Boykott


Der Boykott von Geschäften jüdischer Wolfenbütteler

In seinen Studien „zum alltäglichen Antisemitismus“ stellt Wolfgang Benz fest: „Die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik brachte für die deutschen Juden den Höhepunkt ihrer kulturellen Assimiliation, zugleich aber schon den Beginn der sozialen Dissimilation. Antisemitische Propaganda, die Schuldige an den als schmachvoll empfundenen Folgen des Krieges suchte, deklassierte Kleinbürger mit Zukunftsangst, verletzter deutscher Nationalstolz machten „den Juden“ zum Schuldigen. Daß man die nationale Zuverlässigkeit der deutschen Juden in Frage stellte, ihnen den Vorwurf doppelter Loyalität („erst Jude, dann Deutscher“) machte, zeigte den Wunsch nach Ausgrenzung, der in der Unterstellung einer Kriegserklärung „der Juden“ an das deutsche Volk im Frühjahr 1933 anläßlich der Boykott-Aktion vom 1. April einen ersten Höhepunkt hatte.“

Am 23. März 1933 eröffnete der Vorsitzende, Heinrich Bode (NSDAP), eine Stadtver-ordnetenversammlung mit dem Hinweis, seit der letzten Sitzung hätten sich in Deutschland „ganz gewaltige und umwälzende Ereignisse vollzogen.: Das sehen Sie auch hier in diesem Saale. Die Herren Marxisten sind nicht mehr erschienen, um hier große Reden zu halten“. Das deutsche Volk sei durch den Parlamentarismus zu Tode geredet worden: „In diesem Moment hat die nationalsozialistische Regierung in Deutschland das Ruder ergriffen, um rücksichtslos und mit brutaler Macht dasjenige auszurotten, was ihr hinderlich im Wege steht.“

Eine Woche später probte die Nazi-Regierung bereits die erste große und staatlich gelenkte Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Am 28. März erließ die Parteileitung der NSDAP eine Anordnung zur Bildung antisemitischer Aktionskomitees: „In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung der NSDAP sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte. Die Aktionskomitees sind verantwortlich dafür, daß der Boykott keinen Unschuldigen, um so härter aber die Schuldigen trifft.“ Diese Ächtung wurde mit einer Abwehrmaßnahme begründet, die sich ausschließlich gegen das deutsche Judentum wende. Die Komitees sollten die Propaganda über Folgen der „sogenannten jüdischen Greuelhetze“ im Ausland in die Betriebe hineintragen und besonders die Arbeiter über „die Notwendigkeit der Abwehrmaßnahmen zum Schutz der deutschen Arbeit aufklären. Jedes kleine Bauerndorf müsse einbezogen werden, um besonders auf dem flachen Lande die jüdischen Händler zu treffen. Grundsätzlich sei zu betonen, daß es sich um eine uns aufgezwungene Abwehrmaßnahme handele“. Punkt 10 Uhr am Samstag, dem 1. April, habe der Boykott schlagartig zu beginnen und müsse bis zur Aufhebungsanordnung der Parteileitung aufrecht erhalten werden. Weiterhin hätten die Aktionskomitees die Aufgabe, jeden Deutschen mit Auslandskontakten dahin zu bewegen, diese „aufklärend“ dazu zu benutzen, „daß in Deutschland Ruhe und Ordnung“ herrschten, „daß das deutsche Volk keinen sehnlicheren Wunsch besitze, als in Frieden seiner Arbeit nachzugehen und im Frieden mit der anderen Welt zu leben, und daß es den Kampf gegen die jüdische Greuelhetze nur als reinen Abwehrkampf“ führe. Die ganze Partei habe in „blindem Gehorsam wie ein Mann hinter der Führung“ zu stehen. Wer die Regierung verleumde, greife Deutschland an. „Schlag 10 Uhr werde das Judentum wissen, wem es den Kampf angesagt“ habe.

Goebbels hatte am 13. März 1933 das “Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ gegründet und die Abteilung „Abwehr“ eingerichtet. Um die Notwendigkeit dieser Einrichtung zu beweisen, mußte ein Grund gefunden werden. Der bot sich, als die ausländische Presse zunehmend kritisch über die aktuelle Lage in Deutschland berichtete, über die Behandlung politischer Gegner und der jüdischen Deutschen. Um die bereits geplante Entrechtung der Juden als Reaktion auf Maßnahmen des „deutschfeindlichen Weltjudentums“ begründen zu können, hoben die einschlägigen Presseorgane die Entgegnungen ausländischer jüdischer Organisationen besonders hervor. In der Sprache der Nazis gerierte die berechtigte Kritik am inländischen Terror zu einer internationalen Verschwörung der Juden: „Das Judentum der ganzen Welt hatte sich mit den „Emigranten“, die ihr schlechtes Gewissen über die Reichsgrenzen ins Ausland getrieben hatte, zu einem widerwärtigen Verleumdungsfeldzug gegen die nationalsozialistische Revolution zusammengeschlossen. Die von jüdischen Kreisen im Ausland verbreiteten Lügen über angebliche Juden-Pogrome und nationalsozialistische Greuel in Deutschland verfolgten den hinterhältigen Zweck, die Anerkennung der nationalsozialistischen Regierung vor der Welt soviel wie irgend möglich zu erschweren.“

Ende März empfing Hermann Göring die Vertreter der Auslandspresse, um die Berichterstattung in der Welt zu beeinflussen. Er verglich die jetzige Revolution mit der „Revolte von 1919“ und hob die angebliche Disziplin hervor, mit der die Nationalsozialisten ihren Umsturz durchführten. Wohlwollend kam er den ausländischen Journalisten entgegen und gab zu, dass es „einige bedauerliche Zwischenfälle“ gegeben habe. Man wate in Deutschland nicht in Blut, und Berichte über Schändungen jüdischer Einrichtungen seien nichts als „maßlose Entstellungen und Hetze“. Es sei weiter nichts geschehen, als dass einige Leute aus ihren Pfründen abgesetzt und dass einige Tausend Kommunisten (Göring wörtlich: „Vielleicht wird die Welt es doch einmal Deutschland danken müssen, das die kommunistische Welle auf deutschem Boden zum Stillstand gebracht und die abendländische Kultur gerettet worden ist.“) von der Polizei verhaftet worden seien. Die Verhafteten würden genau so behandelt wie andere Gefangene. Die Regierung, so log er, werde niemals dulden, „daß ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt werden solle, weil er Jude sei“. Der jüdische Geschäftsmann könne in Ruhe seinen Geschäften nachgehen. „Jüdische Beamte seien nur entlassen worden, weil sie Sozialdemokraten gewesen seien.“ Heute„sind noch eine ganze Reihe von Juden in Staatsstellungen.“

„Gegen die Greuelpropaganda“ im Ausland habe die Regierung nun eine energische Offensive „auf der ganzen Linie“ begonnen, berichtete die WZ am 27. März. Der Auslandschef der NSDAP habe im Auftrage des Kanzlers in einem „transantlantischen Telephon-Interview“ die Gerüchte über Judenverfolgungen in Deutschland als Lügen entlarvt. Dieses Dementi war allerdings die eigentliche Lüge, die sogar die Leser der WZ mit Leichtigkeit hätten widerlegen können. Hatte die Zeitung doch 14 Tage vorher ausführlich über den „Warenhaussturm in Braunschweig“ berichtet und fast detailliert beschrieben, wie Schaufenster von Warenhäusern jüdischer Besitzer massenweise zertrümmert worden waren. (In Berlin war es bereits nach der Reichstagseröffnung am 13. Oktober 1930 zum ersten großen Judenpogrom am Kurfürstendamm und in der Leipziger Straße gekommen. Nationalsozialistische Randalierer hatten Schaufenster jüdischer Geschäfts- und Warenhäuser zertrümmert.) Zwar hatte der Berichterstatter die Namen der Braunschweiger Warenhäuser: Frank, Hamburger und Littauer genannt – vermied es aber, die gerade in dieser Zeit so häufig benutzten Begriffe „jüdisch“ oder „Jude“ zu verwenden; vielleicht deswegen, weil die Meute, die auf dem nahen Kohlmarkt zunächst einem SA-Konzert gelauscht hatte, auch bei Karstadt, einem fälschlicherweise oft jüdischen Besitzern zugewiesenen Konzern, sechs Schaufensterscheiben eingeschlagen hatte. Wie gewalttätig und geplant dieser noch nicht direkt gegen Menschen gerichtete Pogrom abgelaufen war, lasen die Wolfenbütteler in ihrer Heimatzeitung: „Unter wildem Hallo wurden zunächst bei Frank die großen Spiegelscheiben mit mitgebrachten Steinen, vielfach in Papier gewickelten Ziegelsteinen, eingeschlagen. Von den 22 Schaufensterscheiben bei Frank sind 21 zertrümmert und auch die Scheiben und Türen, die vom Innenraum her die Schaufenster abschließen, sind ausnahmslos zertrümmert. Auch die an den Wänden angebrachten Schaukästen sind sämtlich zerschlagen. Es wurden übrigens nicht nur Steine geschleudert – es wurde auch geschossen.“

Die BTZ veröffentlichte regelmäßig Anzeigen mit Boykottforderungen: „Meidet die jüdischen Warenhäuser!“ Die NSDAP verteilte ein Flugblatt mit den hervorgehobenen Schlagzeilen: „Juden-Boykott und Deutschland dem Deutschen“. Die “Zinsknechtschaft und die Frondienste“, pöbelten die Nazis, „können nur durch schärfste Boykottierung aller jüdischen Geschäfte und Banken gebrochen werden.“ Der „internationale Jude“ habe eine „Greuelhetze gegen uns losgelassen“, der nur auf eine Weise begegnet werden könne: „…dass ihr ihm nichts mehr abkauft und nur noch deutsche Geschäfte berücksichtigt.“ Unter dem Text hatten die Flugblattschreiber eine unvollständige Liste „Jüdischer Unternehmer“ zusammengestellt, „die hier die Gegend verseuchen“. Darin aufgenommen waren die „Pferde- und Viehjuden“ Esberg und Pohly aus Wolfenbüttel und wahllos herausgegriffene Geschäftsleute aus der Region Braunschweig. War es Zufall oder bewußte Anpassung an die politische Lage, dass die Butter-Großhandlung Hammonia, deren Geschäftsräume im Esbergschen Haus an der Langen Herzogstraße lagen, kurz vor dem Boykott mit dem Werbespruch „Deutsche Hausfrauen kauft deutsche Butter“ ihre Ware anpries?

Angesichts der zugespitzten Lage glaubte der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, durch Verniedlichung Schlimmes zu verhüten und schrieb der Botschaft der USA einen Brief, den die Lokalzeitung veröffentlichte und der den deutschen Juden in den Rücken fiel: „Wir erhielten Kenntnis von der Propaganda, die in Ihrem Lande über die angeblichen Greueltaten gegen die Juden in Deutschland gemacht wird. Wir halten es für unsere Pflicht, nicht nur im vaterländischen Interesse, sondern auch im Interesse der Wahrheit zu diesen Vorgängen Stellung zu nehmen. Es sind Mißhandlungen und Ausschreitungen vorgekommen, die zu beschönigen uns bestimmt fernliegt. Aber derartige Exzesse sind bei keiner Umwälzung vermeidbar. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß die Behörden in allen uns bekannt gewordenen Fällen energisch gegen Ausschreitungen vorgegangen sind. Die Ausschreitungen wurden in allen Fällen von unverantwortlichen Menschen unternommen. Es ist aber auch unseres Ermessens an der Zeit, von der unverantwortlichen Hetze abzurücken, die von sogen. jüdischen Intellektuellen im Auslande gegen Deutschland unternommen wird. Diese Männer, die sich zum überwiegenden Teil nie als Deutsche bekannten, ihre Glaubensgenossen im eigenen Lande, für die sie Vorkämpfer zu sein vorgaben, im kritischen Augenblick im Stiche ließen und ins Ausland flüchteten, haben das Recht verwirkt, in deutsch-jüdischen Angelegenheiten mitzureden.“

Am Mittwoch, dem 29. März 1933, erhielt die Wolfenbütteler Einwohnerschaft konkrete Informationen über den Boykott. Auf der WZ-Titelseite fanden die Leser ein Foto über antideutsche Proteste in London: Auf einem von Passanten umringten PKW war ein Schild befestigt, das die Aufschrift trug: „JUDEA DECLARES WAR ON GERMANY. BOYCOTT ALL GERMAN GOODS „ (Judea erklärt Deutschland den Krieg. Boykottiert alle deutschen Waren). Der Fototext lautet: „Die Reichsregierung hat schärfste Maßnahmen angeordnet.“ Der Artikel zum Foto enthält die entscheidende Titelzeile: „Abwehr-Boykott soll am 1. April, 10 Uhr einsetzen.“ Darin die Mitteilung, die NSDAP-Reichsleitung habe sich entschlossen, den Abwehrkampf gegen die Angriffe aus dem Ausland sofort zu veröffentlichen. In allen Landesteilen sollten Ausschüsse gebildet werden, damit der Boykott schlagartig beginnen könne und Zehntausende von Massenversammlungen sollten organisiert werden. Um die Stoßkraft zu erhöhen, verlangte die Partei, die Forderung nach Entrechtung zunächst auf drei Gebiete zu beschränken: Ausschluß von Juden aus den Mittel- und Hochschulen, aus den medizinischen Berufen und Einschränkung der beruflichen Möglichkeiten jüdischer Juristen. Um diese schon langfristig angelegten Maßnahmen als noch zeitlich begrenzt zu tarnen, enthielten die Mitteilungen noch Einschränkungen wie „Fortführung solange, bis die Parteileitung eine Aufhebung anordnet und aus der Erregung heraus geboren, die durch die Verbreitung der Greuelmärchen in der Bevölkerung entstanden ist.“ In der gleichen Ausgabe berichtete die WZ bereits über begonnene, teilweise gewaltsame Aktionen in mehreren Städten des Reiches und erwähnte kurz, auch in Jerusalem solle ein Boykott gegen deutsche Waren und Filme begonnen werden. Weitere Hinweise am nächsten Tag: Von „besonderer Seite“ in Berlin sei darauf hingewiesen worden, dass eingeschlagene Schaufensterscheiben nicht die jüdischen Firmen schädigten, sondern die „deutschen Versicherungsunternehmen“. In Münster habe die SA im Schlachthof die Schächtmesser beschlagnahmt und in Görlitz seien 37 jüdische Geschäftsleute, darunter Richter und Rechtsanwälte, in Schutzhaft genommen worden. Reichsaußenminister von Neurath gab dem Korrespondenten der Associated Press ein Interview und betonte die „ungeheure dem deutschen Volk innewohnende Disziplin“. Er berief sich sogar auf einen prominenten jüdischen Bankier, der sich die Einmischung des Auslandes verbeten hätte und gesagt habe: „Wir deutschen Juden sind manns genug, um uns selbst zu helfen.“

Den der Bevölkerung Sand in die Augen streuenden Aussagen standen in der WZ die Berichte über tatsächliche Maßnahmen gegenüber: Die Preußische NSDAP-Landtagsfraktion fordere vom Kultusministerium einen „rassischen Numerus clausus“ und verlange, den Kampf der „deutschen Nation gegen den Lügenfeldzug“ nun auch auf Kinder auszudehnen: „Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß es untragbar ist, wenn heute noch jüdische Lehrer an preussischen Unterrichtsanstalten amtieren, während deutsche Frontsoldaten als Aushilfslehrer in ihrem eigenen Vaterlande mit unzureichender Bezahlung herumgestoßen werden. Wir betrachten es weiter als einen unmöglichen Zustand, daß in preußischen Lehranstalten auf die Überheblichkeit jüdischer Schüler und Schülerinnen noch irgendwie Rücksicht genommen wird.“

In diesen Tagen drehte sich nicht nur die Schraube der diskriminierenden Maßnahmen, allmählich veränderte sich auch die Sprache, mit der begonnen wurde, der jüdischen Einwohnerschaft das Menschsein abzusprechen. So forderten diese Abgeordneten, „sämtliche jüdischen, d.h. vom Juden herstammende oder bastardierende Lehrpersonen mit sofortiger Wirkung von allen Unterrichtsanstalten abzubauen“. Die Schulen und Universitäten sollten ihre jüdischen Schülerinnen und Schüler auf das Maß von ein Prozent herunterführen, dem Bevölkerungsanteil der Juden im Deutschen Reich entsprechend.

So wie der deutschen Umgangsprache negative Begriffe hinzugefügt wurden, ging man auch daran, jüdische Namen und Bezeichnungen per Verordnung als unzulässig zu bestimmen: Die Reichspostverwaltung erließ ein neues „deutsches Telefonieralphabet“, das die Namen David, Isidor, Nathan, Salomon und Zacharias durch „deutschklingende“ Buchstabierhilfen ersetzte: Dora, Julius, Nikolaus, Siegfried und Zeppelin. Im ganzen Reich klebten die Nazis ein Plakat, das der notorische Judenhasser und Verbreiter der Ritualmordvorwürfe, Julius Streicher, unterschrieben hatte. Streicher war Eigentümer und Herausgeber des antisemtisch-pornographischen Blattes „Der Stürmer“ (Nürnberger Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit), das bereits seit 1927 auf jeder Titelseite das Treitschke-Zitat „Die Juden sind unser Unglück“ trug. Seit 1933 überschwemmte der Günstling Hitlers das ganze Land mit den berüchtigten Stürmer-Kästen, in denen die Zeitung aushing und die ebenfalls das obige Zitat trugen. Auch in Wolfenbüttel stand so ein Kasten. Als Leiter des „Zentralkomitees zur Abwehr der jüdischen Greuel und Boykotthetze“ war dieser langjährige Hetzer für den gerade beginnenden Boykott verantwortlich.

Zur gleichen Zeit arbeitete der Wolfenbütteler Schriftsteller und pensionierte Jurist Rudolf Huch in Bad Harzburg an seiner antisemitischen Schrift “Israel und Wir”, die 1934 erschien, und die er sich durchaus hätte sparen können. Doch das nationale Gejubele mit den völkischen Zielen muß den 71 Jahre alten Mann so gerührt haben, dass er seine Feder zum Mitmachen ergriff. Vielleicht dachte er sich kurz vor seinem Lebensende doch noch an den Juden rächen zu können, die ihm seiner Ansicht nach im Schatten seiner berühmten Schwester Ricarda den literarischen Ruhm verdorben hatten.

„Huch begann in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kritiker der Kultur- und Menschenfeindlichkeit des deutschen Kapitalismus“, schätzte ihn Hans Roth in seiner Dissertation über dessen Werk ein, der aber vierzig Jahre später den Faschismus „als die einzige Möglichkeit für Deutschland“ begrüßte, zu gesunden Verhältnissen zurückzufinden. Aus Wolfenbütteler Sicht sah man ihn als Satiriker. Er fühlte sich nicht als „progressiver Weltverbesserer, sondern als konservativer Traditionalist im Widerspruch zu einer ungesunden Zeit“. Seinen Weg in die Gesundung der Zeit beschrieb Stadthistoriker Wolfgang Kelsch falsch, was unverständlich ist, da doch Informationen vorlagen: Als die neuen Machthaber ihm eine glanzvolle Renaissance geboten hätten, habe er sich verkrochen und bekannt, daß er keine politische Ader habe. Kelsch war nicht in die Herzog August Bibliothek gegangen, um sich dessen antisemitisches Machwerk anzusehen. Anders würdigte ihn Roth: „Und die Faschisten hatten offenbar ein Interesse daran, den alternden Dichter für ihre Zwecke nutzbar zu machen.“ 1933, als Ricarda Huch aus der Preußischen Akademie der Künste austrat, ließ er sich in diese Institution berufen, aus der z.B. Heinrich Mann gerade vertrieben worden war. Eine Aufnahmebescheinigung des Berliner Document Centers belegt seinen Beitritt in die Bad Harzburger NSDAP am 1. Mai 1933. Stand er den Gedanken nahe, die 1934 in den Mitteilungen der „Fridericia”, einem Braunschweig-Wolfenbütteler „Verein für deutsche Kultur“ verbreitet wurden?: „Die Zeit ist endgültig vorbei, in der ein jüdischer Literat den anderen in den Himmel lobt und durch ihn Gleiches erleidet. Die alten literarischen Versicherungsgesellschaften sind tot, und auch durch den vorbildlichen Erlaß der rechten Hand Adolf Hitlers wird dafür gesorgt werden, daß nicht neue an ihre Stelle treten.“

Rudolf Huch arbeitete, als der erste große Schlag gegen die Juden vorbereitet und ausgeführt wurde, an der „Volksaufklärungsschrift” “Israel und Wir“. Er bekämpfte „die weiter fortschreitende Durchsetzung des deutschen Geisteslebens mit jüdischem Denken und Fühlen“. Schon in einem Brief an Richard von Schaukal vom 27.8.1913 hatte er geschrieben: „Daß mich die Juden nicht hochkommen ließen, habe ich nicht anders erwartet und konnte ich ihnen nicht verdenken. Ich habe sie unfreundlich behandelt und habe ein stark ausgeprägtes Rassegefühl.“

Rudolf Huch über jüdische Bürger, denen er in Bad Harzburg täglich begegnete: „Für Lessing verkörperte sich die Judenschaft in der Gestalt des vorurteilsfreien, edlen und weisen Nathan, und der Antisemitismus in dem engen Fanatismus seines Klosterbruders, der den Juden unter allen Umständen verbrennen will. Ihm waren die Juden noch die unschuldig Verfolgten, oder doch Unterdrückten. Das hat sich im Laufe der Zeit einigermaßen umgedreht.
Sie haben einen großen, nicht im Verhältnis zu ihrer Anzahl stehenden Teil des Volksvermögens an sich gebracht und in der Folge nahezu die gesamte Presse. Damit haben sie das geistige Leben in einem Umfang beherrscht, von dem sich mancher wohl heute noch keine Vorstellung macht. Der landläufige Antisemitismus richtet sich nicht gegen die geistige, sondern gegen die wirtschaftliche Übermacht der Juden, die vor aller Augen offen lag.“

Man kann sicher sein, dass Huch, wie eben alle anderen Antisemiten auch, nie berechnet hat, welchen gerechten oder ungerechten Anteil am Volksvermögen – entsprechend ihres Anteiles in der deutschen Bevölkerung – die Katholiken oder Protestanten besaßen. Er, der mit seinen Einnahmen aus Schriftstellerei und Juristerei nie auf einen grünen Zweig gekommen war, der zu seinem 80. Geburtstag im Januar 1942 von Goebbels eine Ehrengabe in Höhe von 10.000 Reichsmark und von der Stadt Braunschweig einen monatlichen Ehrensold von 100 Reichsmark annahm, der mit diesem Geld überhaupt erst sein bürgerliches Leben bis zum Tode finanzieren konnte, maßte sich an, seine fleißigen jüdischen Mitbürger mit dem Hauch des Unredlichen zu überziehen. Als er 1888 in Wolfenbüttel eine Wohnung in dem Gebäude am Stadtmarkt bezog, in dem sich heute das Rathaus befindet, schufteten Max und Minna Ilberg bereits drei Jahre, um sich eine Existenz aufzubauen. Ihr Fleiß führte zu einem der besten Textilgeschäfte in Wolfenbüttel. Huch weiter: „Auch der übergroße Einfluß der Juden gehört zu dem, was nicht hätte sein sollen. Das deutsche Volk hat nicht nur das Recht, es hat die Pflicht, sich in seiner Wesenheit zu behaupten.“

Wann hatten die jüdischen Wolfenbütteler einen derartigen Einfluß, der die von Huch geforderte Pflicht zur Reinigung der „Wesenheit“ erfordert hätte? Gustav Eichengrün hatte nicht 17 Jahre seiner Freizeit geopfert, um in der Stadtverordnetenversammlung als einziger Jude die Macht zu übernehmen. Sein Sohn gehörte zu den ersten, die im 1. Weltkrieg irgendwo an der Front umgekommen waren. Werner Ilberg und Max Cohn hatte es, wie viele der christlichen Heimatschützer, freiwillig zu den Waffen gezogen im Bewußtsein, für ihren patriotischen Drang möglicherweise im Dreck von Flandern zu verrecken. Warum müssen Menschen, die wie alle anderen Menschen täglich ihr normales Leben fürchten oder genießen, es sich gefallen lassen, so stigmatisiert zu werden?: „Die sogenannten Verbrecherkönige in Chicago scheinen doch meist Juden zu sein.“ schrieb Rudolf Huch. Huch zog aus reiner Ansammlung niedriger Klischees ein Resümee, mit dem er sich zur Clique der Antisemiten gesellte, die in Wolfenbüttel nun mit großem Einsatz die erste Entrechtung organisierten: „Wir können nur gewisse Eigentümlichkeiten des jüdischen Wesens heraussuchen, die wir als innerlich undeutsch als Fremdkörper im deutschen Blut empfinden.“

Huch wußte von einer „ jüdischen Führung“, die versuche, „das Ausland in einen Krieg gegen uns zu hetzen.“ Mit dieser Einschätzung des sich distinguiert und gebildet wähnenden Dichters fällt der Übergang zur aktuellen Situation am Vortage des Boykotts hinein in die profane Welt der lokalen Zeitungen nicht mehr schwer. Die Braunschweigische Landeszeitung verbrauchte fast ein Viertel ihrer Titelseite für zwei Schlagzeilen: „Die deutsche Abwehraktion – Gegen die Schänder der deutschen Volksehre.“ – womit auch der um die Existenz seiner Familie ringende jüdische Altproduktehändler Jacob Berger, der Samenhändler Pohly, der Kaufmann Oschitzky und der Pferdehändler Esberg und all die anderen netten und natürlich auch weniger netten jüdischen Menschen mit ihren Töchtern und Söhnen und Großmüttern und Patentanten gemeint waren, die mit Bangen den nächsten Tag erwarteten und nicht wußten, was ihnen das Leben nach diesem Boykott-Wochenende noch bieten würde.

Deren angebliche „Lügenflut und Gemeinheiten“ bestimme die Schärfe des Boykotts, so die Zeitung, und deshalb werde kein Käufer Gelegenheit haben, „ jüdische Warenhäuser, Geschäfte und Verkaufsstellen zu betreten, ohne auf die Posten der nationalen Abwehr zu stoßen. Kein jüdischer Rechtsanwalt und Arzt wird verschont bleiben. Es ist Gelegenheit genug vorhanden, einen deutschen Rechtsanwalt und einen deutschen Arzt aufzusuchen. Überall wo der Jude herrscht, wird er die Empörung zu spüren bekommen, die seine Glaubensgenossen in Deutschland entfacht haben.“ Doch trotz der Drohungen und obgleich schon am Freitag „national gesinnte Arbeiter und Bürger – Kampf und vaterländische Lieder singend“ – die Stadt durchzogen und obwohl sich Nazis und deren Sympathisanten vor „jüdischen Geschäften“ versammelten, seien „Tausende in diese Geschäfte gepilgert, um sich mit billiger Ramschware einzudecken“. Laut Landeszeitung hatten einige der boykottgefährdeten Geschäfte am Vortag viele Preise gesenkt und somit die „Schwäche gewisser Bevölkerungsschichten“ ausgenutzt. Die Antwort: „An den Pranger gehört, wer sich den Parolen der nationalen Regierung nicht fügt!“

Die Wolfenbütteler Zeitung titelte: „Deutsche Abwehr der Greuelpropaganda“ und griff das Thema in acht Artikeln auf. Auf der Titelseite zunächst organisatorische Hinweise: Streichers Zentralkomitee erinnere daran, nur gegen Geschäfte, „die sich in den Händen von Angehörigen der jüdischen Rasse befinden,“ vorzugehen. „Die Religion spielt keine Rolle. Katholisch oder protestantisch getaufte Geschäftsleute oder Dissidenten jüdischer Rasse sind ebenfalls Juden.“ Die Frage, wie mit den Geschäften umgegangen werden solle, „bei denen Juden nur finanziell beteiligt sind,“ sollte noch geklärt werden. Das aber wußten sie schon: „Ist der Ehegatte einer nichtjüdischen Geschäftsinhaberin Jude, so gilt das Geschäft als jüdisch. Das gleiche ist der Fall, wenn die Inhaberin Jüdin ist, der Ehegatte aber nicht Jude ist.“ Konvertierung wurde nicht akzeptiert.

Gar nicht so einfach, einen Boykott gegen „Rassefeinde“ zu organisieren. Es mußte schon richtig recherchiert werden, um keine Fehler zu machen, d.h., keine „deutsch-rassigen“ Geschäfte mit jüdisch klingenden Namen zu boykottieren: „Einheitspreisgeschäfte, Warenhäuser, Großfilialbetriebe, die sich in deutschen Händen befinden, fallen nicht unter diese Boykottaktion. Ebenso fallen nicht darunter die „Woolworth-Einheitspreis-Geschäfte“. Die sogenannten „Woolwerth“-Einheitspreisgeschäfte dagegen sind jüdisch und daher zu boykottieren.“ Den Wachen, die sich vor die Geschäfte postieren sollten, verbot das Komitee, tätlich vorzugehen oder Geschäfte zu schließen. An den Eingangstüren sollten Plakate mit gelbem Fleck auf schwarzem Grund angebracht werden. Den Geschäftsleuten wurde verboten, nichtjüdische Angestellte zu entlassen. Zur Finanzierung der Aktion mit Wachen, Demonstrationen und Massenkundgebungen waren die lokalen Komitees verpflichtet, Sammlungen bei „deutschen Geschäftsleuten“ durchzuführen.

Der zweite Artikel auf der WZ-Titelseite enthält Stellungnahmen verschiedener Personen, Firmen und Organisationen, die an die „Adresse des Auslands“ gerichtet waren: Der Kolonialheld General von Lettow-Vorbeck sandte der englischen Presse ein Telegramm und glaubte, „das englische Volk“sei sich zu schade, „sich dadurch lächerlich zu machen, daß es das Opfer eines plumpen Tricks wird.“ Der Präsident des Automobilklubs von Deutschland richtete einen Appell an die ausländischen Automobilisten: „Der Sportsgeist im Kraftverkehrswesen ist in allen Ländern von echter Kameradschaft, fern jedem Haß getragen. (..) Ich bitte Sie, den freundschaftlichen Geist der Verständigung, der den Automobilsmus erfüllt, auch im jetzigen Augenblick im Interesse einer allgemeinen Entspannung auf Ihr Land zu übertragen.“ Der Vorsitzende wußte es genau: „Denn die Greuelnachrichten sind Lügen.“

Die angebliche Deutschland-Hetze versuchte die Braunschweigische Landeszeitung zu beweisen. Sie veröffentlichte ein Foto aus dem hölländischen Organ der Sozialdemokratie, das einen Boykottaufruf gegen Deutschland enthielt: „Boykottiert alle deutschen Erzeugnisse wegen Terrors und Verfolgung!“ Wer zu dieser Zeit in Deutschland und im Lande Braunschweig die Augen offen hielt, sich für die Sicherheit Andersdenkender interessierte, konnte diese holländische Begründung nicht als Verunglimpfung und Gräuelnachricht erkennen. Sie traf zu. Kritische Zeitgenossen, ob jüdisch, protestantisch oder katholisch mußten die Struktur der antijüdischen Maßnahmen als das ansehen, was sie waren: Der erste Versuch der Nazis, auszuprobieren, wie weit sie gehen konnten und mit welchen Reaktionen der Bevölkerung sie rechnen mußten.

Victor Klemperer, Hochschullehrer in Dresden, schrieb am 30. März in sein Tagebuch: „Wir sind Geiseln. Es herrscht das Gefühl vor (zumal da eben der Stahlhelmaufruhr in Braunschweig gespielt und sofort vertuscht worden ist), daß diese Schreckensherrschaft kaum lange dauern, uns aber im Sturz begraben werde. Phantastisches Mittelalter: Wir – die bedrohte Judenheit.“ Er empfand in diesen Tagen mehr Scham als Angst: „Scham um Deutschland. Aber am Tag darauf bewegte ihn doch etwas Angst um sein und aller Juden Leben, als ihm Franz Werfel in den Sinn kam: Statt Deutschland sollte man künftig Arminien sagen. Es ist lautreicher und klingt an Armenien an.“ (Klemperer meinte den Völkermord an den Armeniern durch Türken.)

Die Reichsvertretung der deutschen Juden, ein Zusammenschluß jüdischer Vereine zur Gesamtvertretung des deutschen Judentums, und der Vorstand der Berliner Jüdischen Gemeinde richteten an Hindenburg, Hitler, die Reichsminister und auch an den Berliner Polizeipräsidenten einen Brief, in dem sie die Maßnahmen zurückhaltend und nur in einem einzigen Satz kritisierten: Sie, die deutschen Juden, seien „tief erschüttert von dem Boykott-Aufruf der NSDAP“. Sie hätten nun wegen der Verfehlung einiger Weniger zu leiden – gemeint waren hiermit nicht die Nazi-Terroristen, sondern die ins Ausland geflüchteten Deutschen – für die sie nie und nimmer Verantwortung trügen, „… soll uns deutschen Juden, die sich mit allen Fasern ihres Herzens der deutschen Heimat verbunden fühlen, wirtschaftlicher Untergang bereitet werden.“ Wie die umgebrachten Armenier einst auf ihre militärischen Dienste für die Türken hingewiesen und gehofft hatten, damit den bereits beschlossenen Untergang zu verhindern, hoben nun auch die Juden ihre Hingabe für Deutschland hervor: „In allen vaterländischen Kriegen haben deutsche Juden in dieser Verbundenheit Blutopfer gebracht. Im großen Kriege haben von fünfhunderttausend deutschen Juden zwölftausend ihr Leben hingegeben. Auf den Gebieten friedlicher Arbeit haben wir mit allen unseren Kräften unsere Pflicht getan.“ Obwohl sie die antideutschen Vorgänge im Ausland mit äußerster Anstrengung bekämpft hätten, sollten sie nun als die angeblich Schuldigen zugrunde gerichtet werden. „Wir rufen dem deutschen Volke, dem Gerechtigkeit stets höchste Tugend war, zu: Wir wiederholen in dieser Stunde das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum deutschen Volke, an dessen Erneuerung und Aufstieg mitzuarbeiten unsere heiligste Pflicht, unser Recht und unser sehnlichster Wunsch ist.“

Am Tag vor dem Boykott erschien der Völkische Beobachter mit einer deutlichen Schlagzeile: „Samstag, Schlag 10 Uhr, wird das Judentum wissen, wen es den Kampf angesagt hat!“ Wen die Nazi-Zeitung mit Judentum konkret meinte, ist dem ganzseitigen Artikel nicht zu entnehmen. Wer von ihren jüdischen Nachbarn, mögen sich Wolfenbütteler Bürgerinnen und Bürger gefragt haben, hatte ihnen, den Christen, den Kampf angesagt? Hatte möglicherweise Jakob Berger dazu aufgerufen, Wolfenbüttel in Besitz zu nehmen, Gustav Eichengrün konspiriert, um Bürgermeister zu werden? War Nathan Schloss, der noch nach dem Boykott eine Versammlung der Ortsgruppe Wolfenbüttel des jüdischen Frontkämpferbundes beantragte, im Untergrund tätig, um die braunschweigische Regierung zu stürzen? Nichts von alledem: Die jüdischen Wolfenbütteler, wie die allermeisten Juden im ganzen Reich, hatten nur den sehnlichen Wunsch, ein der christlichen Bevölkerung ähnelndes Leben mit ihrer Kultur und ihrer Religion zu leben. Sie waren Deutsche und identifizierten sich gerade auch in Wolfenbüttel mit dem Wunsch nach stabilen politischen Verhältnissen. Doch der Völkische Beobachter sah es anders: Deutschland wolle keine Weltwirren und keine internationalen Verwicklungen. Verantwortlich für die „Lügen und Verleumdungen sind die Juden unter uns. Von ihnen geht diese Kampagne des Hasses und der Lügenhetze gegen Deutschland aus. In ihrer Hand läge es, die Lügner in der übrigen Welt zurechtzuweisen.“ Wie sollten sie das tun, Jakob Berger, Gustav Eichengrün und Nathan Schloss und die anderen Familien, wenn ihnen die Inhalte der Kritik mangels ausländischer Zeitungen gar nicht bekannt werden konnten? Es lag nicht im Interesse des Völkischen Beobachters, die Kritik emigrierter Deutscher zu zitieren. Dafür schmiß die Zeitung ihren Lesern eigene Gräuelnachrichten entgegen, ohne deren Quellen zu benennen: „Lügen und Verleumdungen von geradezu haarsträubender Perversität werden über Deutschland losgelassen. Greuelmärchen von zerstückelten Judenleichen, von ausgestochenen Augen und abgehackten Händen werden verbreitet und zu dem Zweck, das deutsche Volk in der Welt zum zweitenmal zu verleumden. (..) Sie lügen von Jüdinnen, die getötet würden, von jüdischen Mädchen, die vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt worden seien, von Friedhöfen, die verwüstet sind!“

Sich gegen derartige Vorwürfe zu wehren, die sonst in ähnlicher Art bisher immer den Juden als Täter zugeschrieben worden waren, war unmöglich. Die Taktik Streichers war klar: Mit den – vielleicht aus seiner Giftküche stammenden – Abscheulichkeiten lenkte er ab von den wahren brutalen Unmenschlichkeiten gegen Andersdenkende, die auch in Wolfenbüttel vorgekommen waren, und, die ein paar Wochen später an Brutalität noch zunehmen sollten. Über den Ablauf des Tages in Wolfenbüttel, vom englischen Schriftsteller Louis Golding als „kalter Pogrom“ bezeichnet und in der veröffentlichten Geschichtsschreibung im Schatten des Pogroms vom November 1938 oft nur nebensächlich behandelt, gibt es nur wenige Informationen. Befragte Zeitzeugen konnten mehr als 60 Jahre danach zwar über die Anti-Juden-Maßnahmen berichten, die Differenzierung der einzelnen Stadien vom 1.4.33 bis hin zu den Deportationen gelang oft nicht mehr. Genau erinnerten sich Lore Bodek und Resi Liebmann, die berichteten, auch vor der Viehhandlung ihres Vaters Nathan Schloss seien SA-Posten aufgezogen.

Rina Gruenberg, Tochter des Zahnarztes Dr. Rülf, schrieb mir aus Israel: „Am 1. April 1933 gingen SA durch die Straßen, blieben an jedem Haus, in dem Juden wohnten, stehen und grölten ihre Antijudenparolen.“ Die jüdischen Geschäfte blieben geschlossen. Vor den Läden standen SA-Männer mit Schildern, die auf den jüdischen Besitzer hinwiesen. Otto Rüdiger, SPD Chronist, kommentierte den Tag nur in wenigen Sätzen: „Die jüdischen Geschäftsinhaber waren schlauer als die SA mit ihren Fotoapparaten, die jeden im Bilde festhalten wollten, der ein jüdisches Geschäft besuchte. Die Geschäfte wurden gar nicht erst aufgemacht. Die aufgestellten Posten konnten eingezogen werden. Wer einen Juden in diesem Schicksalskampf unterstützen wollte, ging an einem anderen Tag einkaufen. Selbstverständlich wurde der Boykott auch in Wolfenbüttel durchgeführt. Es wurde ein Umzug arrangiert und der Leiter desselben, Flügge, warnte vor dem Abmarsch vor Plünderungen. Er kannte seine Rabauken.“

Am Boykott-Samstag erschien die WZ mit der Überschrift: „Boykott vorläufig nur Sonnabend“ und verkündete eine Erklärung Goebbels: Das angebliche Abflauen der Gräuelhetze sei die direkte Folge der Abwehraktionen. Falls die Gräuelhetze bis Mittwoch 10 Uhr vollkommen eingestellt sei, erkläre sich die NSDAP bereit, „den Normalzustand wieder herzustellen“. Sei das aber nicht der Fall, werde der Boykott aufs neue einsetzen, „dann allerdings mit einer Wucht und Vehemenz, die bis dahin noch nicht dagewesen ist.“ Die Zeitung veröffentlichte großflächig ein faksimiliertes Plakat der NSDAP mit der Aufschrift: „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“

Wie in Wolfenbüttel verliefen die Maßnahmen auch in Braunschweig „ohne Störungen“. Karstadt entließ sämtliche jüdischen Angestellten. Die Stadt war mit Plakaten übersäht: „Deutsche, kauft nur in deutschen Geschäften! Das Weltjudentum soll uns kennen lernen!“ Auch vor den Praxen jüdischer Ärzte und Rechtsanwälte waren SA-Wachen aufgezogen. Der Kinderarzt Dr. Max Cantrowitz nahm sich das Leben. „Ob, wie man hört, der Selbstmord mit der Boykottbewegung zusammenhängt, ist zweifelhaft,“ spekulierte die WZ: „Es können auch andere Gründe vorliegen.“

Das von Streicher geleitete Zentralkomitee drohte weiter: „Sollte das Weltjudentum aber wagen, der hiermit bewiesenen Großmut des deutschen Volkes zum Trotz die Lügen fortzusetzen, so schwören wir als verantwortliche Führer, den deutschen Abwehrboykott durchzuführen bis zur völligen nie wieder gutzumachenden Vernichtung des in Deutschland Gastrecht genießenden Judentums.“ Die Worte „bis zur völligen nie wieder gutzumachenden Vernichtung“ hob die WZ durch Sperrdruck besonders hervor. Mußte mit dieser eindeutigen Drohung Lesern der Lokalzeitung nicht bewußt geworden sein oder mindestens Nachdenklichkeit erzeugt haben, was mit den jüdischen Nachbarn geschehen sollte?: „Vernichtung.“ War mit dieser in der Heimatzeitung auf Seite eins hervorgehobenen Ankündigung nicht auch das Ende des bisherigen verbalen Antisemitismus – wie er auch die Straßen Wolfenbüttels bereits jahrelang erfüllte – angestimmt worden? Vernichtung hatte Streicher angekündigt, nicht Zurückdrängung, Ausschaltung oder ein Leben als Bürger zweiter Klasse: Vernichtung. Für den Fall, daß es trotz der Drohungen der Nazis gegen ihre eigenen Mitglieder zu Vorfällen kommen sollte, hatte das Zentralkomitee vorsichtshalber vorgesorgt und bekanntgebenen, daß „bolschewistische Provokateure, die zu Tätlichkeiten hetzen, um unserer großen Sache in den Augen der Welt in den Schmutz zu ziehen, festzunehmen und der Polizei zu übergeben sind.“

Am 1. April erließ die WZ diesen Aufruf: „Die Lügenhetze des Auslandes erfordert es, daß alle Verbindungen zum Auslande, die in Form geschäftlicher, verwandschaftlicher oder freundschaftlicher Beziehungen bestehen, dazu benutzt werden, um allen Greuelmärchen über Deutschland nachdrücklich entgegenzutreten und sie als Lügen zu kennzeichnen. Wir fordern unsere Leser auf, alle ihre derartigen Beziehungen in den Dienst der deutschen Abwehraktion zu stellen, und sind bereit, die Namen der Verbände, Vereine und Einzelpersonen, die ihre ausländischen Verbindungen in dieser Weise eingesetzt haben, in unserer Zeitung fortlaufend mitzuteilen.“

Den Anfang machte der WZ-Verleger Heinrich Wessel. In die auch ins Ausland verschickte und in seinem Verlag erscheinende Aprilnummer der Zeitschrift „Die deutsche Schule im Auslande“ ließ er eine Mitteilung einlegen: „Im Zusammenhang mit der nationalen Erneuerung in Deutschland werden im Auslande Verleumdungen und Greuelmärchen verbreitet, die in keiner Weise entsprechen. Wir bitten alle Bezieher unserer Verlagserscheinungen, daß sie, wo irgendwelche derartige Verleumdungen über Deutschland auftauchen, ihnen nachdrücklich entgegenzutreten und darauf hinzuweisen, daß Ruhe und Ordnung in Deutschland nirgends gestört sind.“ Welchen Erfolg der WZ-Aufruf bereits hatte, erfuhr der Leser in weiteren Zeilen: „Ferner wird uns mitgeteilt, daß Frau Helene Fricke, hier, Langestraße 37, Verwandten in Bizerta (Tunis, franz.) über den Lügenfeldzug im Auslande in aufklärendem Sinne geschrieben hat. Herr Meyer-Rotermund (derzeitiger WZ-Schriftleiter) hat sich dementsprechend mit Verwandten in Utrecht (Holland) in Verbindung gesetzt.“

Als nächster meldete sich der beliebte Wolfenbütteler Fotohändler Heinz Bornemann zu Wort. Er hatte von Bekannten in Südafrika einen Artikel über die Zustände in Deutschland erhalten. Auf die Bitte, doch mitzuteilen, wie es wirklich stünde, antwortete er: „Ich habe mich sehr gefreut, daß Du schon im Voraus Dein Vaterland verteidigt hast, und kann mit ruhigem Gewissen mitteilen, daß die Meldungen, wie Du sie in der Anlage beigefügt hast, erlogen sind. Wir in Deutschland haben hier eine nationale Revolution durchgemacht und man muß dazu sagen – mag man eingestellt sein wie man will, – von einem Wüten der Nationalsozialisten kann nicht die Rede sein. Stellt man diese Revolution 33 der Revolution 18 gegenüber, dann brauchen wir uns jetzt nicht zu schämen Deutsch zu sein.“

Ein „alter Wolfenbütteler“, Fritz Markworth, schrieb der WZ Anfang Juni einen Brief aus Costa Rica und teilte mit, er würde natürlich in diesem Sinne arbeiten. Auch in diesem Land seien die „Märchen in großer Aufmachung“ verbreitet worden, aber „zum Glück gleich von deutscher Seite“ energisch dementiert worden.
Am 8. Juli, als der Boykott bereits durch andere Terrormaßnahmen in den Hintergrund getreten war, veröffentlichte der Schriftleiter Meyer-Rotermund den Brief einer in Montevideo lebenden Verwandten der Frau Baurat Paulmann: Sie hatte ihren Verwandten aus Wolfenbütteler Sicht den „Verlauf der Revolution, die jetzigen Zustände und die wahre Volksstimmung in Deutschland“ geschildert und deutsche Zeitungen geschickt. In der Antwort heißt es: „Unser Heinz hat sich gefreut, die Hefte seinen hiesigen, d.h. den nichtdeutschen Freunden zeigen zu können und hat die Gelegenheit zur Propaganda für Hitler benutzt. (..) Natürlich wirkt sich die jüdische und kommunistische und die französische Hetzpropaganda hier auch aus, aber wer nur einigermaßen neutral ist, ist durch die Hetze in den Kriegsjahren gewitzigt und glaubt nicht mehr alles so leicht. (…) Die Juden haben wohl in der ganzen Welt den größten Einfluß auf die Presse“, fuhr die Auslandsdeutsche fort, und in Montevideo habe sich unter dem deutschen Nachwuchs bereits eine Hitlergruppe gebildet: „Gott gebe, daß der Führer auch weiterhin durchführen kann, was Deutschland not tut, ohne allzu viele Konzessionen machen zu müssen.“

Nicht einmal zwei Wochen nach dem kalten Pogrom besuchten Göring und von Papen Papst Pius XI. Die halbstündige Unterredung des Vizekanzlers mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche, der ihn über die gegenwärtige Lage in Deutschland unterrichtet habe, sei in freundschaftlicher Atmosphäre verlaufen. Göring besprach anschließend mit dem Kardinalstaatsekretär Pacelli, ab 1939 als Pius XII Nachfolger auf dem Stuhle Petri, mehr als fünf Stunden lang ausführlich die Lage im Reich. Über das Gespräch, in dem es hauptsächlich um den Abschluß eines Konkordats gegangen sein soll, gibt es in der neueren Literatur widersprüchliche Aussagen. Die WZ berichtete damals zwar, Göring sei auf dem Petersplatz von deutschen Pilgern erkannt und freudig mit „Heil Hitler-Rufen“ begrüßt worden, über den Inhalt des Gespräches verlautete nichts. Allerding enthält der Bericht ein Dementi seines Mitreisenden von Papen, der vor der Presse Aussagen zurückwies, es sei auch über die Judenverfolgung gesprochen worden.

In der Jüdischen Rundschau, einem Blatt der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, überschrieb deren Schriftleiter Robert Weltsch seinen Artikel zum Boykott mit der berühmten Aufforderung „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ Der erste April werde in der Geschichte der deutschen Juden und des ganzen jüdischen Volkes ein wichtiger Tag bleiben, schrieb er: „Der 1. April kann ein Tag des jüdischen Erwachens und der jüdischen Wiedergeburt sein. Wenn die Juden wollen. Wenn die Juden reif sind und innere Größe besitzen. Wenn die Juden nicht so sind, wie sie von ihren Gegnern dargestellt.“ Viele Juden hätten am Samstag ein schweres Erlebnis gehabt: „Nicht aus innerer Bekenntnis, nicht aus Treue zur eigenen Gemeinschaft, nicht aus Stolz auf eine großartige Vergangenheit und Menschlichkeit, sondern durch den Aufdruck des roten Zettel und den gelben Fleck standen sie plötzlich als Juden da. Von Haus zu Haus gingen die Trupps, beklebten Geschäfte und Schilder, bemalten die Fensterscheiben. 21 Stunden lang waren die deutschen Juden gewissermaßen an den Pranger gestellt. Neben anderen Zeichen und Inschriften sah man auf den Scheiben der Schaufenster vielfach einen großen Magen David, den Schild König Davids. Dies sollte eine Entehrung sein. Juden, nehmt ihn auf, den Davidsschild, und tragt ihn in Ehren!“

Vier Wochen nach dem Boykott trat fast ein Drittel der Braunschweiger Pastoren in die NSDAP ein, insgesamt 70 Pfarrer. Doch nicht alle schwiegen, einige standen den jüdischen Bürgern bei und erlitten für ihren aufrechten Gang Verfolgung. Landesbischof Bernewitz, der unverhohlen Sympathien für den Nationalsozialismus zeigte, feierte am Tag vor dem Boykott seinen 70. Geburtstag. In seiner Studie über den Landesbischof schrieb Dietrich Kuessner: „Es störte Bernewitz auch nicht, daß von der „Generalsäuberung“ die jüdischen Mitbürger betroffen werden. Bernewitz hatte aus seiner antisemitischen Haltung schon bei der Besprechung mit den Pfarrern des Kirchenkreises Timmerlah/Wendeburg am 14.12.31 keinen Hehl gemacht. Der jüdische Bevölkerungsteil zersetze furchtbar das deutsche Volk zu dessen Schaden und Degenerierung. Bernewitz teilte damit eine im evangelischen Kirchenvolk weit verbreitete Meinung.“ An anderer Stelle erwähnt Kuessner den aus dem Baltikum mitgebrachten Antisemitismus des Bischofs und zitiert ihn mit einer Aussage aus der Zeit vor 1933: „Wir knipsen die Juden ab wie die Spatzen auf dem Dach.“

Mit der „Judenfrage“ befaßte sich am 26. April 1933 der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß in Berlin und beriet über die Initiative des Kirchentagspräsidenten Freiherr v. Pechmann, dem der Boykott vom 1. April und die klar erkennbare Judenverfolgung unerträglich waren, und der die Kirche zu einer offenen Verurteilung gewinnen wollte. Doch zu dieser Zeit, so Kuessner, erschien den Sitzungsteilnehmern die Rücksicht auf die noch junge Reichsregierung kirchenpolitisch wichtiger: „Pastor Michaelis fügt in der Diskussion einen wichtigen, über die kirchenpolitische Begründung hinausgehenden, theologischen Grund hinzu. Es sei nach seinem Verständnis der Heiligen Schrift nicht wider Gottes Wort, wenn Juden in ihren Beziehungen zum Staat anders behandelt würden als Deutsche. Die Nationen hätten den Rat Gottes über dieses Volk mißverstanden, als sie ihm volle Staatsbürgerrechte verliehen. Daher könne das christliche Gewissen in der gegenwärtigen Lage nicht beschwert sein.“ Auch Bischof Bernewitz habe das Wort ergriffen und den theologischen Ausführungen des Michaelis zugestimmt. Kuessners Fazit: „Das Recht zu einer Generalsäuberung wird so zusätzlich durch eine theologische Begründung gestützt.“

Der Bischof, dem auch der Kreisausschuß des Wolfenbütteler Kreistages gratuliert hatte, bat Kreisdirektor Hinkel, seinen Dank an die Mitglieder dieses rein nationalsozialistischen Gremiums weiterzuleiten: „Ich bin Ihnen und dem Kreisausschuß dafür umso dankbarer, als ich der Überzeugung lebe, daß gerade im gegenwärtigen Wandel der Zeit alle Kräfte unseres Volkes mobil gemacht werden müssen, die dazu geeignet sind, das deutsche Leben von den Schlacken der Nachkriegszeit zu reinigen und den deutschen Menschen vom Ungewissen zum Gewissen zurückzuführen.“

Die Veröffentlichung dieses Dankes und sein Inhalt wird in der Bevölkerung nicht ohne Konsequenzen geblieben sein. Wenn der oberste Protestant der brutalen Politik der Nazis Beifall zollte, sie als „Wandel der Zeit“ lobte und die Verhaftungswellen gegen Linke als „das Reinigen von den Schlacken der Nachkriegszeit“ umschrieb, wie sollte dann der „Kleine Mann“ in Wolfenbüttel christliche Nächstenliebe gegenüber den jüdischen Nachbarn praktizieren? Sollte er sich, der ohnehin wenig Mut hatte, sich den Nazis zu widersetzen nun auch noch in einen Gegensatz zur Kirche stellen? Schließlich erschien der Dankesbrief des christlichen Hirten an dem Tag, als die Zeitungen über das am Vortage in Kraft gesetzte neue Entrechtungsgesetz gegen die Juden berichteten, mit dem sich auch die Lokalzeitung befaßte. Zu dem dort angekündigten Unrecht wurde keine Kritik der Kirche laut. Sie gehorchte, wie es Dietrich Kuessner formulierte, dem “christlichen Diktator Hitler“.

Ein anderer Kirchenführer, Generalsuperintendent Dr. Otto Dibelius, der der nationalen Regierung nach dem Tag von Potsdam seine Segenswünsche mit auf den Weg gegeben hatte und den Nationalsozialisten zunächst wohlwollend gegenüberstand, sich aber später abgeschreckt vom antichristlichen Kurs Hitlers der Bekennenden Kirche zuwandte, ließ im Berliner Ev. Sonntagsblatt folgende Sätze als Kommentar zum Boykott veröffentlichen: „Die letzten 15 Jahre haben in Deutschland den Einfluß des Judentums ausserordentlich verstärkt. Die Zahl der jüdischen Richter, der jüdischen Politiker, der jüdischen Beamten in einflußreicher Stellung ist spürbar gewachsen. Dagegen wendet sich die Stimmung eines Volkes, das mit den Folgen der Revolution aufräumen will. In der „Märkischen Kirchenzeitung“ schrieb Dibelius 1933, „niemand möge daran zweifeln, daß er schon immer Antisemit gewesen sei.“ Er erachtete es als eine „Sünde gegen das deutsche Volk, daß die Weimarer Regierung so vielen Ostjuden die Einwanderungserlaubnis erteilt habe.“

Und sogar in der Osterverkündigung konnte der von seiner Kirche in die nationalsozialistische Menschenverachtung verirrte Gläubige Ansätze zwischen den Zeilen lesen, die auf den neu erschienenen Heilsbringer hindeuteten. Die Lokalzeitung verbreitete „Karfreitagsgedanken“, unterschrieben von Lic. Dosse. Der Theologe begann seine Pressepredigt mit einem Satz, den ich, gelänge es mir, mich in den 13. April 1933 hineinzuversetzen, für den Versuch halten muß, den Juden Jesus durch den Führer Hitler abzulösen: „Wenn wir nur den Jesus von Galiläa kennen würden, den weisen Lehrer, den Meister der Bergpredigt, dann könnten wir wohl in den guten Tagen unseres Lebens von seinen Gedanken und von seinem Beispiel leben, aber wenn die dunklen und harten Tage kämen, dann müßten wir uns einen anderen Führer suchen. Und wo ein Mensch in Schuld und Schicksal etwas von der Not der Gottesferne und der Gottesfeindschaft erfährt und in seiner Not einen Retter und Helfer braucht, da wird ihm das Wort eines Heilandes, der über den Wolken des Leidens schwebte und stets jenseits des Todesdunkels wohnte, nicht reichen.“ Nachdem der jüdische Heiland wieder auferstanden war, noch vor der Himmelfahrt und kurz nach dem Zerschlagen der freien Gewerkschaften, erließ die Kirchenregierung einen Aufruf, der von allen Kanzeln des braunschweigischen Landes verlesen werden mußte: „Nach langen, schweren Kämpfen, nach Opfern und Leiden aller Art hat die deutsche Erneuerungsbewegung auf der ganzen Linie gesiegt. Sie ist das Schicksal des deutschen Volkes geworden, sie hat die Macht erobert und die Verantwortung für die deutsche Zukunft übernommen. Mag auch noch mancher Deutsche abwartend und beobachtend beiseite stehen, mag auch mancher noch die frevelhafte Hoffnung hegen, daß der Strom der Zeit einst doch noch im roten Meer münden werde, die deutsche Erhebung ist wie eine Sturmflut hereingebrochen, Deutschland ist erwacht!“ Die Männer in schwarzen Talaren mit weißen Halzkrausen sahen sich offenbar als Propheten der Nazis, denn wie sonst konnten sie diesen Satz formulieren: „Damit ist geschehen, was die deutsche evangelische Kirche ihrem Wesen entsprechend auch in der schweren Zeit deutscher Erniedrigung ersehnt und erstrebt hat.“ Kein Wunder, war dieser Aufruf doch auch von Dr. Reinhold Breust unterschrieben, der bereits 1924 als stellvertretender Vorsitzender der Kirchenregierung für die NSDAP in Wolfenbüttel kandidiert hatte, sie aber auf Druck des Bischofs hatte aufgeben müssen.

Den Aufruf veröffentlichte etwas verkürzt auch die Wolfenbütteler Zeitung am 6. Mai auf der ersten Seite. Christliche und jüdische Zeitungsleser konnten so erfahren, wie die Kirche nun zur Naziregierung stand, da Hitler verkündet hatte, die christlichen Kirchen beider Konfessionen seien „die wichtigsten Faktoren der Erneuerung unseres Volkstums“. Die kirchenkritische Zeit der Weimarer Republik war vorbei. Das dankte die Kirche dem Führer mit schwelgerischem Voranmarsch: „Nun, deutsche evangelische Christenheit, nun erbringe den „Beweis des Geistes und der Kraft!“ Nun tritt, nicht zögernd, sondern freudig und kraftvoll auf den Plan auch mit deinem „Deutschland erwache!“ Nun strande nicht bei Änderungen oder Besserungen der Kirche als Organisation, nun packe deine besondere Aufgabe in der deutschen Erneuerung an als „Leib Christi“, nun diene deinem Volk mit deiner Gabe, denn der beste Dienst, den die Kirche dem Staat erweisen kann, ist der, daß sie Kirche und nur Kirche ist und bleibt.“ Es folgten Aufrufe an die Pfarrer und Gemeindevertretungen, an die der Ruf Gottes ergangen sei „und an die nun der Ruf des Vaterlandes ergeht.“

Der Leiter der Breymannschen Erziehungsanstalten in Wolfenbüttel, Dr. A. Breymann, kritisierte im Jahresbericht seiner Schule den Boykott jüdischer Geschäfte als beschämend und geriet deswegen in Schutzhaft. Als besonders schlimm rechnete man ihm die Tatsache an, dass die Publikation auch an ehemalige im Ausland wohnende Schülerinnen versandt worden war. Am 16. August 1933 nahm er sich das Leben.

Am Tag vor dem Boykott hatte die WZ die baldige Eröffnung einiger Räume im Lessinghaus angekündigt, die als Sehenswürdigkeit auch den Fremdenverkehr beleben sollte: „Der Gartensaal, der sich u.a. zu kleinen musikalischen Aufführungen besonders eignen dürfte, sowie das Eva-König-Zimmer nebst Nebengemach wirken in ihrer zartfarbigen Ausmalung ungemein anziehend. Die Vorarbeiten für die Ausstattung mit einigen stilgerechten Möbeln sind in Angriff genommen. Die Mittel dafür kommen aus der Lessingstiftung, die auch die pietätvolle Umwandlung des literaturhistorischen Hauses ermöglicht hat. Beabsichtigt ist weiter, wie wir hören, eine Sammlung von Lessingandenken, in erster Linie von Erstausgaben seiner Werke und von Porträts.“ Die „politischen Umwälzungen“ verhinderten die für den 7. Mai 1933 geplante Eröffnung: Sollten sich die Nazis nur ein paar Wochen nach dem kalten Pogrom die Provokation zumuten, dort Menschen Nathan den Weisen bewundern zu lassen? So beschloß also die Lessingstiftung, „mit Rücksicht auf die heutige Zeit“ die Eröffnung zu verschieben. In diesen Tagen war mit einem Auftritt der Comedian Harmonists Berliner Flair in die Landeshauptstadt an der Oker eingezogen, der auch noch in Wolfenbüttel spürbar war. Die WZ berichtete am 8. April: “Wahre Hexenkünstler sind sie in der musikalischen Imitation von Instrumenten, Geräuschen und Tierstimmen, alles aber bleibt auf einem kultivierten Niveau hoher Gesangskunst. Harmonie und feinste Schattierungen, absolut tonsichere Musikalität und genauestes Zusammenspiel, weiche und farbige Melodik der fünf Stimmen ergänzten sich mit einem gewandten, sauberen und frischen Begleiter am Klavier zu einem herzerfeuenden musikalischen Genuß, unterstützt von sparsamen und kleinen, aber wirksamen gesten.“ Die weltberühmte Gesangstruppe, gebildet aus christlichen und jüdischen Sängern, durfte ab 1934 nur noch im Ausland auftreten. 1935, nach Differenzen zwischen den arischen und nichtarischen Mitgliedern, die sich nicht über die Frage einer ständigen Emigration einigen konnten, spaltete sich die Gruppe in zwei unabhängige Ensembles.

Dass die Verfolgung von Juden Realität war, spürte die Frau des Braunschweiger Bankiers Meyersfeld. Am 13.4.33 wurde Cecile-Berche Meyersfeld wegen “Beleidigung und Verächtlichmachung Deutschlands und der nationalen Bewegung in Schutzhaft genommen.“ Die Braunschweigische Landeszeitung berichtete am 23.4.33, die SA-Hilfspolizei habe festgestellt, Frau Meyersfeld habe am “Tag von Potsdam“ an ihrem “Wiener Kaffee“ neben einer Fahne in den Landesfarben auch die schwarz-weiß-rote Fahne gehisst. Als Nationalsozialisten sie aufforderten, die Fahne zu entfernen, seien sie angeblich als Pack bezeichnet worden. Sie habe gesagt: “ Ich bin Französin! Man hat meinen Stolz verletzt. Ich bedaure es, in einem solchen Saulande wohnen zu müssen.“ Angesichts des Versailler Schandvertrages sich als Französin zu bezeichnen, obwohl sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitze, sei eine “Provokation übelster“ Art: “Darüberhinaus das Land zu beschimpfen, in dem man Gastrecht genießt, ist so ungeheuerlich, daß hier die volle Härte und Schärfe des Gesetzes zur Anwendung kommen muß.“ Frau Meyersfeld blieb bis zum 10. September in Haft. Nach dem, Tod ihres Mannes kehrte sie nach Frankreich zurück und floh 1940 über Spanien und Portugal nach Südafrika.

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Niedersächsischs Staatsarchiv Wolfenbüttel