Demokratie Ende II


Fortsetzung kommunale Selbstverwaltung

Bevor über den ersten Zusammentritt des neuen Stadtparlaments berichtet wird, soll Curt Mast vorstellt werden, der nach 1945 zu den maßgeblichen Kommunalpolitikern der Stadt und des Landkreises Wolfenbüttel gehörte und zur Gruppe der damals ins Geschichtsbild passenden Wirtschaftskapitäne gerechnet werden kann. Seinen politischen Werdegang hat er 1947 in einem einseitigen Lebenslauf beschrieben:
Als 21jähriger mußte er 1918 nach dem Tode seines Vaters die Firma W. Mast übernehmen. Seine frühe wirtschaftliche Selbständigkeit erlaubte ihm ein intensives Interesse an der Politik. Er wurde ein begeisterter Anhänger Stresemanns, der „s.Zt. den linken Flügel der Deutschen Volkspartei führte“: „Als junges Mitglied dieser Partei habe ich bereits 1924 auf Wahlvorschlägen kandidiert und bin 1929 erstmalig zum Stadtverordneten der Stadt Wolfenbüttel gewählt. Weiter war ich fanatischer Anhänger der Friedensbewegung und seit 1924 Mitglied der Freimaurerloge „Wilhelm zu den 3 Stühlen.“
Die Angaben zur kommunalpolitischen Karriere treffen nicht ganz zu und sind vielleicht auch nur Ausdruck mangelnder Gedächtnisleistung. Kommunalwahlen fanden 1925 statt, 1928, 1931 und schließlich 1933, als bekanntermaßen nicht gewählt, sondern nur ernannt wurde. 1928 errang er kein Mandat bei den Wahlen, sondern erhielt es erst als Nachrücker.

Soldat sei er zu „keiner Zeit gewesen“, habe aber trotz mehrfacher Wirtschaftskrisen nach dem 1. Weltkrieg sein Unternehmen „durch alle Schwierigkeiten“ hindurchgeführt und es verstanden, durch erstklassige Qualität sein Unternehmen zu einem der angesehensten der Branche in Deutschland zu machen“. Dem ist nichts entgegenzusetzen, das stimmt. Mast fährt fort: “Politisch war mein ganzes Bestreben, zwischen den radikalen Parteien ausgleichend zu wirken, denn nur darin sehe ich eine günstige Befruchtung für die Wirtschaft und das Wohlergehen meines Vaterlandes. Anfang April 1933, also 9 Wochen nach der sogenannten Machtübernahme Hitlers, fanden nochmals Reichs-, Landtags- und Kommunalwahlen statt, bei welcher Gelegenheit ich den Mut aufbrachte, gemeinsam mit dem Zentrum, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei einen Wahlvorschlag einzureichen und wurde als Listenführer als einziger gewählt. Während der Naziherrschaft bestand meine vornehmste Aufgabe darin, den politisch Bedrängten und Verfolgten jede nur denkbare moralische und finanzielle Unterstützung zu gewähren.“

Das, was der zukünftige Bekannte Ludwig Erhards hier auftischt, kann, weil es weitgehend falsch und übertrieben ist, nicht mehr einem schlechten Erinnerungsvermögen zugeschrieben werden. Mast hat mit den Angaben über die Wahlen konkrete Geschichtsverfälschung begangen, die auch noch von der Presse übernommen wurde. Anläßlch seines Todes 1970 schrieb der Schriftleiter der Wolfenbütteler Zeitung, Bernhard Praclic, über ihn: „1928 wurde der von der deutschen Volkspartei aufgestellte Curt Mast erstmalig Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, und er wurde 1933 als einziger Kandidat der von der Bürgerlichen Mitte gegen die NSDAP präsentierten Liste erneut zum Ratsherrn gewählt, mußte aber unter dem Druck der damaligen Machthaber schon nach wenigen Monaten aus dem Stadtparlament ausscheiden.“

Zu behaupten, er habe mit Mut gegen die NSDAP kandidiert, trifft nun gar nicht zu. Die Nazis hatten den rechten Parteien ausdrücklich erlaubt, nein, nicht zu kandidieren, sondern Listen einzureichen: Mast wählten somit keine Wähler. Obernazi Kurt Bertram ernannte ihn, weil er auf der eingereichten Liste obenan stand. Es stimmt ebenfalls nicht, dass die Liste der Bürgerlichen Mitte auch Demokraten beinhaltete: Die eingereichte Liste mit mehreren Namen trägt die Überschrift „Wahlvorschlag Bürgerliche Mitte (Deutsche Volkspartei/Deutsche Zentrumspartei) und ist von Mast selbst unterschrieben. Dass er nach wenigen Monaten „unter dem Druck der damaligen Machthaber“ aus dem Stadtparlament ausscheiden mußte, kann nur als klare Lüge bezeichnet werden. Die Hinweise des angeblichen Nazi-Gegners zu den „politisch Bedrängten“ wird durch seine Rolle beim Erwerb geraubten jüdischen Grundstücksvermögens ad absurdum geführt. Allerdings hat sich Mast, als das Ende der Nazizeit abzusehen war, für seinen politischen Gegner Otto Rüdiger eingesetzt, der in einem Konzentrationslager einsaß.

Den Termin für die erste Stadtverordnetenversammlung legte Staatsbeauftragter Hämerling auf den 4. Mai fest. Die Tagesordnung enthielt mit nur 6 Punkte: Neben Formalien sollte der Vorsitzende gewählt werden, die Ratsmitglieder und vor allem „Reichskanzler Adolf Hitler zum Ehrenbüger der Stadt“.

Auf dem Stadtmarkt musizierte bereits eine Stunde vor Beginn der Sitzung die Standartenkapelle. Die neuen Stadtverordneten, die alle ein „Braunhemd“ trugen, sammelten sich im alten Sitzungssaal des Rathauses, während draußen die Zahl der wartenden Menschen ständig anwuchs. Kurz vor 17 Uhr, begleitet von einer SA-Abteilung und der Musik, „traten die Männer den gemeinsamen Gang nach dem Sitzungssaal im Schlosse an“. Der Sitzungssaal war reichlich geschmückt: Mit Hakenkreuz- und Reichsflagge als Hintergrund „blickte aus frischem Grün das Bildnis des Volkskanzlers“ auf die neuen Mandatsträger herab. Hämerling begrüßte in einer kurzen Ansprache die endlich gekommene Zeit, da nur noch „Braunhemden die Plätze“ der Versammlung inne hätten. Es werde auch nicht mehr lange dauern, bis ein neuer Bürgermeister die Geschicke der Stadt in die Hand nehmen würde.

Alterspräsident Sanitätsrat Dr. Heller übernahm den Vorsitz und regelte die einstimmige Wiederwahl von Heinrich Bode. Seinen Stellvertreter wählte das Gremium schon nicht mehr, das regelte Bode allein: Er bestimmte Kaufmann Schulze und ernannte Appuhn zum Schriftführer. Immerhin wählten die Verordneten noch den dreiköpfigen Rat der Dezernenten: Mit Hämerling, Knochenhauer und dem zubestimmten Kaufmann Kurt Schauroth gab es nun endgültig ein Leitungsgremium, dessen Einigkeit vorbestimmt war. „Die Wahl der Ausschüsse“, schrieb die WZ nüchtern, „schloß sich an und zwar ohne langes Palaver, ein jeder trat an die Stelle, die ihm zugewiesen war“. Curt Mast trat in fünf Ausschüsse ein und lag, bewertet man die Anzahl der Mitgliedschaften als Rangfolge, im oberen Drittel aller Abgeordneten. Danach erhob sich Heinrich Bode zu einer seiner notorischen Ansprachen: „Der parlamentarische Unfung hat nun aufgehört. Die sozialdemokratischen Führer haben in erbärmlicher Feigheit ihre Wähler im Stich gelassen. An ihre Stelle ist nun ein Mann getreten, der es verstanden hat, alle Gegensätze im Volk auszuschalten und eine Brücke zur wahren Volksgemeinschaft geschlagen hat. Der Klassenhaß ist verschwunden. Mögen auch viele mit nicht viel Liebe zu den Nationalsozialisten gekommen sein, sie sollen aber erfahren, daß der wahre deutsche Geist bei uns herrscht. Ich hoffe, daß sie sich nach einiger Zeit auch innerlich zum Nationalsozialismus bekennen werden.“

Weil dieses alles gerade mal eine halbe Stunde dauerte, konnte Wilhelm Gebhardt zum wohl wichtigsten Ereignis dieses Tages kommen. Er würdigte Hitler und sprach von Liebe und Verehrung der Braunhemden zu diesem Mann, mit dem er selber 1923 eine Unterredung gehabt habe. Er forderte die Versammlung auf, dem „verehrten Führer“ das Ehrenbürgerrecht der Stadt zu verleihen. Die braunen Männer antworteten nicht mit einem schlichten Ja oder einem erhobenen Arm, wie es ja nun im ganzen Leben gang und gebe wurde, sondern stimmten stattdessen das Horst-Wessel-Lied an.

Die Mitteilung über diese Ehre verschickte Bode mit einem Telegramm, das den Wortlaut hatte: „Die rein nationalsozialistisch zusammengesetzte Stadtverordneten-Versammlung der im Frühlingsschmuck prangenden Lessingstadt Wolfenbüttel hat in ihrer ersten feierlichen Sitzung nach der Gleichschaltung vereint mit dem Rate der Stadt beschlossen, dem in unveränderlicher Treue verehrten Führer das Ehrenbürgerrecht der Stadt Wolfenbüttel zu verliehen. Gleichzeitig bitten wir, die Annahme des Ehrenbürgerrechtes zu erklären und einen Termin zur Empfangnahme des Ehrenbürgerbriefes zu bestimmen.“

Aber das war noch nicht alles: Als ein Angebinde für den Volkskanzler stand ein großes Ölgemälde bereit, das Kunstmaler und Zeichenlehrer Wilhelm Reinecke aus der Mittelschule Harzstraße geschaffen hatte. Es stellte ein Wolfenbütteler Oker- und Fachwerkidyll dar, das in der Stadt als „Klein Venedig“ gehandelt wird. Auf der Rückseite stand eine Widmung: „Zum 20. April 1933 gewidmet von der ältesten Ortsgruppe der NSDAP Norddeutschlands.“ Die WZ schloß ihren ausführlichen Artikel: „Dann noch ein kurzes „Sieg Heil“ für den Reichspräsidenten und auf das deutsche Vaterland und mit dem Deutschlandliede fand die historische Sitzung ihren Abschluß; sie gab ein überzeugendes Bild davon, wie in den kommenden Jahren in dieser neuen Gemeinschaft gearbeitet werden wird.“

Hitler, der z.B. keine Ehrendoktortiel annahm, ließ mit einer Antwort lange auf sich warten, und die heimliche Erwartung, er würde deswegen extra Wolfenbüttel besuchen, erfüllte sich nicht: Im Oktober konnte Bode in einer Sitzung endlich das Antwortschreiben vorlesen: „Die Verleihung des Ehrenbürgerrechts von Wolfenbüttel erfüllt mich mit aufrichtiger Freude. Ich nehme die Ehrenbürgerschaft an und bitte, dem Stadtrat und der Stadtverordnetenversammlung meinen ergebensten Dank sowie meine besten Glückwünsche für das Blühen und Gedeihen von Wolfenbüttel aussprechen zu dürfen. Mit deutschem Gruß, Adolf Hitler.“

Endlich konnten die alten und neuen Kämpfer den Glanz ihres Führers mit ihren braunen und schwarzen Uniformen präsentieren: Wenn nicht schon persönlich in Wolfenbüttel – auf einen Besuch des Ehrenbürgers mußten sie noch einige Jahre warten – so war der nationalsozialistische Mief aus Terror, rassischer und politischer Überheblichkeit, Verachtung menschlichen Lebens gepaart mit pathetischer Unterwürfigkeit und allen denkbaren negativen menschlichen Eigenschaften befruchtet mit dem Geist eines des größten zukünftigen Verbrechers der Menschheitsgeschichte. In der Stadt Lessings veröffentlichte die Lokalzeitung ein Gedicht der Bürgerin Louise Selwig, das die Bereitschaft miterleben läßt, wie man dem Führer und seinen Paladinen entgegen und hinterher kroch:

„Als Ehrenbürger unseres Wolfenbütteler Städtchens bist Du hochwillkommen;
Wir danken Dir, dass gnädig Du verbrieftes Recht von uns hast angenommen.
Es dünket uns, als ob seitdem die Sonne die Hitlerfahnen roter strahlt,
Als ob auf spitze Giebeldächer Mondesglanz jetzt helleres Licht und tiefere Schatten malet,
Du findest auch denkwürdige Gesellschaft in dem kleinen, alten Neste,
Wenn sie auch nicht mehr wandelt in den Straß’n unserer schönen Feste.
Komm auf den Markt mit mir, dort schauest Du des Herzogs August Bronnen;
Der Fürst steht dort, wie Du, in seines Landes Zukunft tief versonnen.
Nach schweren Kämpfen schenkt des Friedens Quelle seinem Land aufs neue geist’ge Güter:
Kunst, Wissenschaft, Kultur und er wird sein wie Du, ihr treuer Hüter.
Komm auf den Schloßplatz jetzt, dort siehest Du der Welfen altes Stammeshaus;
Der schlanke Turm als Wächter schaute eins im Mittelalter blu’ger Fehde Strauß.
Hier weht auch Lessings Geist, der, so wie Du, die Dichtkunst von dem welschen Einfluß frei gemacht hat,
Das glückliche der Jahre seines Lebens mit der Weggenossin hier verbracht hat,
Und den man wie Dich, bekämpft, verhöhnt, verlacht hat.
Auch Wilhelm Busch seh ich im Geist an der berühmten Ecke stehen,
Wie er uns tolle Kinder amüsiert mit seinen wunderbaren Augen angesehen.
Ich wende mich und komme in ganz krumme, winklich „Alte Nester“,
Sofort erschau‘ ich einen, der für seine Kleiderseller war ihr allerbester.
Ich brauche unsern Wilhelm Raabe, der in Tiefe grub, wie Du, wohl kaum zu nennen,
Und ich weiß, daß man in Deutschland jetzt und künftig ihn wird recht erkennen.
Auch einer Frau gedenk‘ ich, Anna Vorwerk’s, ihrer selbst gebauten Schule große Leiterin,
Die so, wie Du, für alles Ideale war geniale Streiterin.
Frau Musika hat manchen Geisteshelden uns geschenket:
Prätorius, Rosenmüller, andere Namen findet man, wenn man sich in die alte Bücherei versenket,
Und wenn man der noch heute Lebenden gedenket,
So Konrad Beste’s, der die Hand hebt zu dem Lorbeer, den die Kunst der Bühne schenket.
Komm her zu uns, genieße kurze Zeit den Zauber alter Kunst, das Weben der vergangenen, großen Geister.
Wir wissen, dass nur Du bist ihrer allergrößter Meister.“

(Über Louise Selwig berichtete die BTZ im September 1935, der Führer habe ihr während eines Urlaubs am Obersalzberg bei Berchtesgaden die Hand gereicht. Frau Selwig, ehemalige Leiterin des NS-Frauenchores war eine der ältesten Parteigenossinnen in Wolfenbüttel. In den “schlimmsten Kampfjahren“ sei sie mit der Absicht, sie zu bekehren, den Kommunisten in ihre Häuser gefolgt. Ihre Begegnung mit Hitler beschrieb die Zeitung als ein fast heiliges Erlebnis: “Und wer möchte nicht dieser alten Kämpferin die herrlichen Erinnerungen gönnen, um die sie dennoch jeder beneiden wird, der diese Zeilen liest? Lassen wir es gut sein und lieben wir unseren Führer stets genau so, wie sie es immer tat.) Bad Harzburg, die kleine Wolfenbütteler Konkurrenz am Harz, war mit der Verteilung ihrer Ehren schneller als die Stadt der vielen Dichter und Denker: Als „Geburtsstätte der nationalen Front“ baten ihre noch gewählten Bürger Hitler, Hugenberg und Seldte bereits Ende März auf einen Schlag, die Ehrenbürgerwürde anzunehmen. Hitler nahm die Würde an und antwortete bereits ein paar Tage später mit einem Text, den er fast wörtlich erst so spät den Wolfenbütteler hatte zukommen lassen.

Die gleichgeschaltete Stadtverordnetenversammlung Braunschweigs verlieh am Tag nach den Wolfenbüttelern ebenfalls Hitler, der hier immer noch polizeilich gemeldet war, diese bis jetzt seltene Ehrung, aber auch gleich dem lokalen Führerverschnitt Dietrich Klagges. Weil die Ehrungswünsche im ganzen Reich fast inflationäre Ausmaße annahmen, mußte schnell eine Regelung her. Der Führer-Stellvertreter Rudolf Heß erließ sie um den 8. Mai herum: „Alle kommunalpolitischen Fraktionen der NSDAP sind verpflichtet, die Genehmigung der Reichsleitung einzuholen, wenn Anträge auf Ehrung von Mitgliedern der nationalsozialistischen Bewegung (Verleihung des Ehrenbügerrechts, Straßenbenennungen usw.) eingebracht werden, sofern es sich nicht um den Führer selbst handelt. Die Reichsleitung erwartet, dass Nationalsozialisten die Annahme des Titels „Dr. ehrenhalber“ ablehnen, so wie ihn Adolf Hitler selbst bereits abgelehnt hat. Die nationalsoz. Führer haben sich ihren Namen aus eigenen Kraft geschaffen. Sie haben keine Veranlassung, vor ihn einen Titel zu setzen, der ohnehin durch Verleihung an die vor die Periode deutscher Ehrlosigkeit verantwortlichen Politiker an Wert verloren hat.“

Die Gleischschaltung der kommunalen Parlamente, die in Preußen wegen der gerade stattgefundenen Kommunalwahlen nicht durchgeführt wurde, lief in allen Kommunen sicher gleich ab. Die Bewertung dieser Vorgänge aus der Sicht späterer Ortshistoriker z.B in den im Landkreis Wolfenbüttel in den achtziger und neunziger Jahren erscheinenden Dorfchroniken ist sehr oberflächlich und reduziert sich oft auf undifferenzierte Aussagen von Absetzung des Gemeindevorstehers und Wegnahme der demokratischen Verhältnisse durch anonyme „Nationalsozialisten“. So heißt es in der Chronik des Wolfenbütteler Ortsteils Linden gar recht unhistorisch: „Mit Rücksicht auf noch lebende Angehörige oder namensgleiche Personen wird in dieser Chronik von einer namentlichen Nennung der Nationalsozialisten Abstand genommen: Sozialdemokraten oder Kommunisten werden allerdings offen mit Namen genannt.

Nicht nur einen Vogel schießt die Chronik des Dorfes Ahlum ab, die weitgehend ein ehemaliger Nationalsozialist verfaßt hat. Zur Gleichschaltung liest man dort: „Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 brachten mit Ausnahme des Wechsels des Vorstehers für Ahlum keine einschneidenden Änderungen, da es auch jetzt wieder wie in ähnlichen Fällen früher mit der der Landbevölkerung eigenen Sachlichkeit an die Beurteilung der neuen politischen Lage heranging. Vorsteher, oder wie es jetzt hieß, Bürgermeister wurde der Ackermann Alfred Wedderkopf, der seinen Posten bis zur Kapitulation nach bestem Können versehen hat und der Gemeinde durch die ihm eigene Ruhe schädliche Übertreibungen, wie sie an anderen Stellen durch politische Heißsporne sich ereigneten, ersparte. Dadurch blieb auch das in solcher Umschwungzeit gefährdete gute Einvernehmen in der Gemeinde erfreulicherweise erhalten.“

Natürlich war es nicht nur das Ziel der Nazis, alle Posten der Gemeinde- und Stadtverwaltungen zu besetzen, um so ihre Vorhaben durchzusetzen. Vielmehr bestand die Absicht, auch die kommunale Selbstverwaltung auf das Führerprinzip umzustellen, was schließlich mit der Einführung der neuen deutschen Gemeindeordnung Anfang 1935 geschah: „Jedes Wahlrecht wurde abgeschafft und alle Gemeindeorgane von den zuständigen Stellen berufen. Alleiniges Verwaltungsorgan war der Bürgermeister in voller und ausschließlicher Verantwortung. Er wurde von der Aufsichtsbehörde berufen. Seine Stelle wurde vorher ausgeschrieben, wobei die Bewerbungen nicht an die Gemeinde, sondern an den Beauftragten der Partei zu richten waren, der nach Beratungen mit den Gemeindeverordneten in nicht öffentlicher Sitzung drei Bewerber der Aufsichtsbehörde vorschlug.“

Der nach der Stadtverordnetenversammlung beginnende weitere Wandlungsprozeß und die von Hämerling angekündigte Suche nach einem neuen Wolfenbütteler Bürgermeister kann vielleicht unter einen Satz gestellt werden, den der Dresdner Oberbürgermeister Zörner in seinen Vorstellungen über die „Kommunale Selbstverwaltung im NS-Staat“ zitierte: „Wir Nationalsozialisten sind in den Sattel gesetzt – jetzt muß das Reiten begonnen werden.“ Der Sattel waren die Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, und das Reiten würde noch einige Monate dauern: „Es würde eine völlige Verkennung des von uns in all den Kampfjahren ersehnten Dritten Reiches bedeuten, wollte man die Machtergreifung vom 30. Januar 1933 oder irgendein anderes Datum des Jahres 1933 mit der endgültigen Schaffung des Dritten Reiches identifizieren. Das Jahr 1933 und das Jahr 1934 sind nicht das Sein des Dritten Reiches, sondern das Werden.“ (Rühle) Und diese Zeit war besonders geprägt von dem Prinzip, aus dem die erforderlichen Folgerungen für den zu festigenden NS-Staat gezogen wurden: „Es gibt nichts, was ihn nichts angeht.“

Zurück zu Zörner, der in Selbstverwaltung und Führerprinzip keinesfalls Gegensätze sah: „Im Gegenteil, beide gehören zusammen und ergänzen sich. Selbstverwaltung bedeutet Regelung der örtlichen Angelegenheiten durch die örtliche Instanz. Zum Unterschied von früher ist diese Instanz nicht mehr ein Stadtparlament mit Mehrheitsbeschlüssen, sondern an die Stelle von Abstimmungen tritt der Wille des Führers der Gemeinde, der die gemeindlichen Angelegenheiten unter eigener Verantwortung erledigt. Damit werden selbstverständlich die Anforderungen, die an den Führer der Gemeinde zu stellen sind, wesentlich größer.“ Allererste Voraussetzung sei, dass er alle Angelegenheiten im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung anfaßt und durchführt. Durch diese Veränderung sei auch ein Umbau der anderen Strukturen erforderlich: Die Stadtverordnetenversammlung als beschließendes Organ und die des Rates als ausführendes Organ dürften nicht mehr aufrecht erhalten bleiben.“

In Verkennung der auf sie zukommenden Umwälzungen hatten sich Mitte März noch die bereits längst abgesetzten Gemeindevorsteher aller braunschweigischen Landkreise in Goslar getroffen und einen Landgemeinde-Verband gegründet. Ihre Bekundung, sich tatkräftig am „Wiederaufstieg aus der deutschen Erniedrigung und aus dem über das deutsche Volk hereingebrochene soziale Elend“ zu beteiligen, mag gut angekommen sein; doch ihr Wille, „alle Angriffe auf ihre selbständige Verwaltung schärfstens abzulehnen“ zerschellte fast klaglos an nationalsozialistischer Entschlossenheit.

Doch nicht nur die Beharrlichkeit der schon-Nazis und der noch noch rechtzeitig in die Partei Eingetretenen führte zu diesen Exzessen gegen Toleranz und Menschenwürde, sondern auch der Riesenansturm weiterer Deutscher mit dem Willen, sich der Bewegung auf allen Ebenen anzuschließen: Sattel gab es inzwischen schon sehr viele, die Zahl der willigen Reiter vermehrte sich offenbar stündlich.

Um das öffentlich auch deutlich zu bekunden, trafen sich die städtischen Beamten am 19. Mai im Kaffeehaus zur Weihe ihrer neuen Fahne. Der Saal war geschmückt mit Grün der Lorbeer-bäume, duftendem Flieder und den Flaggen der nationalen Revolution und den Farben des Reiches und der Stadt. Ein Hitlerbild hatten die Organisatoren mit blauem Flieder umkränzt und schaute angeblich auf sämtliche Beamten der Stadt, deren Damen und die Ehrengäste hinunter. Das waren: Staatskommissar Hämerling, Stadtrat Schauroth und SA-Führer Hannibal sowie SS-Führer Keppler mit Stäben.
Zu Beginn sang der NSDAP-Frauenchor unter der Leitung der oben bereits vorgestellten Hitler-Lyrikerin, und Frau Bode hielt einen Prolog, dessen Inhalt nicht überliefert ist. Obersekretär Schlüter begrüßte die Erschienenen und erinnerte daran, dass der Beamte „14 Jahre lang mißbraucht worden war“; darüber, warum er sich so lange hatte „missbrauchen“ lassen, sagte er nichts. Nachdem die deutsche Beamtenschaft unter dem vergangenen Parteibuchsystem schwer gelitten habe, könne er sich nun wieder als wahrer Diener des Volkes fühlen; darüber, dass alle Beamten nun nur noch ein braunes Parteibuch besaßen, sagte er leider auch nichts. Er habe, wie es einem deutschen Beamten eben geziemt, immer „seine Pflicht getan, auch wenn ihm seine Herren nicht gefielen“. Und dann sagte er noch, die Fahnenweihe sei ein Bekenntnis zum Wohle der Stadt und des Vaterlandes: „Sich würdig zu zeigen des Volkskanzlers Adolf Hitler, reiche man allen Volksgenossen die Hände, und er bitte, sie nicht zurückzuweisen.“

Nun sang erst einmal das Quartett des Vereins für Männergesang, und als dann Staatsrat Kurt Bertram erschien, begrüßte man ihn mit Beifall, und obiger Schlüter lobte den Herrscher dieses Landkreises überschwänglich: „Wir bringen Ihnen das allergrößte Vertrauen entgegen, alle Ihre Handlungen sachlich und ohne Vorurteil anzunehmen.“ Und weil der kleine Beamte dann noch des Präsidenten und des Kanzlers gedachte, stimmten alle zwischendurch das Deutschlandlied an.

So war der Auftritt Bertrams gut vorbereitet. Blicke man ein halbes Jahr zurück, meinte er, müsse man angesichts der über alle Straßen wehenden Hakenkreuzfahnen von einem Wunder sprechen. Er ließ sich dann ausführlich über die Farben der alten und neuen Flaggen aus: Die Lützower Jäger, die andere Demokraten gewesen seien als die schwarz-rot-goldenen vom November 1918, hätten unter diesen Farben ehrenhaft gekämpft. Unter den „Novemberleuten“ jedoch, seien diese alten, ehrwürdigen Fahnen zum Symbol des Pazifismus geworden. Und das heilige Schwarz-weiß-rot, mit dem 2 Millionen Soldaten „ins Grab gesunken seien“, hätten die Nationalsozialisten während ihres Kampfes im Weimarer Staat nicht entehren wollen. So habe Adolf Hitler aus diesen Farben eine neue Fahne gestaltet, deren Symbolik er allerdings abweichend von Hitlers eigener Definition in “Mein Kampf“ beschrieb: „Rot als das Zeichen der Reinheit unseres Blutes und des sozialistischen Bekenntnisses, weiß als die Reinheit unseres nationalen Willens und das schwarze Hakenkreuz als Zeichen der Arbeit.“ Bertram übergab die neue Beamtenfahne dem Pg. Fähland zu treuen Händen, das Quartett sang das Horst-Wessel-Lied in einer Neuvertonung des Musikdirektors Ferdinand Saffe, und die Standartenkapelle spielte Tanzmusik.

Mitte Mai bestanden im Landkreis Wolfenbüttel bereits 36 Ortsgruppen der NSDAP, gerade war aus der einstigen NS-Zelle im ehemals roten Wittmar (Mai 33) eine Ortsgruppe geworden. So verhängte die Beamtenabteilung der NSDAP bereits im April eine Aufnahmesperre bis zum 15. Mai. Das sei durch den außerordentlichen Zustrom an Neuanmeldungen notwendig geworden. Die neu angemeldeten Beamten kämen alle aus dem nationalen Lager, Marxisten würden aber nicht aufgenommen. Ebenso wie bei der NSDAP verhängte auch die NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation, SA der Betriebe, nach der Zerschlagung der Gewerkschaften später in die deutsche Arbeitsfront eingegliedert) eine Mitgliedersperre. Die Zahl der Mitglieder habe bereits seit langer Zeit die Million überschritten, und angesichts dieses Andranges habe man organisatorisch nicht mehr nachkommen können: Die Aufnahmesperre, die bereits eingegangene Anträge nicht betraf, verfolge in erster Linie den Zweck, die organisatorischen Aufgaben durchzuführen, die sich aus der Umformung der Gewerkschaften ergäben.

Für neue Mitglieder, die in den ersten Monaten nach dem Januar 1933 in die Partei eintraten, gab es schon bald Spitznamen: März-Gefallene und Maihasen, zu denen auch der Unternehmer Mast gehörte. Anstatt, wie seinem Lebenslauf angeheftet, sich unter Druck zurückzuziehen, wirkte er engagiert mit, die kommunale Demokratie Schritt für Schritt zu eliminieren. Zur Stadtverordnetensitzung am 1. Juni legte Hämerling eine neue Geschäftsordnung vor, mit der die parlamentarische Arbeit weiter eingeschränkt werden sollte: „In einer Zeit, in der die Bedeutung fruchtloser Parlamentsdebatten anders beurteilt wird als früher, liegt es nun durchaus im Sinne der Entwicklung unseres kommunalpolitischen Lebens auf dem eingeschlagenen Wege einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und grundsätzlich für alle Angelegenheiten, die der Beschlußzuständigkeit der Stadtverordnetenversammlung auf einen einzigen aus ihrer Mitte gebildeten Ausschuß zu übertragen.“ Dieser Weg wird auch von dem Leipziger Oberbürgermeister Dr. Goerdeler in einem Aufsatz „Entwicklungstendenzen im Deutschen Kommunalrecht“ im Reichsverwaltungsblatt vom 27.5.1933 als für die heutige Zeit zweckentsprechend bezeichnet. Ein solcher Schritt bedeutet zugleich ein weiteres Glied in der Kette der Maßnahmen zu Gleichschaltung von Reich, Ländern und Gemeinden.“

Der Staatskommissar schlug also vor, den § 9 der Geschäftsordnung dahingehend zu ändern, am Anfang eines jeden Geschäftsjahres einen beschließenden Ausschuß, den Hauptausschuß, zu bilden – zusätzlich von Hauptausschüssen für spezielle Belange wie Stadtwerke, Landwirtschaft, Krankenhaus und Schlachthaus – und mit der Besetzung durch drei Stadtverordnete und zwei Ratsherren die Arbeit zu straffen. So geschah es auch, vier Wochen später trat Dr. Curland vom Amt zurück, weil er damit dem „berechtigten Wunsche aller Parteimitglieder Rechnung“ trage; er werde der Partei aber weiterhin seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Nachfolger wurde der Installateur Paul Kerle.

Ab Mitte Juli suchte Wolfenbüttel einen neuen Bürgermeister und anoncierte im „Vakanzen-Blatt“ nach einem Volljuristen mit Erfahrung im Kommunaldienst und einem Mindestalter von 35 Jahren. Nach Ende der Ausschreibung am 15. August wählten die Verantwortlichen aus 20 Bewerbungen den Stadtverordneten und Finanzbeamten Fritz Ramien aus. An der entscheidenden Sitzung der Stadtverordneten nahm auch der neue aus Helmstedt kommende Kreisleiter Herbert Lehmann teil, der nun ein „unseliges Kapitel“ Wolfenbütteler Geschichte und das „Kapitel Eyferth“ für abgeschlossen erklärte. Ähnlich ging er auch mit einem der selbstgewählten Attribute der Stadt um, die sich auch gern „Schulstadt“ nennt. Lehmann machte dazu klare Aussagen aus bodenständiger völkischer Sicht: „Das Schulwesen unserer Stadt ist eines der übelsten Kapitel. Die Stadt ist mit Schulen überzogen, und daher muß das Schulwesen neugestaltet werden. Schulsachen sind Sachen des Staates. Wir dürfen nicht so überheblich sein, um für jeden Preis Schulstadt heißen zu können. Der junge Deutsche kann auch in der Volksschule ein guter Volksgenosse werden, wenn er den Willen dazu hat. Übrigens muß nicht der beste Sohn des Handwerkers immer studieren, sondern er soll das Handwerk des Vaters fortsetzen. Dann wird auch das Handwerk wieder zu hohen Ehren kommen.“ Es werde, so fuhr er programmatisch fort, in Zukunft eine deutsche Einheitsschule geben, in der vorgeschrieben werde, „was den deutschen Jungen oder Mädchen frommt“.

Nun, mit dem neuen Bürgermeister, der nach der auf Braunschweiger Druck erfolgten Pensionierung Eyferths sein Amt antreten wird, könne gleich mit der Arbeit begonnen werden. Es folgte noch ein Loblied auf den Alleinregierer Hämerling, dann stellte er den neuen Bürgermeister vor: Er, der Volljurist, „komme aus unserer Mitte, sei ein Volksgenosse“, der „mit Leib und Seele Wolfenbütteler Kind“ geworden sei; seine nationalsozialistische Qualifikation habe der damit erreicht, dass die frühere Regierung ihn gemaßregelt hätte. Gerade solche Leute seien hervorzussuchen: „Wir sind der Überzeugung, daß dieser Mann die Stirn hat, auch gegen die Reaktion in Wolfenbüttel aufzutreten, wie er mit den Marxisten fertig geworden ist.“

Im Bericht über die Stadtverordnetensitzung informierte die WZ auch über den Lebenslauf des neuen Bürgermeisters, der nach den nationalsozialistischen Vorgaben eher ein Stadtdiktator werden mußte: Geboren 1883 in Lothringen, studierte in Berlin Rechtswissenschaften und war später Hilfsrichter in der Reichshauptstadt. Frontkämpfer 14/18 im Westen und auf dem Balkan: Eisernes Kreuz und bulgarische Tapferkeitsmedaille; kämpfte in Berlin gegen die Spartakisten und nahm teil an der Eroberung des Vorwärts-Verlagshauses. Als Staatsanwalt vertrat er in mehreren großen Prozessen die Anklage „gegen kommunistische Banden“; Sozialisten mißbilligten im Reichstag sein Verhalten aufs schärfste. War zwischendurch Anwalt, dann Vorsteher eines Finanzamtes und seit 1930 stellvertretender Vorsteher des Wolfenbütteler Steuerbüros; dass Ramien am 1. September 1932 in die NSDAP eingetreten war und die Mitgliedsnummer 1.283812 erhalten hatte, stand nicht in der Zeitung.

Seiner Berufung stimmten die Stadtverordneten zwar einstimmig zu, doch muß es unter ihnen und den anderen Parteigenossen Männer gegeben haben, die vielleicht lieber ein echtes „Wolfenbütteler Kind“ auf dem Bürgermeister-Stuhl gesehen hätten. Stadtverordneten-Vorsteher Heinrich Bode beglückwünschte dem „Gewählten“ und erhoffte vor dem abschließenen Sieg-Heil auf Deutschland und seine Führung, „dass nunmehr Zucht und Ordnung wiederkehren werde“. Bis zur offiziellen Amtseinführung Anfang November veränderte sich die Besetzung der Stadtverordnetenversammlung und des Rates um sage und schreibe sieben Personen, was wohl darauf hindeutet, dass die Nazis die Zukunft und die sie entscheidenden Männer nicht sehr gut ausgewählt hatten. Nicht bei allen Ausgeschiedenen wurden die Gründe öffentlich, bei einem allerdings benutzte Kreisleiter Lehmann die Öffentlichkeit, um ihn vom Mandat zu vertreiben. Er forderte den gerade zum Obermeister der Bäckerinnung bestellten Stadtverordneten Willhelm Appuhn auf, sein Mandat niederzulegen und überzog ihn mit schweren Vorwürfen: Er habe sich an einem „bürgerlichen Gelage beteiligt“ und auf dem „Heimwege in Gemeinschaft mit noch verschiedenen „Liberalisten“ sich gegen einen Hilfspolizisten ausfallend benommen“. Lehmann lehnte ein Gespräch mit Appuhn ab, weil er nicht mit „bürgerlichen Spießern“ verhandeln wolle, die immer noch nicht verstanden hätten, dass die Zeit der „bürgerlichen Saufgelage und Biertischpolitik“ vorbei ist“ und er, Appuhn, in seinen zwölf zurückliegenden Stadtverordnetenjahren bewiesen hätte, kein Führer des Volkes zu sein: „Bei uns Nationalsozialisten ist es üblich, zu gehorchen und ist es üblich, dem Befehl einer höheren Dienststelle nachzukommen. Wer dem Befehl nicht nachkommt, schließt sich bekanntlich aus der Bewegung aus.“ Dieses habe er bereits getan, und es werde sich zeigen, ob er es als Bürger mit seiner Bürgerehre vereinbaren könne, weiterhin das Mandat, das nach der Gleichschaltung nur einem nationalsozialistischenn Volksgenossen zustehe, behalten könne. Zwei Wochen später teilte die WZ mit, für den ausscheidenden Appuhn träte als Listennachfolger Wilhelm Löloff jun. in das Stadtparlament ein. Appuhn trat dann auch vom Amt des Bäcker-Obermeisters zurück.

Weiterhin traten zurück oder mußten auf Befehl zurücktreten: Heinrich Bode, dessen Amt des Stadtverordnetenvorstehers nun der Kaufmann Alper übernahm; Sanitätsrat Heller; Wilhelm Gebhardt; die Stadträte Knochenhauer, Schauroth und Wilhelm Hämerling; den Letzteren be-rief der Landesführer Niedersachsens mit sofortiger Wirkung zum Kreiswalter der NS-Wohl-fahrt und zum Kreisleiter des Winterhilfswerks. Seine Abberufung vom Amt des Staatskommissars erfolgte nach der Amtseinführung des neuen Bürgermeisters.

Am gleichen Tag, an dem die Braunschweiger Nazis ihren Bürgermeister Hesse im Beisein des Reichsstatthalters Loeper mit Pomp und Brimborium ins Amt hievten, machten das auch ihre Wolfenbütteler Parteigenossen: Wie schon im Mai war der Sitzungssaal im Schloß wieder geschmückt mit frischen Grün und einem Bild des Führers, den sie noch immer zurückhaltend als Kanzler oder Volkskanzler bezeichneten. Die Spitzen der Behörden, der Garnisonälteste, die Vertreter der nationalen Verbände, der Vereine, der Geistlichkeit, der Schulen und die von Industrie, Handel und Gewerbe waren gekommen, um der Verpflichtung Ramiens beizuwohnen. Zunächst sprach der neue Stadtverordnetenvorsteher Alper: „Dieser Tag wird in der Geschichte Wolfenbüttels ein Markstein sein. An die Spitze der altehrwürdigen Stadt, aus deren Mauern vor zehn Jahren der Nationalsozialismus seinen Siegeslauf über das ganze Land angetreten hat, tritt ein nationalsozialistischer Bürgermeister.“ Alper gedachte der nationalsozialistischen Todesopfer, zu deren Ehren sich die Anwesenden erhoben, als das „Lied vom guten Kameraden“ für sie mißbraucht wurde. Dann lobte er Hämerling und seine Arbeit als kleinen Stadtdiktator, dessen Amt nun zu Ende gehe; von Ramien erwartete er eine Amtsausübung im Sinne des Führers. Er nahm ihm den Eid ab und legte ihm die Amtskette an.

Nach ihm sprach Kreisdirektor Hinkel. Seine Ansprache deutete an, wie erfolgreich dieser ehemaliger Demokrat, von der SPD einst eingesetzt, sich der neuen Zeit angepaßt hatte: „Der Bürgermeister von heute ist nicht mehr an die Beschlüsse der Stadtverordneten gebunden. Er besitzt das Recht, selbständig zu entscheiden. Die Bedeutung der Stadtverordneten wird auch in Zukunft noch weiter zurückgedrängt werden. Das ist gut so. Mancher tüchtige Bürgermeister ist in der Vergangenheit durch gefaßte Beschlüsse gehindert worden.“ Wolfenbüttel besitze immer noch die höchste Arbeitslosenquote in Niedersachsen, und sie steige noch an. Alle Mühe, hier Wesentliches zu schaffen, sei früher vergebens gewesen. Er wünschte ihm noch Glück und reiche Erfolge.

Ramien trat ans Rednerpult und betonte, die Worte des Kreisdirektors seien auch sein Programm. In treuester Pflichterfüllung wolle er herausholen, was in seinen Kräften stehe: „Die Stadtverordnetenversammlung ist das Herz und Gewissen der Stadt; aus ihr entspringt pulsierendes Leben. Aber auch aus anderen Kreisen werde ich wohlgemeinte Ratschläge annehmen. Wer im öffentlichen Leben steht, muß sich auch kritisieren lassen. Ich verbitte mir aber ehrabschneidende Kritik. Den Volksgenossen in den Arbeitsprozeß einführen, wird mein erstes Werk sein. Ich werde den Weisungen des Führers folgen. Auf den Volkskanzler ein Sieg-Heil!“ Nun spielte die Kapelle das Deutschlandlied, und danach, wie jetzt gesetzlich festgelegt, das Horst-Wessel-Lied.

Als letzter sprach Kreisleiter Lehmann. Er beschwor die Kameradschaftspflege als das Höchste und forderte die Ausdehnung der Frontkameradschaft auf das ganze Volk. Dafür brauche man Führer, die diese Kameradschaft vorleben. „Partei“, so meinte er, „gebe es heute nicht mehr, die Partei sei jetzt das Volk und alle gehörten zur Partei Adolf Hitlers“. Etwas großspurig kündigte er „große Aufgaben an“: Für Wolfenbüttel habe Pg. Klagges Großes geplant, das Wolfenbüttel in den Mittelpunkt des Geschehens stellen werde. Er forderte alle Anwesenden auf, sich zu erheben und Treue zu geloben: „Dem Vaterlande, dem Führer und der Stadt Wolfenbüttel. Sieg Heil!“

Über die „Mitarbeit“ der Stadtverordneten wird in Zukunft nicht mehr viel berichtet werden müssen: Sie waren nun nur noch Staffage in der Ausschmückung des Rates für das Ohr am Volksgenossen. Je länger die Macht der kleinen Naziclique anhielt, umso weniger Sitzungen fanden tatt. Nicht anders verhielt es sich mit dem Kreistag, in dem die Gleichschaltung ebenso perfekt erledigt wurde. Für die Neubildung waren nur zwei Listen eingereicht worden, von den Nazis und Schwarz-weiß-rot. Das von Bertram ausgerechnete „Wahlergebnis“ brachte der NSDAP 22 Sitze, und die Deutschnationalen durften noch 3 Abgeordnete entsenden.

Die Braunschweiger Regierung hatte den Kreisdirektionen Ende März die „Herren vorgeschlagen“, die als politische Kommissare einzuführen waren: Für die Kreisdirektion Wolfenbüttel wurde das Kurt Bertram, der Landtagsabgeordnete und damit beinahe unumschränkter Herrscher auch über den Kreisdirektor. Warum Kreisdirektor Hinkel die zunächst auf den 11. Mai festgesetzte erste braune Kreistagssitzung um einen Tag verschob, konnte nicht herausgefunden werden. Die 22 NSDAP-Abgeordneten schlossen sich unter Kurt Bertram zur Fraktion zusammen, zum Stellvertreter ernannte er Albert Duckstein. Im Kreistag saßen u.a. auch Wilhelm Hannibal, Domänenpächter Karl Deeke aus Evessen und Bezirksschornsteinfeger Karl Lindekamm. Die neu ausgekungelten Kreistagsabgeordneten trafen sich vor der Geschäftsstelle der NSDAP und marschierten hinter der Standartenkapelle zur Kreisdirektion. Der Sitzungssaal war in der üblichen Weise geschmückt: frisches Grün, Bild des „Volkskanzlers“, Flaggen. Die Nazis trugen Braunhemden, was die drei deutschnationalen Abgeordneten trugen ist leider nicht überliefert.

Kreisdirektor Hinkel, seit 1923 im Amt und von den Nazis dennoch nicht entlassen, eröffnete die Sitzung und bezeichnete es als Ehrenpflicht, des Sieges der nationalen Revolution und damit „dankbar des Führers und seiner Mitarbeiter zu gedenken.“ Den Dank könnten Kreisdirektor und Kreisdirektor nur dadurch abstatten, dass die Erfüllung aller Aufgaben und die Durchführung der vom Reich und dem Land beschlossenen Gesetze immer von dem Gedanken geleitet werde, das Wohl des Großen und Ganzen in den Vordergrund zu stellen und einzelne Interessen jedweder Art zurückzustellen. Hinkel bat dann die Anwesenden, sich zu erheben und stimmte als gelehriger Beamter und Vorrufer das notorische „Sieg Heil“ auf den Führer an. Im weiteren Teil seiner Rede befaßte er sich hauptsächlich mit der Lage der kommunalen Finanzen und der weiteren Organisation der kommunalen Selbstverwaltung, für die er eine „freie Hand“ verlangte.

Der Kreistag wählte nun den Ingenieur Wilhelm Weihe aus dem Dorf Hessen zum neuen Vorsitzenden. Er gelobte, die Geschäfte des Kreistages im Sinne des Führers auszuführen und stellte erfreut fest, dass dem Kreistag kein Marxist mehr angehöre; und wieder „Sieg Heil!“ In den Kreisausschuß, dem eigentlichen Leitungsgremium, „wählten“ die Abgeordneten neben der lokalen Führerriege noch Nationalsozialisten aus den Kreisdörfern: Kurt Bertram, Albert Duckstein, Wilhelm Hannibal, Handlungsgehilfe Ernst Flügge und Baumeister Karl Müller aus Wolfenbüttel, Landwirt Karl Schaper aus Lesse und Bauer Hermann Bornecke aus Kneitlingen. Schwarz-Weiß-Rot erhielt hier keinen Sitz. Nachdem auch die anderen Formalien erledigt waren, endete die erste Sitzung mit „dem Absingen des Horst-Wessel-Liedes“.

Wenn der Leser glaubt, Schwülstigkeit und Verlogenheit dieser Machtwegnahme konnten nicht mehr überboten werden, so irrt er: Gab es doch noch den Landtag in der Hauptstadt dieses Freistaates, in dem der braune Schwanz schon schon seit 1930 mit dem bürgerlichen Hund wedelte und der sich nun beeilte, die Ehre des „ersten rein nationalsozialistischen Landtages“ zu erhaschen. Am 24. April hatte sich der Landesverband der DNVP mit 22 von 25 Stimmen aufgelöst. Die vier Abgeordneten des Kampfblocks schwarz-weiß-rot – 3 DNVP-Mitglieder und ein Stahlhelmer – traten geschlossen der NSDAP bei. Als am 29. April um 10 Uhr die Glocken des Domes zum Feldgottesdienst riefen, herrschte in Braunschweig eine kleine Potsdam-Atmosphäre. War es in der Preußenhauptstadt der alte Fritz gewesen, den die Nationalisten und Nationalsozialisten für ihre Zwecke mißbrauchten, so konnten deren Provinzgrößen in der Welfenhauptstadt noch tiefer in die Geschichte zurückgreifen und Heinrich den Löwen für ihre Zwecke zurechtbiegen. Zum Dom, der Grabstätte des einst geschaßten Königs, marschierten nur noch braune Landtagsabgeordnete.

Die BTZ schrieb schwelgte: „Dieser sonnige Frühlingstag, dieses Erwachen nach langem harten Winter ist wie ein Symbol für den Tag, an dem das erste deutsche Parlament zusammentritt, das ganz vom Geiste des neuen Deutschland erfüllt ist. Frohe Menschen füllen Straßen und Plätze, Schuljugend, der die helle Begeisterung aus den Augen strahlt, bildet Spalier in allen Straßen, durch die sich der feierliche Zug der Abgeordneten bewegen soll. Mächtig hallen die uralten Glocken des Domes, die in vielen Jahrhunderten schon so manche Gemeinde zusammenriefen, ihre Gedanken, frohe und schwere, auf das Höchste und Unvergängliche zu richten. Um 10 Uhr traten unsere Abgeordneten voran, Minister Klagges, in das Gotteshaus. Die große Gemeinde erhob sich zum Gruß von ihren Plätzen. Brausende Orgelklänge und der von der versammelten Gemeinde gesungene Choral „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr“, leiteten den Gottesdienst ein. „Pastor Schlott von St. Katharinen sprach die Eingangsworte aus 2 Thimotheus 1.7 (Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.) und fuhr fort mit Römer 8, 14-16: „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“ Nach dem Gebet las er Lukas 6, 20-26 (Freut euch an jenem Tage und springt vor Freude; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das gleiche haben ihre Väter den Propheten getan.) und ließ die braune, gebräunte und sich noch bräunende Gemeinde das Lied singen: „O Jesu Christ, Sohn eingeboren“. Die Predigt hielt der Nazi-Pastor über den 1. Brief des Petrus und wählte aus dem 2. Abschnitt – überschrieben „Das neue Gottesvolk“ – die Verse 9 und 10. Der Autor möchte den Leser mit dem folgenden Bibelzitat nicht langweilen, sondern ihm auch an diesem Meilenstein der Nazimacht die beginnende Verquickung der Berufschristen in die Transmission des braunen Reichskarren nicht verheimlichen, dessen Riemen nicht nur ideologisch und politisch, sondern zunehmend auch religiös ausgerichtet waren: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, da ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst nicht ein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.“ An die Landtagsabgeordneten gerichtet rief Schlott aus: „Du Landtagsabgeordneter, du bist das auserwählte Geschlecht, du bist das königliche Priestertum, Priester bist du, königlich nicht vom Menschen, sondern vom höchsten König, von Jesus Christus erwählt zu diesem besonderen Beruf.“

Schlott, am 1. Februar 1932 in die NSDAP aufgenommen, hatte nie einen Hehl aus seiner Begeisterung für Adolf Hitler gemacht und wollte offenbar eine Art Führerbischof der hiesigen Landeskirche werden. Seine Chancen dafür standen gut, vor der entscheidenden Wahl im September 1933 trat er aus nie vollständig geklärten Gründen von seiner Kandidatur zurück. Er übte jedoch entscheidenden Einfluß aus, übernahm 1935 die Pfarrstelle in der von den Nazis erbauten NS-Mustersiedlung Siedlung Lehndorf bei Braunschweig und wurde 1945 von den Amerikanern verhaftet und in ein Gefangenenlager bei Salzgitter gebracht. Die Kirche entfernte ihn durch Pensionierung im August 1945 aus dem Amt; offenbar ungebrochen in seinem Glauben an den Nationalsozialismus starb er 1953.

Nach der Absegnung durch die Kirche marschierten die angeblich von Christus erwählten Männer vom menschenüberquellenden Burgplatz zum Landtagsgebäude. Hinter den Abgeordneten, angeführt von Dietrich Klagges und Kurt Bertram, folgte die SS-Kapelle mit gleich zwei Hundertschaften Schupo im Gefolge. Offenbar dienten die Polizisten zur Einschüchterung jedweder kritischen Regung durch andersgesinnte Zuschauer. Auch der Platz zwischen Landtag und der St. Martinikirche war von einer unübersehbaren Menschenmenge gefüllt. Von der Freitreppe hielt Klagges eine Rede: Die heutige Landtagseröffnung sei einmalig in der Geschichte der Volksvertretungen. Seit etwa hundert Jahren habe in den Parlamenten das Prinzip der Parteien geherrscht, und heute übernähme der Nationalsozialismus nun die Alleinherrschaft. Ohne einen Widerspruch zu sehen, meinte er weiter: „Heute ist das Wunder der Volkswerdung vollbracht, von heute ab haben Parteienhader und Parteizwist in diesem Hause zu schweigen, von heute ab ist hier das Recht der Partei entthront, und an seine Stelle tritt wieder das Recht des Volkes.“ Seine anderen Suaden über die zerstörte Demokratie sollen hier nicht vollständig zitiert werden.

Fast alle Abgeordneten trugen Braunhemden, allerdings nicht die drei Abgeordneten der Hugenberg-Rechte: Ihnen war es wohl nicht mehr rechtzeitig gelungen, sich richtig auszustaffieren. Minister Küchenthal, Amtsträger auf Abruf (Nach seiner Absetzung wurde er Präsident der Staatsbank, nach 1945 lebte er in Hedeper, er schrieb eine langatmige Rechtfertigungsschrift.), nahm an der folgenden kurzen Sitzung nicht teil. Dafür trat Heinrich Bode aus Wolfenbüttel für einen kurzen Augenblick in den Lichtschein der etwas größeren Geschichte: Als ältester Abgeordneter durfte er dem Scheinparlament vorsitzen. Das wählte Kurt Bertram zum neuen Vorsitzenden, der dann seinerseits auch noch eine Rede hielt. Lassen wir die WZ berichten: „In seiner Ansprache hob er hervor, früher habe der Präsident das Versprechen abgegeben, dass er sein Amt unparteiisch führen werde. Heute sei das nicht mehr notwendig, denn es gebe im Hause nur Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus in Braunschweig marschiere auch heute wieder, getreu seiner Tradition, im Deutschen Reiche an der Spitze. Braunschweig habe den ersten nationalsozialistischen Präsidenten gehabt, es habe zuerst den Nationalsozialismus zur Regierungspartei gemacht. Minister Klagges könne sich rühmen, in der gesamten marxistischen Presse Deutschlands den schlechtesten Leumund gehabt zu haben. Jetzt sei aus dem reißenden Gießbach Nationalsozialismus ein breiter Strom geworden, der seit dem 30. Januar die Räder des Reiches treibe. Jetzt stehe Braunschweig wieder an der Spitze, denn in seinem Landtag gäbe es keine Marxisten mehr.“

Fotos dokumentieren dieses Ereignis mit der feisten Überheblichkeit von Männern, die die Macht im Lande besitzen und sie ohne Rücksicht auf Menschlichkeit durchsetzen. Sie posieren auf der Treppe des Landttagsgebäudes in ihren grotesken Uniformen, den rechten Arm zum Hitler-Gruß erhoben, um ein zwölfjähriges Zerstörungswerk zu beginnen.

Die Verfassung und die Gesetze, die diese zur Regierung gewordenen Nazis anwenden wollten, waren nichts weiter als der Wille, die rassistischen und völkischen Ideale Hitlers rücksichtslos durchzusetzen. Ministerpräsident und Innenminister Klagges verzichtete auf die Abgabe einer programmatischen Erklärung, da seine bisherige „eineinhalbjährige Tätigkeit genügend dargetan habe, wie er sein Amt führen und zu führen“ gedenke. Der zum Justizminister ernannte Gewaltverbrecher Alpers kündigte die Umsetzung des Rechtssystems nach nationalsozialistischen Vorstellungen an: „Es dürfe nun nicht mehr Richter „schlechthin“ geben, sondern „nur noch deutsche Richter“. Dahinter verbarg sich die Ankündigung, das Justizwesen zum Zwecke der Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie zu missbrauchen. Natürlich fand auch eine Vereidigung statt: Die Eidesformel macht den Zynismus und die Gotteslästerung deutlich, dem sich die meisten Menschen des Landes unterworfen hatten:„Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich mein Amt unparteiisch zum Wohle des Volkes und getreu der Verfassung und den Gesetzen führen will. So wahr mir Gott helfe.“ Beenden wir diesen Abschnitt des Meuchelmordes an der jungen Demokratie mit Bertram-Worten, die zum Verstehen der weiteren Entwicklung helfen können. Bertram erinnerte an den 30. Januar und den 5. März und hob hervor, „dass man zu Unrecht bei dem Zustrom zur Partei von Konjunkturpolitikern spricht. Es handelt sich nicht um solche, denn viele sind durch die erfolgreiche Arbeit in die Verantwortung gewonnen worden. Die Überzeugung hat sich durchgesetzt, dass Adolf Hitler nicht nur ein geschickter Propagandist ist, sondern der berufene Führer des deutschen Volkes. Wenn wir in Deutschland ein Volk sind, wenn der Marxismus einen Schlag erhalten hat, von dem er sich nie erholen wird, wenn das Zentrum aus seiner Schlüsselstellung endlich herausgeworfen ist, dann ist das nur jenem Manne zu danken, dem man hier in Braunschweig vor mehr als Jahresfrist das Staatsbürgerrecht auf Umwegen erschlichen hat. Aber nun ist auch der Parlamentarismus besiegt. Deutschland hat eine Regierung, die nicht mehr als Treibholz auf den Wellen der Parteien schwimmt, sondern der Parteien sich untergeordnet hat.“

Quellen:
Hitler, Adolf, Mein Kampf
Wötzel, Christina, Die Geschichte der Stadt Wolfenbüttel 1914 bis 1933
Braunschweiger Zeitung (BZ)
Wolfenbütteler Zeitung (BZ)
Braunschweigische Tageszeitung (BTZ)
Hauck, Maria, Geschichte des Dorfes Linden, Herausgegeben von der Stadt Wolfenbüttel 1992
Angerstein, Irmgard, Geschichte des Dorfes Ahlum, Herausgegeben von der Stadt Wolfenbüttel 1983
Herzog August Bibliothek
Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel
Rühle, Gerd, Das Dritte Reich, Bd. 1, Berlin 1934
Bein, Reinhard, Im deutschen Land marschieren wir, Materialien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Braunschweig
Kuessner, Dietrich, Johannes Schlott, Ein Beispiel deutsch-christlicher Theologie in der Stadt Braunschweig, Offleben 1983
Rüdiger, Otto, Wirken vom sozialdemokratischen Ortsverein der Stadt Wolfenbüttel in der Zeit von 1890 bis 1950, unveröffentlicht, Wolfenbüttel 1953