Das Erste jahr der Diktatur
In Würzburg erschien 1995 Ingeborg Bayers Buch “Ehe alles Legende wird“ über den “Nationalsozialismus in Deutschland von Weimar bis heute“. In ihrem Vorwort zitiert sie einen ehemaligen KZ-Häftling: “Und eines Tages werden die, die es erlebt haben, nicht mehr dasein, und niemand wird mehr wissen, wie es war, es wird alles nur noch Legende sein.“
Das erste Jahr der Diktatur in Wolfenbüttel 1933
Runde Jubiläen werden zum Anlaß genommen, der Wiederkehr bestimmter Ereignisse zu gedenken. Das Jahr 2008 bietet 75 Jahre nach der Erlangung der Macht durch die Nationalsozialisten eine Fülle von Gedenktagen, an denen Demokratie und Menschlichkeit zerstört worden sind. Nicht nur einzelne ihrer Bedeutung wegen herausgehobene Anlässe förderten den Niedergang deutscher Kultur und Humanität. Es waren auch scheinbar banale Begebenheiten zwischen diesen bekannten Geschehnissen, die Menschen zu positiven Haltungen gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur beeinflussten. Über einige eher nicht in die Geschichtsschreibung eingehenden Vorkommnisse soll hier berichtet werden.
Auch 75 Jahre nach dem Beginn der Diktatur sind immer noch Sympathien für das Dritte Reich latent. Diese offenbar nicht auszurottenden Neigungen sind auch 75 Jahre danach im alltäglichen Leben zu begegnen. Der Hinweis, z.B. in Braunschweig die nach der NS-belasteten Dichterin Agnes Miegel benannte Straße (u.a.) umzubenennen, führte zu einschlägigen Leserbriefen in der Braunschweiger Zeitung. Ein Briefschreiber bezeichnete das Nachdenken darüber als Denunziation. (15.3.08)
Aufgrund eines Aufrufes der Wolfenbütteler Redaktion der BZ, Vorschläge zur Benennung neuer Straßen zu machen, schickten Leserinnen und Leser eine Reihe von Vorschlägen. Dabei waren Namen von drei ehemaligen jüdischen Wolenbüttelern (Gustav Eichengrün, Leopold Zunz und Samuel Meyer Ehrenberg), aber auch zwei Männer, deren Nähe zum Nationalsozialismus erhebliche Bedenken auslösen muß. Eine Leserin schlug Ernst Kahl für eine Straße vor. (1.4.08) Kahl war in Wolfenbüttel als Gastwirt und dichtender Heimatpoet bekannt. Ihm und seiner Familie gehörte die Ausflugsgaststätte Antoinettenruh, in der vor und in der Nazizeit die meisten NS-Feiern stattfanden. Als Poet war Kahl der Hofdichter der Nazis, dessen Gedichte, auch Hitlergedichte, bei NS-Aufmärschen rezitiert wurden.
Ein Leser nannte Wernher von Braun als Namenspatron und wies gleich darauf hin, dass man dem Raketenforscher „aus Unkenntnis die damaligen Verhältnisse im 2. Weltkrieg ankreide“. (1.4.08) Wie andere Flugzeuge, Panzer und Kriegsschiffe gebaut hätten, habe Wernher von Braun eben die V 2 entwickelt. Für die „Unterbringung der Fremdarbeiter in Nordhausen sei er nicht verantwortlich gewesen.“ Merkt der Leser etwas? Der Leser, der sich als ehemaliger Mitarbeiter des Raketenbauers in den USA zu erkennen gab, bezeichnet die KZ-Gefangenen in Nordhausen verniedlichend als „Fremdarbeiter“, und dass es sich um ein schlimmes KZ (Dora Mittelbau bei Nordhausen) handelte, erwähnt er gar nicht erst. Und dann dieser Satz: „Berühmte Soldaten“, so der Schreiber, „scheiden infolge des gegenwärtigen Zeitgeistes aus, weil Deutschland im Gegensatz zu allen anderen Ländern den Einsatz des eigenen Lebens für das Vaterland nicht honoriert.“ Nur in Deutschland werde „totgeschwiegen“. So gehe das „Land der Dichter, Denker, Forscher, Erfinder“ mit seinen „Großen“ um. Tendenz: Eindeutig!
Eine Braunschweigerin regt sich auf der Leserseite (3.4.08) über eine Äußerung eines Redaktionsmitglieds auf, der geschrieben hatte, „… größtmögliche Freiheit auf der Leserseite, im Zweifel stets für den Leser entscheiden!“
Die Leserin schreibt dazu: Der Satz könnte ihr „ein Kichern entlocken, wäre nicht der Eva-Herman-Effekt in der Braunschweiger Zeitung viel zu ernst, so nach der Maßgabe, bloß nichts Positives, auch andeutungsweise nicht, über die NS-Zeit äußern oder äußern lassen! Wer Positives fand, war entweder – und ist – selbst Verbrecher gewesen oder ein hoffnungslos geprägter Idiot, nicht wahr?
Wissen Sie eigentlich, was Sie mit diesem „Klappehalten und raus“ da eigentlich anrichten? Wenn Sie in Ihrer arroganten jüngeren Überheblichkeit doch endlich jene Zeit nicht immer und überall aus der Jetzt- und Hier-Zeit her nicht beurteilen, nein, aber doch wenigstens sehen zu können sich bemühen würden!“
Dieses ist eine Auslese von nur einigen Tagen. Seit Jahren erscheinen ähnliche Inhalte. Umso wichtiger ist es, in Ausführlichkeit an die Nazizeit zu erinnern, mit dem „Ersten Jahr der Diktatur“ soll hier begonnen werden.
Aktuell:
In der Nacht vom Pfingstsonntag zum Pfingstmontag 2008 beschädigen 4 Personen das jüdische Denkmal am Rosenwall in Wolfenbüttel.
Antiquarisch erstand ich gerade ein Taschenbuch mit dem Titel „Gefährliches Lachen, Schwarzer Humor im Dritten Reich“. Das Buch enthält viele Bleistiftnotizen- und Anmerkungen, die darauf schließen lassen, dass der Vorbesitzer ein NS-Sympathisant war. Z.B. neben diesem Witz:
„Was gibt es für neue Witze?“
“Sechs Monate KZ!“
Die Anmerkung: „Heute gibt es für den “deutschen Gruß“ 6 Monate Gefängnis.“
Wie schnell und unbeabsichtigt man in eine ungewünschte Aura gelangen kann zeigte der Kultur-Flohmarkt am 18.6.08 im Wolfenbütteler Schlosshof: An einem Bücherstand lagen neben dokumentarischer Literatur über das Dritte Reich auch einige Bücher der Nazi-Original-Literatur und -Propaganda aus, z. B. von Artur Axmann „Olympia der Arbeit“ mit einem innen vermerkten Verkaufspreis von € 170.
An Leserinnen und Leser aus Wolfenbüttel und Umgebung habe ich zwei Bitten: Ich suche Fotos aus der hier beschriebenen Zeit. Ich bin selbstverständlich gern bereit, Vertraulichkeit zu wahren.
Ebenfalls suche ich Hilfe beim “Übersetzen“ von Dokumenten, die in Sütterlin geschrieben sind. Ich habe Sütterlin zwar noch in der Schule gelernt, beim Lesen einiger Dokumente habe ich allerdings große Schwierigkeiten. Wer kann mir ehrenamtlich helfen?