Ausbildung nur für die „Waffen SS“?
Heinrich Heine: Buch der Lieder, LVIII Die Heimkehr Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben. Der weiß das Leben zusammenzusetzen, Und er macht ein verständlich System daraus; mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbaus.
Im Dezember 2009 erschien in Braunschweig ein weiteres Buch zur NS-Geschichte.
„SS Junkerschule, SS und SA in Braunschweig„
Das Buch ist im Appelhans Verlag, Braunschweig, erschienen.
Autor: Kiekenap, Bernhard
ISBN 9783937664941
456 Seiten
Preis ca. 15€
Kiekenap, Jahrgang 1930 und ehemaliger Hitlerjunge, spanne einen „Bogen von der Gründung der SS und SA über Röhmputsch und Himmlers Herrschaftsbereich bis hin zu den Kämpfen der SS-Junker bei Kriegsende im Osten – all das stets mit Blick auf Braunschweig“. Auch die damalige NS-Prominenz dieser Region werde präsentiert. Sieht man von der kritisch erscheinenden Äußerung Schimpf’s ab, Kiekenap differenziere zwischen Waffen-SS („mildes Licht“) und der KZ-Mörder-SS, schreibt Schimpf das Buch zu einem Werk hoch, dass auch noch in einem Jahrhundert „als Nachschlagewerk“ dienen könne.
Öffentlich vorgestellt wurde das Buch in einer sehr gut besuchten Veranstaltung im Foyer des Landesmuseums. Gerd Biegel durchschweifte das Werk und seinen Autor in der ihm eigenen Wortfülle. Ich glaubte, zwischen seinen Zeilen ab und zu eine kritische Tendenz herauszuhören. Kiekenap sprach dann selber, über mörderische Schandtaten der Nazis, über SS-Strukturen und einzelne ehemalige SS-Personen mit ihrer erfolgreichen Integration in die Bundesrepublik. Im Zusammenhang mit der nach Polen verlegten Junkerschule hörte sich eine oder die andere Aussage schon mal an wie die Kriegserzählung eines ehemaligen Landsers. Hier schrammten dann, jedenfalls aus meiner Sichtweise, Aussagen Kiekenaps an leichter Beschönigung vorbei. Wenn ich hier mit meiner Einschätzung falsch liegen sollte, so möchte ich doch behaupten, dass sich Kiekenap mehrfach mindestens so missverständlich oder fahrlässig ausgedrückt hat, dass ich diese Ausführungen eher als beschönigend oder herabmildernd einordnete. Sein Buch enthält viele derartiger Aussagen.
Nicht nur die Buch-Vorstellung hat mich enttäuscht, sondern das Buch ebenfalls. Ich hatte mehr Braunschweig-Kolorit – besonders zur SS-Junkerschule (Anmerkung 1) – erwartet, konkret z.B. Hinweise auf die SS-Junker, die in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 (auch) die Wolfenbütteler Synagoge durch Brandstiftung zerstört hatten. Eine führende Rolle der SS bei den Novemberpogromen in Hannover und Braunschweig räumt der Autor ein, geht aber nur mit allgemeinen Äußerungen kurz auf die Situation in Braunschweig ein (Seite 42) und zu Hannover (S. 44/45) mit einem Hinweis auf den SS-Mann Kurt Benson. (Anmerkung 98) Ein Hinweis z.B. zu den Publikationen von Marlis Buchholz über die Vernichtung der jüdischen Hannoveraner fehlt. Die Frage, ob Teilnehmer oder Absolventen der Braunschweiger SS -Ausbildungsstätte später nicht nur in der Waffen-SS waren, sondern auch in den Ermordungseinheiten und den Einheiten, die in Konzentrationslagern und anderen Mordstätten zum Einsatz kamen, scheint Kiekenap nicht gestellt zu haben.
Zu Ereignissen dieser Art, die dem SS-Zentrum Braunschweig entsprungen waren, bietet das Buch nicht genug. Ob der Autor versucht hat, Vorgänge dieser Art durch seine Gespräche mit ehemaligen SS-Männern herauszufinden, erfährt man nicht. Laut Kiekenap hat es offenbar eine Verbändelung der Junkerschule zu schlimmen Vorgängen in und um Braunschweig kaum gegeben, eher zu als „Nahkampfdielen“ bezeichneten Lokalen, in denen Kontakte zur weiblichen Bevölkerung gesucht wurden.
Vor allem hatte ich eine ausführliche Beschreibung der Vita und der Mordtaten des Braunschweiger SS-Generals Jeckeln erwartet. Was der Autor über ihn berichtet, halte ich für nicht ausreichend.
Das Buch enthält – da kann ich Schimpf zustimmen – viele Fakten, die in dieser Art bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. Es enthält aber auch Inhalte, die hier – z.B. Harzburger Front – in dieser Ausführlichkeit nicht mehr notwendig gewesen wären. Bei der Thematik Braunschweiger SA greift Kiekenap Inhalte auf – z.B. die Stahlhelmkrise, die schon bekannt sind. Auch hier wird die Rolle des Stahlhelmführers Werner Schraders erneut hauptsächlich auf seine Nazi-Kritik reduziert, zu den Steigbügelhalter-Aktivitäten des Wolfenbütteler Lehrers schweigt Kiekenap.
Es ist ein interessantes, allerdings mit kritischer Vorsicht zu lesendes Buch. Es ist detailreich. Ob alle Aussagen „wissenschaftlich“ belegbar sind, wage ich zu bezweifeln. Quellenangaben, besonders aus dem Internet, benutzt der Autor zum Teil willkürlich, ungenau und manchmal auch nicht nachvollziehbar.
Das Buch hat 254 Seiten, davon 188 Textseiten (inclusive Fotos und Illustrationen) – und 50 Seiten Anmerkungen und Anhang. Auf allein 88 Seiten (Seite 115 – 203) dokumentiert der Autor die Verlegung und die Kriegsbeteiligung der nach Polen verlegten SS-Junkerschule Braunschweig.
Der Aussage Schimpfs, das Buch könne auch noch in einem Jahrhundert „als Nachschlagewerk“ dienen, möchte ich widersprechen. Die missverständlichen und verkürzten Aussagen – vielleicht sind sie auch schlicht fahrlässig – ohne Hinzuziehung weiterer Literatur könnten in Hundert Jahren zu falschen Auslegungen führen. Trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruches, den Kiekenap sich zulegt, ist seine Arbeit nicht vergleichbar mit letzten zu NS-Braunschweig erschienenen Publikationen z.B. von Ludewig, Fiedler und Kuessner, u.a..
Anmerkung 1:
Die Braunschweiger Tages-Zeitung berichtete am 1. Juli 1935 ganzseitig über die Übergabe der „Reichsführerschule der SS“ durch Ministerpräsident Klagge an den Reichsführer SS Heinrich Himmler. Die Überschrift drückte das Programm der Ausbildungsstätte aus: „Soldaten und Nationalsozialisten“. Himmler sagte u.a.: „Die Schule ist nun SS-Schule und hat die Aufgabe, deutsche Menschen zu SS-Führern und politischen Führern heranzubilden.“ Und zu den neuen „Schülern“: „Vergeßt auch weiterhin nicht, daß ihr hier als Nationalsozialisten seid! Ihr sollt hier soldatisch erzogen werden. Soldaten und Nationalsozialisten zugleich werden, und mit dem Rüstzeug, das ihr hier bekommt, versehen, werdet ihr eure Pflicht erfüllen. Das erwartet euer Führer, das erwartet die Bewegung und erwarten vor allem die alten Kämpfer der Bewegung von euch!“
Wachen vor dem Eingang zum Schloß.
Das Bild mit der Unterschrift „SS-Führerschule im ehemaligen Schloß“ ist dem Buch „Braunschweig in Bildern – Gesichter einer deutschen Stadt“ entnommen. Das Buch mit schwarzweiß-Fotografien der alten und der neuen Stadt, aufgenommen von Hilde Brinckmann-Schröder, wurde 1941 vom Städtischen Verkehrsverein Braunschweig herausgegeben.