptete er militärisch knapp, „ausgetreten, darauf Nationaler verband Deutscher Schriftsteller“. Als er dann 1942 die Aufnahme in die Kammer beantragte, konnte er schon eine intensive Mitarbeit in vielen „Medien“ belegen: Neben der notorisch-nationalsozialistischen BTZ, einigen anderen Lokalzeitungen, aber auch in der „Wirte-Zeitung“, „Der SA-Mann Niedersachsen“, „Der SA-Mann Gruppe Südwest“ und in der Wolfenbütteler Kriegszeitung „Heimat und Front“.

Nachdem Ernst Kahl 1954 nach längerer Krankheit gestorben war, veröffentlichte die Zeitschrift des Braunschweiger Weisenhauses einen Nachruf: „(…) Denn Ernst Kahl war nicht nur Kaufmann und Wirt eines historischen Ausflugslokals, er war auch Dichter. Vor dreißig Jahren führte das damalige Braunschweigische Landestheater in den Kammerspielen im Schloß sein Schauspiel „geprüfte Generation“ auf. Unter demselben Titel veröffentlichte er auch einen Roman. Später las man Reiseberichte, Gedichte und anderes von ihm. (…) In den Herzen aller, die ihn kannten und zu schätzen wußten, wird der Heimgegangene weiterleben.“

Ein anderes Buch, erschienen, als Kahl seine volkdeutschen Empfindungen im Wald vor Wolfenbüttel in die Schreibmaschine kämpfte, hätte er aufgrund seiner sexuellen Probleme lesen sollen, hat es aber, wahrscheinlich nicht getan. Es handelt sich um das Buch „Liebes- und Eheleben“, einem praktischen Berater für die „gesunde und harmonische Ehe sowie für sexuelle Not-Fragen“. Die Herausgeber waren das Ehepaar Fried. Dr. phil Paul Fried war seinerzeit Leiter der Eheberatungsstelle Wiesbaden. Das Buch erschien 1929 im Verlag der Freude Wolfenbüttel bei Georg Koch und Paul Zieger. Die Autoren erteilen auf 230 Seiten Ratschläge und Erläuterungen zur gesunden Partnerschaft und zur Sexualität, die mit damals gebräuchlichen Begriffen die Erkenntnisse des aktuellen Wissenstandes vermittelten. Der Autor als Laie dieser Thematik, der das Buch 1994 noch auf einem Braunschweiger Flohmarkt kaufen konnte, fand darin keine provozierenden Thesen, die jetzt, in der Nazizeit, dieses in der Lessingstadt erschienene Buch als „liberalistisch oder marxistisch verseuchtes“ – und damit undeutsches Machwerk – auf den Flammenindex der Kulturbereiniger vermerken mußte; tatsächlich wurde es auch nicht verbrannt. Es enthält Sätze wie diese: „An Stelle der Sonderung der Geschlechter oder einer Geist und Körper verzehrenden Askese tritt die Freiheit, die durch tiefe Naturerkenntnis zu einer verinnerlichenden Seelen- und Rassenkultur führt.“ Oder zwei Sätze, die, weil sie nicht eindeutig genug sind, auch nicht Nazikonform waren: „Im allgemeinen liegen gegen Eheschließungen auch da, wo nicht kerngesunde Ahnen aufzuweisen sind, keine Bedenken vor, denn kein Mensch ist völlig frei von ererbten Krankheitsveranlagungen. Doch ist folgendes festzuhalten: Syphilis und Tuberkulose, beide im sekundären Stadium, Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Morphonismus machen Vorsicht zur Pflicht. Man ziehe die Eheberatung oder den Hausarzt zu Rate.“

Angesichts der neuen „Erbgesundheitspolitik“ des Dritten Reiches hätte hier ein eindeutiges NEIN gestanden. Wer das Buch schließlich beim Reichsinnenministerium denunzierte, möglicherweise auch wegen seiner offenen Sprache in sexuellen Dingen, ist nicht bekannt. Jedenfalls schrieb das Reichsinnenministerium dem Braunschweiger Staatsministerium, das Buch entspreche in keiner Weise der „nationalsozialistischen Auffassung vom Liebes- und Eheleben“ und sei daher geeignet, “der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik entgegen zu wirken“. Das Buch müsse deshalb beschlagnahmt und alle noch vorhandenen Bestände eingezogen werden.

Über den zukünftigen „Eros im Dritten Reich“ hatte sich gut ein Jahr vorher in der Weltbühne Alice Ekert-Rotholz lustig gemacht: „Was ist die Liebe der Zivilisten? Ein Dreck. Eine Sache für Mottenkisten. Der neue Eros ist deutscher Unteroffizier! Liebe wird Dienstpflicht! Und in den Freistunden fließt Blut und Bier.“
Vorausschauend schrieb sie in ihrem Gedicht „Das Reglement“:
Denn die Liebe dient in bessern Diktatur-Staaten
nicht etwa der Erzeugung von Lyrik oder unkontrollierter Lustgefühle –
Sie dient der Herstellung von Soldaten.

Da die „Weckung des Willens zum Kind“ oberstes Ziel der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik war und die Frieds das bolschewistische Moskau als Beispiel für Kinderverhinderung herausstellten, hatte das Buch keine Überlebungschance. Fast auf den Tag genau, als das Verbotsschreiben aus Berlin in Braunschweig eintraf, befaßte sich die Lokalzeitung mit der Thematik. „Nicht jedes Kind ist ein Treffer“: „Erfordert schon die Erhaltung der Volksquantität mindestens drei bis vier Kinder je Ehe, so ist zur Bewahrung und Hebung der Qualität unbedingt eine noch größere Kinderzahl vonnöten.“

Diese und vielleicht noch andere Grundlagen nationalsozialistischer Sozialethik hatten die Beamten der Wolfenbütteler Gewerbepolizei im Kopf, als sie auftragsgemäß den Verlag zur Freude aufsuchen wollten, um dem Begehren des Berliner Innenministers nachzukommen. Doch zu ihrer Überraschung fanden sie keinen Verlag mehr und erfuhren von ihren Kollegen im Einwohnermeldeamt, dass Georg Koch ausgeschieden war und der noch alleinige Inhaber, Paul Zieger, jetzt in Braunschweig wohnte. Als die Braunschweiger Polizei den Verleger aufsuchte, fand sie bei ihm noch 500 Exemplare. Gegen die Beschlagnahme legte der Besitzer Einspruch ein, die wies das Innenministerium kurz darauf als unbegründet zurück.

Anzunehmen ist, dass die Bücher vernichtet wurden, vielleicht wurden sie sogar verbrannt; mindestens ein Exemplar ging den Nazis durch die Lappen, es steht jetzt mit auffälligen Gebrauchsspuren im Bücherregal des Autors, ganz in der Nähe eines anderen Buches eines Wolfenbütteler Autors, das Polizei nach dem Ende der Nazizeit beschlagnahmte und den Schreiber sogar vor Gericht brachte: Der Schriftsteller heißt Werner Ilberg, und das Buch war sein erster veröffentlichter Roman, in dem der jüdische Autor die Wolfenbütteler Zeit vor der „Machtübernahme“ der Nazis beschreibt.

Mit der Erinnerung an das an den Schandpfahl geschlagene Buch des Karl Christian Friedrich Niedmann, der die kleine Herzogstadt zu dem geschrieben hatte, was sie damals war, was sie jetzt im 33iger Jahr ist und was sie nach 45 noch sehr lange blieb: Krähwinkel – möchte sich der Autor der aktuellen Bücherverbrennung nähern.

Immerhin hatte die Herzog August Bibliothek, vielleicht um ihre Gleichschaltung mit dem neuen Staat zu dokumentieren, eine Sonderausstellung veranstaltet. Unter dem Leitgedanken „Tausend Jahre deutsches Schrifttum“ waren Werke von „besonders starkem nationalen Gehalt zusammengestellt worden: Handschriften und Erstdrucke deutscher Dichter von Otfried von Weienburg bis zur braunschweigischen Dichterfamilie Huch und von Verkündern des deutschen Gedankens in Religion und Staat, darunter die Werke der deutschen Mystiker und die Flugschriften der Befreiungskriege.“ Ein Werk durfte quasi als Abschluß des 1000jährigen Dichtens und als Zäsur vor weiteren 1000 Jahren Worte-Zusammenfügens nicht fehlen: Die „schon selten gewordene Erstausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ von 1925 und 1927″.

Bereits am Tag nach Hitlers Geburtstag hatte die BTZ ihre Leser auf das Ereignis „Wider den undeutschen Geist“ eingestimmt und die Bereinigung der Bibliotheken und privaten Bücherschränke von dem „zersetzenden Gift“ der Juden begründet: „Der jüdische Geist, wie er sich in der Welthetze in seiner ganzen Hemmungslosigkeit offenbart und wie er bereits im deutschen Schrifttum seinen Niederschlag gefunden hat, muß ebenso wie der gesamte Liberalismus ausgemerzt werden. Die deutschen Studenten wollen aber nicht allein leeren Protest erheben, sie wollen bewußte Besinnung auf die volkseigenen Werte.“

Diese Absicht hatten sie in zwölf Thesen formuliert, die darauf hinausgingen, den angeblichen Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum zu eliminieren und die „Reinheit von Sprache und Schrifttum“ dem Volk zur „treuen Bewahrung“ zu übergeben. Doch vorher mußten die Juden weg; der Scheiterhaufen auf dem Braunschweiger Schloßplatz kann durchaus als der Einstieg in die Produktion der Auschwitzer Verbrennungsöfen angesehen werden. Heinrich Heine: „Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch Menschen.“

So wies die 4 These eindeutig auf den „schärfsten Widersacher“ hin, „dem Juden“ und dem, „der ihm hörig“ ist. Die fünfte These merzte Lessings Freund, Moses Mendelssohn, aus: Der hatte doch dafür gelebt, den Juden die deutsche Sprache und Kultur, die ihnen von den Christen verwehrt wurde, näher zu bringen; und nun, nur ein paar Hundert Meter von Lessings Grab entfernt sollten Flammen die Ausmerzung seiner Freunde ankündigen: „Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter. Der Student, der undeutsch spricht und schreibt, ist außerdem gedankenlos und wird seiner Aufgabe untreu.“ Dieses Hinabstossen des Geistes in die Kloake dummer Intelligenz und mörderischen Überlebenswillens einer kompromißlos-überheblichen Gruppe von Menschen, die sich „rassenrein“ wähnte, hätte Nathan mitreißen müssen; aber dazu waren sie dann doch zu feige: das Lessinghaus anzustecken und das nach ihm benannte Wolfenbütteler Theater in „Goebbels-Theater“ umzubenennen. Sie nahmen ihn hin, mit einigen Abstrichen, verbrannten nicht seine Bücher, doch verfolgten seinen Geist. Über Bücherverbrennen berichten, ohne Lessing dazu zu befragen, hieße in Wolfenbüttel und Braunschweig das Verhaltens einiger Historiker kopieren, Momentaufnahmen aus der Geschichte herauszureißen.

Lessing hatte einst in der „Heydenreichs Leipzigischen Chronik“ geblättert und seinen Blick auf eine Stelle aus dem Jahr 1567 gerichtet: „Anno 1567 den 13ten Januarii, hat der Scharfrichter zu Leipzig auffen Markt ein Buch, die Nachtigall genannt, darinnen die Judicia und Gericht mit Schmehworten hart angegriffen werden, öffentlich verbrannt und die, so sie feil gehabt, ausgepaucket.“ Ihn packte die Neugierde, mehr über den Inhalt der Nachtigall zu erfahren. Er durchsuchte einige Verzeichnisse vergeblich und selbst Andreas Westphal, „der eine eigene Dissertation von Büchern geschrieben, die auf Befehl der Obrigkeit verbrannt worden, selbst Schelhorn, der diese Arbeit des Westphal durch viele Zusätze erweitert hat, ließen mich unbelehrt von sich.“

Er wollte „sonach eben wieder eine von den Jagden beschließen“, als er sich besann, nicht nach Hinweisen auf das Buch, sondern es selbst zu suchen. Schon bald hatte er Erfolg: „Zwar nicht völlig so, wie ich es suchte, aber doch auch nicht viel schlechter. Ich fand es nämlich nicht so, wie es verbrannt worden; nicht gedruckt: sondern ich fand unter unseren Manuskripten Abschriften davon, und deren nicht weniger als drei.“

So rettete er die Nachtigall, obwohl er deren poetischen Wert als klein einschätzte. Aber er hielt sie für „eine Seltenheit, die allein schon wert ist, da ich es wage, aus einer Nachtigall einen Phönix zu machen, der aus seiner Asche jünger und schöner wieder hervorsteiget“. Die „Nachtigall“ sang unter anderem von der „trübseligen Belagerung der gewaltigen Festung Grimmenstein und weltberühmten Stadt Gotha“, und die „sogenannten Grumbaschen Unruhen“, die er als „sehr wichtige Händel nicht einer einzelnen Stadt, nicht einer bloßen Provinz, sondern des gesamten Reiches“ ansah.

Ohne sich für eine Seite entscheiden zu wollen, reizte es den Wahrheitssucher, herauszufinden, warum ein Buch zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Seine Einschätzung der Absichten treffen auch heute noch zu: „Hoffentlich bin ich der Meinung nicht allein, dass es auf alle Weise erlaubt ist, ein von Obrigkeitswegen, auch aus den triftigsten Gründen, verbranntes Buch wieder herzustellen. Denn ein solches Verbrennen hat die Absicht nicht, das Buch gänzlich zu vernichten: es soll diese Absicht nicht haben; es kann sie nicht haben. Es soll und kann allein ein öffentlicher Beweis der obrigkeitlichen Mißbilligung, eine Art von Strafe gegen den Urheber sein. Was einmal gedruckt ist, gehört der ganzen Welt auf ewige Zeiten. Niemand hat das Recht, es zu vertilgen. Wenn er es tut, beleidigt er die Welt unendlich mehr, als sie der Verfasser des vertilgten Buches, von welcher Art es auch immer sei, kann beleidigt haben.“

Aus der Bibliothek, der 1928 die SPD-Landtagsabgeordneten Lessings Namen geben wollten, aber an der bürgerlichen Mehrheit scheiterten, zurück in die Kloake vor dem Braunschweiger Schloß: Mit These sechs wollten die Lügner der völkischen Kultur die „Lüge ausmerzen und den Verrat brandmarken“. Mit These sieben wollten sie zwar „den Juden als Fremdling achten“, forderten aber eine rassistische Zensur: „Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch, so sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. Schärfstes Einschreiten gegen den Mißbrauch der deutschen Schrift. Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt.“

Lassen wir die weiteren Thesen, die die Auslese von Studenten und Professoren forderten und die deutschen Hochschulen in einen „Hort des deutschen Volkstums und als Kampfstätte aus der Kraft des deutschen Geistes“ verwandeln wollten. Gotthold Ephraim Lessing war noch einmal davongekommen; doch ein anderer Lessing, der Hannoversche Schriftsteller und Philosoph Theodor Lessing, längst ins Exil geflüchtet, ermordeten Nazis drei Monate später im tschechoslowakischen Marienbad.

Der Autor besitzt ein Buch, 1981 erschienen, in dem 1.973 Gesetze, Verordnungen, Verbote und Anweisungen – die Sammlung des Sonderrechts für die Juden im NS-Staat – in eindrucksvoller Weise zusammengefügt sind. Es waren Diskriminierungen, gültig im Reich, in Ländern oder Städten, aus denen, weil öffentlich, der deutsche Staatsbürger hätte entnehmen müssen, dass eine „Achtung der Fremdlinge“ nicht beabsichtigt war: Wie kann man einen „Fremdling“, woher auch immer, achten, wenn man ihm das Recht der deutschen Sprache nicht zugesteht? Bis zum 10. Mai 1933 waren bereits 100 dieser Widerlichkeiten erlassen worden. Nr. 100, am 10. Mai durch den Stellvertreter des Führers erlassen, enthielt die Fortführung des Boykotts vom 1. April: „Die Schilder „Deutsches Geschäft“ werden nur an arische Firmen nach dem vom NS-Deutschen Wirtschaftsbund und der Selbsthilfe-Arbeitsgemeinschaft der SA gemeinsam aufgestellten Bedingungen gegen Jahresgebühr verliehen.“

Am Abend vor dem Feuer trafen sich die Flammen-Studenten in Holst Garten zu einer Kundgebung mit dem aus München erschienenen Dr. Groß, dem fanatischen Antisemiten, der gerade das Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege aufbaute und in Braunschweig bereits die „Todesstunde des europäischen Judentums angekündigt hatte“.

In der Aula der TH hielt Professor Dieckmann einen Vortrag zum Thema „Das Judentum“. Das wurde zwangsläufig eine Suada übler Verleumdungen die in der Forderung gipfelte: „Jeder einzelne muß dafür sorgen, daß aus dem Leben des deutschen Volkes alles das verschwindet, was als artfremd bezeichnet werden muß.“ Die BTZ veröffentlichte die „schwarze Liste“ der selektierten Bücher aus den Bereichen „Belehrende Abteilung, Schöne Literatur und Politik und Staatswissenschaften“.

Für die „Razzia gegen den undeutschen Geist“ hatten die Nazi-Studenten, und nicht nur sie, vor dem Schloß einen Scheiterhaufen aus fast Tausend Büchern errichtet. Darunter befand sich auch das Buch von Erhart Kästner, dem späteren Direktor der Herzog August Bibliothek und Nachfolger Herses: „Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit. Eine dichtungs-geschichtliche Studie über die Formen der Wirklichkeitserfassung.“ (Dissertation von 1929) Nun, die Verbrennung dieses Buches, das wahrscheinlich keiner der zündelnden Studenten je gelesen hatte, war daher nur aus Unkenntnis in die Verbrennung geraten. Auf der Katalogkarte hatte verkürzt E. Kästner gestanden, und da Erich Kästner (ausgenommen Emil und die Detektive) mit verbrannt werden mußte, erhielt der spätere Wolfenbütteler die „Ehre“, ein Werk mit NS-Verbrennungsspuren zu hinterlassen.

In vollem Wichs marschierten die studentischen Korporationen zum Schloßplatz und stellten sich um das Hochschulbanner, das „von Kommilitonen in der braunen Uniform getragen wurde“. Der Vorsitzende der Studentenschaft, cand Lindenberg, charakterisierte besonders jüdische Schriftsteller „vom Schlage eines Karl Marx, Foerster, Remarque, Wolff, Bernhard und Kerr, und überantwortete mit eigener Hand eines der Bücher dem Feuer“.

Alles was die Wolfenbütteler Zeitung hierüber berichtete, kann nur als Pflichtübung angesehen werden; der Verleger Wessel war aus beruflichen und politischen Gründen kaum dafür, Bücher zu verbrennen, und seine Haltung zu den Juden entsprach in keiner Weise der offiziellen Lage. Zurückhaltend formulierte die Redaktion, die der Schriftstelle Meyer-Rotermund leitete: „In Durchführung der Aktion wider den undeutschen Geist wurden anhand der sehr umfangreichen schwarzen Listen aus der Bibliothek der TH, der öffentlichen Bücherei und Lesehalle und der Schulbibliotheken ganze Berge von Büchern ausgemerzt und auf dem Schloßhof angeliefert, wo sie am Mittwochabend verbrannt wurden. Es handelt sich um parteipolitische (marxistische) Werke und um solche, die eigentlich ohne parteipolitisch zu sein, doch Grundsätze lehren, die dem deutschen Geist widerstreben.“

Bevor der Autor die Wolfenbütteler Bücher verläßt, über die sich natürlich noch viel ausgiebiger nachdenken, recherchieren, vermuten und aufschreiben läßt, soll noch ein Blick auf die Herzog August Bibliothek geworfen werden.

Die Direktoratszeit Herses bezeichnet Dr. Georg Ruppelt, stellvertretender Direktor in den neunziger Jahren, als “die Zeit des Niederganges der Bibliothek, wie sie ihn in ihrer Jahrhunderte alten Geschichte bis dahin nicht gekannt hatte“. Der Grund hierfür hat viele Ursachen: Nach der Revolution war das Haus, das manche auch als das siebte Weltwunder bezeichnen, in die Auseinandersetzung zwischen dem Herzoghaus und dem Freistaat Braunschweig geraten: Man stritt sich um die Besitzrechte. Das Prunkstück des kleinen Staates wurde einer Stiftung unterstellt, was zu finanziellen Problemen führte. Die sozialen und dann politischen Verhältnisse und der Krieg führten zu Konsequenzen; der nur noch verwaltende Bibliotheksdirektor wollte oder konnte keine Visionen entwickeln, mit denen die Zukunft auf der Vergangenheit hätte weiterentwickelt werden können.

Herse „scheint der herrschenden politischen Partei wohlgesonnen gewesen sein. Von beson-deren politischen Aktionen der Bibliothek oder in der Bibliothek ist jedoch nichts bekannt“. Am „Aufbau des nationalsozialistischen Staates“ habe sie sich nur auf Anforderung von parteiamtlicher oder staatlicher Seite beigetragen. Der Ankauf nationalsozialistischer Literatur sei aus dem Dublettenverkauf ermöglicht worden. Immerhin betrieb Herse trotz der Einigelung etwas Öffentlichkeitsarbeit. Die WZ eröffentlichte mehrfach Listen über Neuerwerbungen – sogar mit der Aufforderung, sie auszuschneiden. Darin finden sich die NS- Standardwerke: Moeller v. d. Brucks „Das ewige Reich“, Julius Streichers „Das Jahr der Deutschen“ und „Reichsparteitag in Nürnberg“, Fritschs widerliches „Handbuch der Judenfrage“, Kummers „Die Rasse im Schrifttum“, Schemanns „Die Rasse in den Geisteswissenschaften“ und viele andere mehr, so auch Bücher von Rudolf Huch; aber auch: Ricarda Huchs „Im alten Reich“, Wallers „Lessings Erziehung des Menschengeschlechts“, Werke von Wilhelm Raabe, Hermann Löns und Fontane und „Die liebe kleine Herzogstadt“ von Meyer Rotermund.

Aus den Dubletten mußte die Bibliothek 426 Werke an die SS-Reichsführerschule Wewelsburg günstig verkaufen; der „Reichsnährstand kaufte 87 Werke des 18. und 19. Jahrhunderts“, wofür auch immer. Positiv zu vermerken ist die Übernahme der Bibliothek der Samson-Schule als Depositum, „zu der auch ca. 600 alte Drucke von einigem Wert in hebräischer Sprache“ gehörten. Herse habe diese Bestände dem „nationalsozialistischen Zugriff“ entzogen, indem er bezügliche Anfragen „über den Wert der Sammlung als gering angab und die Existenz der alten hebräischen Drucke überhaupt verschwieg“. Ruppelt bemerkt dazu: „Inwieweit sein Verhalten im Zusammenhang mit der Bibliothek der Samson-Schule als eine Art Widerspenstigkeit zu betrachten ist, kann hier nicht beurteilt werden; es ist jedoch zu bezweifeln, dass es sich dabei um einen politisch motivierten Widerstandsakt handelte.“

Die von den Nazis als jüdische oder sozialistische bezeichnete Literatur mußte abgesondert werden. Sie durfte nur mit Genehmigung parteiamtlicher Stellen benutzt werden. Die Rassenpolitik schlug sich nieder in Anfragen, die sich vorzugsweise auf Ahnen- und Sippenforschung oder auf die Geschichte der Juden im Braunschweiger Raum bezogen.

Der Autor glaubt, einen Hinweis zu letzterem gefunden zu haben: Die Braunschweiger Tageszeitung veröffentlichte im Februar/März 1938 eine fünfseitige Serie über „700 Jahre Juden in Braunschweig“. Der Autor, Karlwalther Rohmann, stellte die Geschichte der Braunschweiger in einer stürmerähnlichen Art dar, derzufolge alle Juden schlimmste Verbrecher waren. Er kam nach seiner Art Aktenstudium, das er möglicherweise auch in der Herzog August Bibliothek betrieben hat, zu folgendem Schluß: Jetzt, im sechsten Jahr nach der Machtergreifung habe sich verschiedenes geändert. Würde man, so Rohmann, den „Greuelmeldungen“ mancher Auslandszeitungen glauben, müßten auch in Braunschweig keine Juden mehr wohnen: „Wir alle wissen aber, daß wir – leider! – nach wie vor Juden unter uns haben und daß ihnen kein Haar gekrümmt wird. Ja, die Zahl der hier wohnenden Juden hat sich noch nicht einmal wesentlich verringert. Sie gehen ihren Geschäften nach, und für sie gibt es keine Judenfrage. Damit befassen wir uns, das ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht. Doch hat die Beschäftigung mit diesem Problem nichts mit Pogromvorbereitungen zu tun, ebensowenig wie dies Ziel und Zweck dieser Aufsatzreihe ist. Wir Braunschweiger im besonderen sind bewundernswert geduldig gewesen zu allen Zeiten, obschon man uns eine Unsumme an Falschheit, Betrug und Verbrechen jeder Art von jüdischer Seite beschert hat. Wir haben mancherlei erduldet – aber wenig gelernt; nun ist es an der Zeit, daß wir aus dem Erduldeten für die Zukunft lernen.“

Nun soll hier keinesfalls auf die vielen Einzelheiten eingegangen, die Rohmann sich heraus-gesucht hatte, um die angebliche Kriminalität und Blutrünstigkeit aller Juden zu beweisen. Einige seiner „Belege“ sind mit dem 1987 erschienenen Buch von Hans-Heinrich Ebeling, „Die Juden in Braunschweig“, anders darzustellen. Vor allem aber belegt Ebeling die gesellschaftliche Bedeutung jüdischer Einwohner für die Entwicklung der Stadt, die Rohmann natürlich bewußt als zutiefst kriminellen Raubzug gegen die immer nur guten und sauberblütigen Braunschweiger darstellte. Obwohl Rohmann es abstritt, damit Pogromhetze zu betreiben, tat er genau das. Und genau so sah die Taktik der Nazis aus: Das Gegenteil von dem behaupten, was sie zur gleichen Zeit taten. In seinem Rausch stellte Rohmann eine These auf, die wohl aufgrund ihrer Absurdität sogar die Nazis nicht weiter aufgriffen.

Als 1844 der Meinungskampf zwischen orthodoxen und reformwilligen Juden einem Höhepunkt zutrieb, schlug Ludwig Philippson, Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums, Braunschweig als Versammlungsort für eine Konferenz der Rabbiner Deutschlands vor. Der Braunschweiger Magistrat begrüßte die Durchführung der Versammlung, und das Staatsministerium erteilte eine Genehmigung. Die Ergebnisse der Konferenz sollen „mager“ gewesen sein, hauptsächlich deswegen, weil nur Vertreter einer gemäßigten Reform mit den Anhängern radikaler Erneuerungen stritten und die konservative und orthodoxe Richtung des Judentums gar nicht erschienen war. Immer tauchten danach eine Fülle von Flugschriften auf, die einen Klärungsprozeß zwischen orthodoxen und fortschrittlichen Positionen brachte.
Der Chronist der BTZ machte aus dieser ersten Zusammenkunft deutscher Rabbiner, wie seit Jahrhunderten üblich, eine Verschwörung gegen das deutsche Blut: „Die Rabbis wurden mit einem schwungvollen Begrüßungsgedicht empfangen, in dem ungeschminkt die Ziele des Weltjudentums genannt werden. Ja, es scheint, als ob man derzeit Braunschweig als Keimzelle des Vernichtungskampfes ansah.“

Das muß die richtigen Nazis und Antisemiten nun wahrlich provoziert haben: Die Nazi-Keimzelle Braunschweig (mit Wolfenbüttel als Urzelle, wohlgesagt) erfuhr nun, der Ursprung allen jüdischen Übels der neueren Zeit sei zwischen den Fachwerkfassaden Alt-Braunschweigs gediehen, die „Schmarotzer am deutschen Blut“ hätten hier ihre Pläne zum vollständigen Raub des deutschen Reiches ausgeheckt; der Verfasser veröffentlichte übrigens auch Einwohnerzahlen jüdischer Bürger: Die Zahl habe sich von 296 Juden im Jahr 1855 auf 720 im Jahr 1910 „stetig erhöht“; 1871, als nach Rohmann die Juden-Einwohnerzahl Braunschweigs bereits die Höhe von 394 Menschen erreicht hatte, wohnten in der Stadt 57.883 Menschen. Eine wahrlich furchterregende Bedrohung, hätte man fürchten müssen, wäre man so unmenschlich verbohrt gewesen wie der Verfasser.

Da der Autorr, wie der Leser bis hierher gemerkt haben mag, anders als viele Historiker arbeitet und nicht nur Ereignisse oder Fakten mit eigenen Worten erwähnt, sondern sie dem Leser zur eigenen Beurteilung anbietet, hier der Text des Begrüßungsgedichtes, das nach Ansicht des Mitmenschenhassers Rohmann „an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ“:

Seidt allesamt gegrüßt, Ihr rüst’gen Streiter, auf heil’gem Schlacht-Gefild;
Ermattet nicht, o kämpfet muthig weiter: Euch deckt des höchsten Schild.
Des Geistes Fackel einmal angezündet, wird leuchten immerdar,
Bis vor dem reinen Himmelsglanz entschwindet der nächt’gen Geister Schaar.
Und ist zur Erndte reif die Saat geworden, die ihr jetzt ausgesträut,
So eilet dann vom Süden und vom Norden zur Welfenstadt wie heut!
Der heil’ge Kampf, hier hat er angefangen, hier laßt uns einst begeh’n
Das Siegesfest – und sind wir heimgegangen, lasst’s unsere Kinder sehn.

Die Judenemanzipation, die das Gedicht besang, bezeichnete Rohmann als das von den „Freimaurern gestützte Zersetzen des deutschen Volkstums“; wieviel Braunschweiger er mit diesem Unsinn überzeugte, konnte man einige Monate später, am 9. November 1938, in den Synagogen Wolfenbüttels und Braunschweigs und in den Wohnungen jüdischer Bürger beobachten. Ach ja: Rohmann publizierte nach 1945 munter weiter. Er starb 1984 in Braunschweig. Vier Bücher aus seiner Nachkreigsfeder sind in der Herzo August Bibliothek ausleihbar.

Zehn Tage nach der Bücherverbrennung berichtete die WZ über die „Neugestaltung der Volksbüchereien“, was auch nichts weiter war als die Gleichschaltung der Kataloge. Neben der schwarzen Liste erstellten die „maßgeblichen Stellen in Berlin“ eine sogenannte goldene Liste mit jener Literatur, „die bisher in diesen Büchereien überhaupt nicht vertreten war und die nun neu angeschafft bzw. künftig überhaupt mehr in den Mittelpunkt der Arbeit der Volksbüchereien gerückt“ werden sollte: „Da die verantwortlichen Stellen entschlossen sind, nun nicht nach der anderen Seite über das Ziel zu schießen und eine neue geächtete Literatur zu schaffen, die der Verteidigung wert wäre, beweist die Tatsache, dass bei der Aussonderung immerhin bedeutende Einschränkungen dort zugebilligt werden, wo zwar aus allgemeinen politischen Gründen ein Autor abgelehnt wird, wo aber bei Alfred Döblin, Kasemir Edschmid, Heinrich Mann, Jakob Wassermann u.a. einzelne Werke ausdrücklich von der Verfemung ausgenommen werden.“

Tatsächlich entkamen der Verfemung Wassermanns Werke : „Gänsemännchen, Juden von Zirndorf, Caspar Hauser“ u.a.. Autoren wie Brecht, Tucholsky, Feuchtwanger, Seghers, Schnitzler hatten überhaupt keine Chance mehr. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler erwartete von den Buchhändlern, dass sie diese und weitere „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind“. Aus der belletristischen Literatur „entfernten“ die braunen Kulturreiniger besonders gern jene Autoren, die die Geschichte des letzten Krieges im „pazifistischen oder defätistischen Sinne behandelten“: Remarque, Egon Erwin Kisch, u.a. Und nach der Befreiung nach 1945 sammelten die Alliierten Bücher mit NS-Tendenz ein – sind sie verbrannt worden?

Quellen:
Ruppelt/Solf (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibliothek, WF, 1992
Ruppelt Georg, Die Herzog August Bibliothek zwischen 1933 und 1945, erschienen in:Bibliotheken während d. Nationalsozialismus (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens)
Jarck/Scheel, Braunschweigisches Biographisches Lexikon, Hannover 1996
Kallmeyer, Georg, 25 Jahre Deutscher Verlags Buchhändler, Wolfenbüttel 1938
Wolfenbütteler Zeitung (WZ)
Braunschweigische Tageszeitung (BTZ)
Kahl, Ernst, Geprüfte Genaration, Berlin/Leipzig 1930
Zeitschrift des Freundeskreis des Großen Waisenhauses, Braunschweig, Nr. 11, August 1954
Document Center Berlin
Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel
Fried, Paul und Emilie, Liebes und Eheleben, Wolfenbüttel 1929
Das Wort, Heft 2/1936 und: Lessing, G. E., Werke, München 1973
Walk, Josef (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 1981
Wistrich, Robert, Wer war wer im Dritten Reich?“, Fischer Taschenbuch 1987
Kuhn, Michael, Verbrannte Bücher, Braunschweig 1993
Roloff (sen), E.A, Tausendjähriges Braunschweig, Braunschweig 1943